Man entzog ihnen die kleine Heimat, ihre Familien, alles nahm man ihnen – mit Ausnahme ihrer Würde und Ehre
Gerassim Aleksandrowitsch Berssenjow
In der letzten Ausgabe der Zeitung „Sajan-Gebiet“ haben wir davon erzählt, wie
am 27. Oktober in er Siedlung Tugatsch im Sajan-Bezirk der Tag des Gedenkens an
die Opfer der politischen Repressionen begangen wurde. Heute erinnern wir uns
derer, die durch den Willen des Schicksals in unsere sibirischen Gefilde
verschlagen wurden. Viele von ihnen blieben auch nach ihrer Freilassung aus dem
Kraslag in unserem Bezirk und gründeten Familien. Über sie berichten ihre Kinder,
Bekannten und jene, die bereits seit vielen Jahren ihre Schicksale erforschen.
Jelena Truchina brachte zu der Veranstaltung am 27. Oktober ein altes Foto mit,
auf dem ihr Vater Ilja Nikolajewitsch und ihr Bruder abgebildet sind.
Der Vater wurde 1937 verhaftet und von einer Tschitinsker Troika der
NKWD-Behörde nach § 58-10 zu 10 Jahren Besserungs-/Arbeitslager (ITL) verurteilt,
vermutlich aufgrund einer Beschuldigung wegen antisowjetischer Agitation (aber
ob es tatsächlich so war, ist unklar).
Ilja Nikolajewitsch selber stammte aus einer Bauernfamilie, aus der
Baikal-Region, Gebiet Tschita. Er lebte in einer nur 7 km von der Mongolei
entfernt gelegenen Ortschaft. Die Familie besaß eine große Herde Pferde und
zahlreiche Kühe.
Während der Kollektivierung trat er freiwillig in die Kolchose ein, wobei er
seine gesamte riesige Hofwirtschaft in deren Eigentum übergab. Diejenigen, die
sich dem Beitritt verweigerten, wurden nach Igarka und Turuchansk ausgewiesen.
Ob irgendjemandem es auf die Familie Truchin abgesehen hatte, weiß Jelena
Ilinitschna nicht. Sie weiß lediglich, dass der Vater als Brigadearbeiter tätig
war, und vermutet, dass man ihn wegen irgendeiner Sache denunzierte.
Sie kann sich noch sehr gut an ihren Vater erinnern, denn er starb als sie 25
Jahre alt war. Leider kann sie nicht allzu viel über ihn berichten.
- Er erzählte nichts, - sagt die Tochter des Verfolgten. Natürlich kam es vor,
dass Freunde zu Besuch kamen, sich am Tisch versammelten; dann wurde ein wenig
getrunken und – geschwiegen. Der Vater weinte mitunter sogar. Aber er war nicht
in der Lage, auch nur ein einziges Wort hervor zu bringen, von der Zeit zu
berichten, die er im KrasLag verbracht hatte. Er mochte überhaupt über nichts
gern reden.
Ein gewisses Tabu bei Gesprächen über die Repressionsjahre gab es auch in der
Familie von Emilia Gortschatowa (Mädchenname Emich). Emilia Andrejewna kam auf
Bitten der Tugatschinsker Dorfrats-Vorsitzenden Tamara Petrowaaus der Stadt
Sosnowoborsk in die Siedlung Tugatsch. Sie ist die Tochter von Wolga-Deutschen.
- 1941 wurden alle Deutschen im Wolgagebiet einer massiven Spionagetätigkeit
beschuldigt, man erklärte sie zu „volksfeinden“ und schickte sie nach Sibirien,
ins Altai-Gebiet, - erzählt sie. – Meine Eltern gerieten ins KrasLag. Den Vater
hatten sie hierher in die Trudarmee mobilisiert. Nach dem Krieg oder irgendwann
zum Ende des Krieges schickten sie ihn nach Reschoty, und dort war er bis 1947.
In dem Jahr kehrte er nach Hause zurück.
