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Wer die Vergangenheit vergisst, riskiert sie noch einmal zu erleben

Am Sonntag, dem 30. Oktober wird in Russland der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen begangen.

Die Krasnojarsker werden zusammen mit dem ganzen Land das Andenken an jene Ehren, die unschuldig erschossen wurden oder aufgrund von Folter, Hunger und Kälte umkamen, die aus ihren heimatlichen Häusern geworfen wurden und sich in elende, endrechtete Sklaven mit dem Stempel „Volksfeind“ verwandelten.

Um den Menschen das Leben zu erleichtern, denen es gelang, sich aus diesem Fleischwolf loszureißen, ihre Rechte und gesetzlichen Interessen zu verteidigen, wurde vor neun Jahren die regionale Organisation „Vereinigung der Rehabilitierten der Region Krasnojarsk“ geschaffen. Ihre Aktivisten bemühen sich darum, dass die heutige Gesellschaft, insbesondere die jungen Leute, die tragischen Lehrstunden unserer Geschichte nicht vergessen.

Vor einigen Jahren gab es in Krasnojarsk eine Wanderausstellung mit Dokumenten
Aus Moskauer Archiven. Mitglieder unserer Organisation hielten diese abgegriffenen und mit der Zeit vergilbten Seiten, die tausenden unserer Landsleute Tod und Entbehrung brachten, zitternd und voller Schmerz in ihren Händen. Viele tragen die Unterschrift Stalins oder seinen Genehmigungsvermerk.

In unserem Land setzte der Terror sofort nach der Revolution von 1917 ein und dauerte jahrzehntelang an. Diese Tatsache spiegelt sich in der Präambel des Gesetzes „Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen“ wider.

1918 nahmen in Russland Konzentrationslager ihren Betrieb auf. Damals, am 5. September, erging die Anordnung des Rates der Volkskommissare „Über den Roten Terror“. Darin ging es um, dass „die Versorgung des Hinterlandes mittels Terror von unmittelbarer Notwendigkeit“ war und dass es „erforderlich sei, die Sowjetrepublik durch Isolierung der klassenfeindlichen Elemente in Konzentrationslagern zu sichern“.

Nach dem Bürgerkrieg begann man damit, den fleißigen Bauern den Stempel „Kulak“ (Großbauer; Anm. d. Übers.) aufzudrücken und sie mit Gewalt in Kolchosen zu jagen. Diejenigen, die sich widersetzten, wurden verhaftet, erschossen, ihre Familien, mitsamt den kleinen Kindern, wurden in entlegene Gebiete deportiert, ihre Häuser und Höfe enteignet. Und 1930, am 2. Februar, wird offiziell der Befehl N° 44/21 über die Entkulakisierung (Enteignung der Großbauern; Anm. d. Übers.) verabschiedet.

Heute hat der Begriff der „Entkulakisierung“ bereits an Aktualität verloren und wird nach und nach durch einen anderen, genaueren ersetzt, der die Ereignisse jener Jahre widerspiegelt – „Entbäuerung“ (Eliminierung der Bauernschaft; Anm. d. Übers.).

1937, am 30. Juli, wurde der operative Befehl des NKWD N° 00447 „Über die Operation zur Verfolgung ehemaliger Großbauern, Verbrecher und anderer antisowjetischer Elemente“ herausgebracht.

Im Juli 1937 wurde an alle regionalen Strukturen des NKWD ein chiffriertes Telegramm versendet, welches die Anwendung von Foltermethoden bei Verhören erlaubte. Die Ermittler hatten sich auch vorher schon nicht gescheut dies zu tun, aber nun begannen sie in bestialischer Weise zu wüten. Untersuchungsverfahren und Gerichtsprozess hören auf, sich mit der Suche nach Schuldbeweisen abzumühen. Das Geständnis des Verhafteten wird zur Königin der Beweisführung.

Wenn es in den ersten Jahren der Sowjetmacht, wenn auch selten, zu Freisprüchen kam, denn es wurde die Stichhaltigkeit des Gerichtsprozesses gewahrt, so wurde jetzt innerhalb kürzester Zeit dieses „Überbleibsel des Zarengerichts“ liquidiert. Eingeführt wird eine beschleunigte Verfahrensweise bei der Begutachtung der Fälle durch sogenannte Troikas, die sich jeweils aus einem Angehörigen der NKWD-Leitung, der Partei und des regionalen Exekutiv-Komitees zusammensetzen. Es gibt keinen Verteidiger und oft – noch nicht einmal einen Verhafteten.

1937, am 15. August, kam ein weiterer menschenfressender operativer Befehl des NKWD heraus – N° 00486 „Über Verhaftungen von Familien-Mitgliedern“. Jetzt bezeichnete man das Familienoberhaupt bereits bei seiner Verhaftung als „Vaterlandsverräter“ und nahm gleichzeitig auch gleich die „Ehefrau des Vaterlandsverräters“ mit fest. Kinder bis zum Alter von 3 Jahren kamen in Kinderheimen und -krippen unter. Zwischen 3 und 15 Jahren kamen sie in Sonder-Verteilungsstellen.

Die Gruppen wurden so zusammengestellt, dass „Kinder, die miteinander verwandt oder auch nur bekannt waren, nicht in ein und dasselbe Kinderheim“ kamen. Alle Kinder von Verurteilten standen unter Beobachtung. Ab einem Alter von 15 Jahren galten sie als sozial gefährdend, und man stellte sie unter geheime Aufsicht.