Als Emilia Andrejewnas Vater starb, war sie 9 Jahre alt. Erst als sie bereits
erwachsen waren, konnten sie und ihre Schwestern ein wenig über die
Familien-Tragödie in Erfahrung bringen – nach den Worten ihrer Mutter Frieda
Alexandrowna.
- Und deswegen kenne ich all diese Orte (das KrasLag und seine Nebenlager) nur
aus den Worten der Mutter. Sie hat erzählt, wie sie zusammen mit den Ehefrauen
anderer Angehöriger der Arbeitsarmee abwechselnd Pakete für ihre Männer nach
Tugatsch brachten. Sie kamen zu Fuß aus dem Irbejsker Bezirk, wo man die Mutter
als Ansiedlerin in dem Dorf Kasyla gelassen hatte. Sie berichtete, dass ihnen
oft sogar jene Soldaten halfen, welche die Arbeitsarmisten bewachten. Nicht
selten hätten sie sie auch vor dem Tod gerettet. Einmal, im Spätherbst, mussten
sie den Fluss über das Eis queren. Mama brach ein und drohte zu ertrinken. Einer
der Begleitsoldaten rettete sie und brachte sie in sein Haus. Hier konnte die
Mama sich aufwärmen und über Nacht bleiben.
Emilia Andejewnas Vater war sehr professionell in seinem Fach; er arbeitete in
der Holzfällerei, war Arbeiter, Schlosser. Als die Haftzeit zu Ende war, blieb
er in Tugatsch und durfte den Ort bis 1956 nicht verlassen.
Lidia Slepez wurde im Sajan-Bezirk, im Dorf Tscharge, geboren. Ihr Vater
Gerassim Aleksandrowitsch Berssenjew, geboren 1915, gebürtig und wohnhaft im
Osten Kasachstans, wurde 1937 verhaftet. Vor seiner Festnahme arbeitete er als
Fahrer; er beförderte die Kolchos- und Dorfratsvorsitzenden.
- Die Vorsitzenden wurden nach einer Denunziation verhaftet, - erzählt Lidia
Gaerassimowna, - und anschließend auch mein Vater. Er hatte sie schließlich
gefahren, also hatte er sich schuldig gemacht. Er wurde 1937 von einer Troika
der NKWD-Behörde Ost-Kasachstans verhaftet und zu 10 Jahren Besserungs-/Arbeitslager
verurteilt. Er hinterließ seine Ehefrau Polina und den sechs Monate alten Sohn.
Diese 10 Jahre saß der Vater „vom ersten bis zum letzten Glocken-schlag“ ab. So
hatten sie ihn um Mitternacht (damals war er 21 Jahre alt) abgeholt, und er
kehrte ebenfalls um Mitternacht (als er 31 war) nach Hause zurück. Der Vater
durchlief alles: Mamsa, Kuscho und andere Nebenlager, die um das Hauptlager
entstanden waren. Dieses ganze riesige Territorium hatte er zu Fuß abgegangen.
Manchmal, wenn ihm der Sinn danach stand, erzählte er von der Vergangenheit. Ich
erinnere mich gerade daran, dass er darüber berichtete, wie schlimm es war, wenn
Gefangene gestorben waren und sie in einem einzigen Sarg zu jeweils zehn Leichen
abtransportiert werden mussten. Und das Pferdchen lief den ganzen Tag vom Lager
zum Friedhof und wieder zurück. Sie bringen einen Sarg fort, kippen ihn aus in
die Grube und fahren mit demselben Sarg wieder zurück. Um die nächste Fuhre zu
holen. Es gelang nicht. Mehr Särge anzufertigen, und schließlich kam es so weit,
dass man die Leichen ganz ohne Sarg transportierte. Außerdem berichtete der
Vater, dass sie nicht genug zu essen hatten, und dass sie, um nicht zu
verhungern, die kümmerlichen Futterreste aus den Schweinetrögen herausklaubten.
Sie überlebten – irgendwie…
Nach den Worten von Lidia Slepez war es so, dass Gefangene, denen das Los
zugefallen war, sechs Monate im Karzer zu verbringen, im Winter pro Tag 200
Gramm Brot, einen Krug Wasser und 18 Kilogramm Brennholz erhielten.
- Mein Vater geriet auch einmal wegen einer Sache in den Karzer. Er hatte
nämlich gesehen, wie Diebe den Lager-Kiosk plünderten. Sie warnten ihn: „Wenn du
was sagst, bringen wir dich entweder um oder du kommst in den Karzer – du kannst
wählen“. Er beschloss zu schweigen. Als er6 Monate später aus dem Karzer kam,
wog er nur noch 38 Kilo.
Dank seiner guten Gesundheit überlebte Gerassim Aleksandrowitsch, aber die 10
Jahre Lagerhaft hatten seine Gesundheit stark ruiniert. Er konnte auch seine
Familie nicht erhalten. Gerassims erste Frau Polina wurde ohne jegliche Anklage
zum Ausheben von Baugruben verschleppt. Die Angehörigen hielten sie für
verschollen, doch Polina kehrte ein halbes Jahr später zu ihrem Sohn zurück, der
in der Obhut der Großmutter geblieben war.
Gerassim Aleksandowitsch durfte das KrasLag für eine gewisse Zeit nicht
verlassen; hier lernte er seine zweite Frau kennen, deren Mann an der Front
gefallen war und die drei kleine Kinder an den Rockzipfeln hängen hatte. In der
gemeinsamen Ehe wurden dann drei weitere Kinder geboren.
- Der Vater hat wohl auch ein wenig erzählt, - sagt Lidia Gerassimowna, - aber
aus jeder seiner Geschichten wehte eine unerträgliche Kälte. Deswegen ist
bestimmt auch alles so klar und deutlich im Gedächtnis geblieben. Sie hatte
selber gehört, wie die Eisschicht unter den Rädern des Fuhrwerks knarrte, wie
das völlig erschöpfte, magere Pferdchen einen riesigen Jahrhunderte alten
Baumstamm zog und die Häftlinge ihm beim Ziehen halfen. Eine klare Vorstellung
ist auch von den Gefangenen geblieben, die am helllichten Tag bis zur völligen
Entkräftung bis zur Gürtellinie im Wasser standen. In den Häftlingsstiefeln
sammelte sich so viel Sand an, dass die Füße ganz blutig waren.
Gerassim Aleksandrowitsch reichte während des Krieges dreimal ein Gesuch ein,
damit man ihn an die Front schickte, doch alle Anträge wurden abgewiesen.
Das System zerbrach die menschlichen Schicksale erbarmungslos, ohne eine Auswahl
zu treffen, wer eigentlich wer war. Egal ob Bauer oder Adeliger. Der Vater einer
Bewohnerin der Siedlung Tugatsch, Ludmila Turlakowa, war ein polnischer Adeliger
aus einer geistlichen Familie. Wazlaw (Wjatscheslaw) Kasimirowitsch Drosdowitsch
wurde im Alter von 16 Jahren nach § 58 zum Repressionsopfer. Kasimir
Drosdowitsch, ein ehemaliger römisch-katholischer Priester und Wazlaws älterer
Bruder, wurde auf dem Kirchhof erschossen. Wazlaw selbst verschleppten sie nach
Sachalin und von dort nach Sibirien. Dort blieb er, nachdem er eine der
Lager-Arbeiterinnen geheiratet hatte.
Wazlaw Kasimirowitsch wurde mit dem Entzug der Rechte verurteilt (er durfte sich
aus dem zugewiesenen Ort nicht entfernen).
- Aber der Vater selbst nahm keinen Schaden, - sagt Ludmila Wjatscheslawowna. –
Ich bin der Meinung, dies war dadurch bedingt, dass er aus einer geistlichen
Familie stammte, und solche Leute lassen sich nicht so leicht zerbrechen. Sie
haben einen standhaften, starken Geist. Der Vater glaubte bis zuletzt, er
überlebte gerade wegen seiner Geistlichkeit, seines Edelmuts. Er starb im Jahr
2000 im Alter von 82 Jahren.