Überall wurde die Hinzufügung einer weiteren Haftzeit aufgrund derselben Anklage praktiziert. Das ist einfacher, als neue Menschen zu verhaften, sich für sie wieder neue Beschuldigungen auszudenken und sie dann auch noch auf Gefangenen-Etappe zu schicken. Direkt am Haft-Ort bekamen sie ihre Zusatzstrafe, und schon arbeitete diese Person als kostenlose Arbeitskraft weiter.

Es sind dienstliche Notizen des Staatsanwalts der UdSSR A. Wyschinskij an den Volkskommissar des NKWD Jeschow vom 19.02.1938 erhalten, wo er insbesondere mitteilte: „Die Ankömmlinge tragen weder Unterwäsche, noch sonst etwas, nur Lumpen – und das Schreckliche ist, dass es im BAMLag keine Vorräte an Kleidung gibt: keinen einzigen Satz Unterwäsche, keine Stiefel, keine Oberbekleidung. Ihre Körper sind mit Wundschorf bedeckt, ins Badehaus wollen sie nicht, denn man gibt ihnen keine frische Wäsche, und durch ihre Sachen kriechen zu Hunderten die Läuse. Es gibt keine Seife. Manche haben nicht einmal etwas zum Überziehen, wenn sie den Abort aufsuchen wollen“.

Wyschinskij schrieb diese Notiz nicht mit dem Ziel, den Menschen das ihnen zugefallene Los zu erleichtern (er war es gewesen, der seinerzeit vorgeschlagen hatten, das Anfechten von Urteilen abzuschaffen, um die Arbeit der Straforgane zu beschleunigen), sondern weil das GULAG-System 1938 an der Anzahl der Verhafteten beinahe erstickte. Überflüssige „Todeskandidaten“ – so nannte man im Lager die durch ständigen Hunger, durch Kälte und die alle Kräfte überschreitenden Schwerstarbeit ausgezehrten Gefangenen – wurden in manchen Lagern während der Nacht von Wachen in Reih und Glied in den Frost, in die Taiga, hinausgebracht und dem unvermeidlichen Tod überlassen. Nicht einmal eine Patrone verschwendeten sie dafür.

Doch die Henker zeigten keine Reue. Erhalten geblieben ist ein Telegramm Stalins an alle regionalen Leiter der Allrussischen Kommunistischen Partei ( Bolschewiken) und das NKWD:

„Dem Zentral-Komitee der WKP (B) wurde bekannt, dass die Sekretäre der Regions- und Gebietskomitees bei der Überprüfung der Mitarbeiter der NKWD-Behörden, ihnen die Anwendung physischer Gewalt als verbrecherische Handlung gegenüber Verhafteten vorwerfen. Das Zentral-Komitee der WKP (B) erklärt, dass physische Einflussnahme in der Praxis des NKWD seit 1937 mit Genehmigung des ZK der WKP (B) zulässig ist. Das ZK der WKP (B) ist der Ansicht, dass die Methode körperliche Einwirkung künftig unbedingt angewendet werden sollte, und zwar als Ausnahme und im Hinblick auf offenkundige und nicht entwaffnete Volksfeinde; hier sollte sie als vollkommen richtige und zweckdienliche Methode angewendet werden“.

Bei der Begegnung mit Schülern der höheren Klassenstufen, führen wir gemeinsam mit den Lehrkräften offenen Geschichtsunterricht durch. So erzählen wir beispielsweise im Krasnojarsker Bezirk Swerdlowsk über Repressionen gegenüber Stolbysten (die sich leidenschaftlich gern im Naturschutzpark Stolby aufhalten und sich für diesen einsetzen; Anm. D. Übers.). Unter ihnen befand sich auch der erste Direktor des Naturparks A.L. Jaworskij. Im Eisenbahn-Bezirk erinnern wir an die Eisenbahner, die der Verfolgung ausgesetzt waren, im Lenin-Bezirk ist es unmöglich, die Geschichte des erschossenen ersten Direktors der „Krasmasch“ (Krasnojarsker Maschinenfabrik; Anm. d. Übers.), A.P. Subbotin zu hören, ohne in Tränen auszubrechen.

Zusammen mit ihm wurden bei „Krasmasch“ etwa 100 Personen verhaftet, von denen man 61 erschoss. Diese Liste war von Stalin, Molotow und Kaganowitsch anvisiert worden.

Es fällt schwer, sich solcher Dinge zu erinnern. Bisweilen möchte man das ganze Grauen der unmenschlichen Verfolgungen vergessen, aber man darf es nicht, denn wer die Vergangenheit vergisst, riskiert es, sie noch einmal zu erleben.

Am Vorabend des Tages des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen spreche ich allen, der Angehörige und Nahestehende verloren hat, mein aufrichtiges Mitgefühl aus. Von ganzem Herzen wünsche ich allen Rehabilitierten und Leidtragenden sowie ihren Familien, Gesundheit, Wohlergehen und Frieden.

Ella Zuzkarewa, Vorsitzende der Vereinigung Rehabilitierter in der Region Krasnojarsk

Auf den Fotos:


Lager-Ansicht


Beim Bäume-Fällen


Danke dem großen Stalin für eine glückliche Kindheit

„Krasnojarsker Arbeiter“, 26.10.2016


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