Eine weitere Einwohnerin der Siedlung Tugatsch, Vera Makarenko, berichtet nicht
über eine konkrete Person, sondern teilt ihre Erinnerungen darüber, wie es
damals war.
Vera Nikolajewna hatte aus ihrer frühesten Kindheit (sie war 9 Jahre alt) in
der Erinnerung behalten, wie die Gefangenen in ganzen Kolonnen an ihrem Haus,
welches an der Haupttrasse stand, vorbeigetrieben wurden. Sie erinnert sich an
Fluchtversuche. Es haben sich in ihr Gedächtnis auch Bilder eingeprägt, wie sich
den großen Haupttoren des KrasLag Pferde näherten, die Karren hinter sich
herzogen. Auf den Karren – Säcke, aus denen Menschenköpfe herausschauten. Die
Kinder sahen sich das mit Verwunderung an. Die Leute waren tatsächlich am Leben,
aber man hatte sie in Säcke gesteckt, die am Hals zugebunden waren. Bis heute
kann Vera Nikolajewna sich nicht vorstellen, wie man sie auf dem Karren
untergebracht hatte, und sie weiß nicht, ob es sich um Verbrecher oder
politische Gefangene handelte. Doch dieser unmenschliche Anblick – Menschen in
Säcken – bleibt für immer in ihrem Gedächtnis haften. Vera Makarenko hörte auch
von den Talenten der Häftlinge. Nach ihren Worten hing bei ihnen zu Hause ein
großes Bild mit der Unterschrift „SASCH“, aber ob es sich dabei um einen
Nachnamen oder Initialen handelt, vermag sie nicht zu sagen. Diese
Buchstabenblieben ein Rätsel.
Heute ist es möglich, die Namen der Gefangenen wiederherzustellen, ihre
Schicksale exakter zu erforschen. Es ist nicht das erste Jahr, dass Schüler der
Bezirksschulen, Pädagogen, ganz normale Einwohner aus winzigen Teilchen das
Lebensbild der Häftlinge im KrasLag zusammenfügen. Sie führen umfangreiche
Forschungstätigkeiten durch, ermitteln Angehörige und erzählen, erzählen,
erzählen…
Einzigartig ist die Präsentation „Schuldlos schuldig…“, die von der Lehrerin für
russische Sprache und Literatur der Tugatschinsker Mittelschule Tatjana
Altuchowa erstellt wurde. Während sie daran arbeitete, sammelte sie eine
Vielzahl von Zeugenberichten über Menschen, die nach dem politischen Paragraphen
verurteilt worden waren, die unter dem totalitären Regime gelitten hatten. In
ihrem Heimatland wurden sie zu „Volksfeinden“.
Nehmen wir einmal einen Mann mit höherer Bildung – den Arzt, Chirurgen,
Gynäkologen Genrich Josifowitsch Nawotny. Verhaftet in Simferopol aufgrund einer
Denunzierung, nach der er angeblich einmal gesagt hatte, dass die sowjetischen
Panzer schlechter als die deutschen seien. Aber nach seinen eigenen Worten hatte
er sich schlecht mit der Kriegstechnik ausgekannt, und es war unmöglich gewesen,
dass er solche Worte ausgesprochen hätte. Trotzdem bekam er den § 58-10 und 10
Jahre Besserungs-/Arbeitslager. Anfangs befand er sich in Reschoty, später in
der Siedlung Tugatsch. Hier vereinte er die Posten eines Therapeuten, Chirurgen
und Gynäkologen miteinander. Er war ein aufrichtiger Mann mit Prinzipien. Auf
seine Meinung hörte man. Er war der einzige der, der sich gegenüber der
Lagerleitung durchsetzen konnte. Im Winter, bei eisigen Temperaturen, verbot er
die Ausfahrt der Arbeitsbrigade zum Baumfällen, indem er sagte, dass er an die
operative Abteilung schreiben und mitteilen würde, dass die Menschen hier extra
kaputtgemacht würden und das Plansoll nicht schafften. Und man fürchtete ihn. Er
behandelte alle, die sich an ihn wandten, führte Bauch-Operationen durch, heilte
Brüche, erkannte Hautkrebs. Zu ihm kamen sie aus dem gesamten Sajan-Bezirk.
Nach der Freilassung ließen sie ihn zur weiteren Ansiedlung in Tugatsch, er
heiratete Sophia Trofimowna Tschajkina, eine Brigade-Arbeiterin aus Gladkowo,
adoptierte ihre Tochter Walentina; seiner Frau brachte er alle Geheimnisse einer
meisterlichen Operationsschwester bei, und im weiteren Verlauf assistierte sie
ihm bei anfallenden Operationen. Am 1. November 1957 wurde er zum Leiter des
Tugatschinsker Abschnitts-Krankenhauses ernannt.
Zu Schwerkranken eilte er beim ersten Anruf, egal zu welcher Tages- oder
Nachtzeit, um die notwendige Hilfe zu leisten.
Februar 1964. Es ist Nacht. Eisiger Frost. Eine schwierige Geburt. Die Gebärende
verliert viel Blut. Die Hebamme tat alles, was in ihren Kräften stand, aber ohne
Erfolg. In ihrer Verzweiflung ruft sie nach Genrich Josifowitsch. Nur wenige
Minuten später stand er mit weit geöffnetem Mantel über dem Schlafanzug, in
Hausschuhen, ohne Mütze und gänzlich außer Atem an der Schwelle zur
Geburtsabteilung. Er tat alles Notwendige und konnte die Frau retten. Dabei war
er bereits 68 Jahre alt und wohnte nicht gleich neben dem Krankenhaus. So ein
Arzt und Mensch war Genrich Josifowitsch also gewesen.
1939 traf mit einer Etappe der Veterinärmediziner Firs Petrowitsch Sudakow im
Lager ein. Er stammte aus dem Baikal-Gebiet, arbeitete in der Kolchose als
Gehilfe des Tierarztes. Es gab ein erhebliches Viehsterben, 40 Leute wurden vor
Gericht gestellt, 35 von ihnen wurden erschossen, 5 schickte man auf
Gefangenenetappe – unter ihnen auch Firs Petrowitsch. 1941 baute man eine
Tier-Heilanstalt; es war notwendig die Pferde zu behandeln, von denen es im
Lager etwa 200 gab, denn alle Arbeiten wurden mit Hilfe der Pferde verrichtet.
Nach seiner Freilassung blieb Firs Sudakow in Tugatsch, heiratete, wohnte mit
seiner Familie in einer Baracke, auf deren einer Seite sich auch die
Tier-Heilanstalt befand. Einen gebildeteren und wissenderen Spezialisten kannte
man in der Siedlung nicht. 1971 begab er sich zu seiner Tochter in die Stadt
Schewtschenko.
Zu Beginn des Krieges kamen immer mehr Wolga-Deutsche ins KrasLag. Große
Schicksalsherausforderungen entfielen auf das Los von Nikolaj Sergejewitsch
Probst (Gottlieb Ludwigowitsch, der deutscher Nationalität war) – Lehrer für
Arbeit und ein von allen im Dorf geachteter Mechaniker. Gemeinsam mit Frau und
Tochter traf er im Tugatschinsker KrasLag ein, lebte zunächst in der Siedlung
Marin Klein, wo er beim Elektrokraftwerk arbeitete, und ließ sich anschließend
in Tugatsch nieder. 1937 wurde er an der Wolga, wo er als Schullehrer tätig war,
Opfer der Repressionen.
Sie kamen und verhafteten ihn direkt während des Unterrichts, wobei sie ihn der
antisowjetischen Agitation beschuldigten, denn Gottlieb Ludwigowitsch war ein
gebildeter Mann, der viel las, unter anderem auch Artikel von Bucharin. Man
denunzierte ihn, und dann dauerte es auch nicht lange, bis… Dieser Mann besaß
goldene Hände, er zeichnete sich durch deutsche Pedanterie, Genauigkeit und
Sorgfalt aus, sein Haus war das ungewöhnlichste und gepflegteste in der ganzen
Siedlung, alle Bäume und Büsche im Garten waren beschnitten und geweißt, die
Beete mit Sachverstand angelegt, die Blumen blühten den ganzen Sommer hindurch.
Oft wandten sich die Einwohner der Siedlung an ihn, um ihn zu bitten, etwas
anzufertigen oder zu reparieren.
Nikolaj Sergejewitsch und seine Frau haben sich ihr Leben lang an jene
schrecklichen Jahre erinnert, als sie getrennt wurden; und als sie bereits alt
und grau, schwächlich waren und sich mit Müh und Not durchs Leben schlugen,
erzählten sie den anderen Dorfbewohnern laut schluchzend von ihrem bitteren Los.
All das ohne Tränen anzuhören war unmöglich. Nikolaj Probst starb 1990, er liegt
auf dem Friedhof der Siedlung Tugatsch begraben.
Illarion Fjodorowitsch Tytschinin wurde 1906 geboren. Er stammte aus der
Ortschaft Dolgoje im Semljansker Bezirk, Gebiet Woronesch. Vor der Revolution
beendete er die4. Schulklasse. Er kam aus einer russischen Bauernfamilie.
Im Mai 1937 las er in der Zeitung „Woronescher Kommune“ darüber, dass Jan
Borisowitsch Gamarnik, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der
Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und Leiter der politischen
Abteilung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee, angeblich in antisowjetische
Verbrechen verwickelt wäre, und aus Angst vor Entlarvung seinem Leben durch
Selbstmord ein Ende gesetzt hätte. Illarion Fjodorowitsch wagte aus diesem
Anlass eine Aussage zu machen, dass er nämlich nicht glaube, dass dieser alte
Bolschewik, der eine derart verantwortungsvolle Tätigkeit ausübe, ein
antisowjetischer Verbrecher sein könne und dass er einfach nur nicht nach
Stalins Pfeife getanzt hätte. Das sagte er in Anwesenheit zweier Männer. Einer
von ihnen war Kommunist, der zweite befand sich in Untersuchungshaft wegen
Veruntreuung. Und der war es dann auch, der die Denunziation verfasste.
Am 26. Juli 1937 kam Illarion Tytschinin zum Dorfrat; man verhaftete ihn und
brachte ihn ins Woronescher Gefängnis, wo er 10 Monateeinsaß. Ein
Sonderkollegium verurteilte ihn zu 8 Jahren Lagerhaft und Entzug der Rechte nach
§ 58-10, weil er den Führer beleidigt hatte; und dann schickte man ihn mit einer
Etappe in die Region Krasnojarsk - von einem Lagerpunkt zum anderen. Der letzte
war – die Siedlung Tugatsch. Im Juli 1945 ging die Haft-Strafe zu Ende, aber
ohne das Recht, den Ort zu verlassen.
Erst 1949 durfte er in die Heimat, nach Woronesch, zurückkehren; dort wollte er
eine Arbeit suchen, aber seine Frau schrieb ihm aus Tugatsch, dass diejenigen,
die eine Haftstrafe verbüßt hätten, noch einmal verhaftet würden. Auf Anraten
des Staatsanwalts kehrte Illarion Fjodorowitsch nach Tugatsch zurück, wo er dann
auch für immer blieb.
Aleksej Ilitsch Donez, geboren 1908, Ukrainer, geboren im Gebiet Poltawa. Nach
den Berichten seiner Enkelin wurde er im Dezember 1937 von einer auswärtigen
Sitzung des Poltawsker Gebietsgerichts zu 6 Jahren Freiheitsentzug mit d Entzug
der Rechte für einen Zeitraum von 3 Jahren verurteilt. Im Lager Y-235 traf er am
27. März 1938 aus dem Charkower Gefängnis ein. Freigelassen wurde er am
06.11.1943. Nach seiner Freilassung arbeitete er als freier Angestellter am
Tugatschinsker Sonder-Lagerpunkt der Einrichtung Y-235. 1968 rehabilitierte ihn
das Oberste Gericht der Ukraine aus Mangel an Tatbeständen. Nach seiner
Freilassung heiratete er und lebte mit seiner Familie im Dorf Kapitonowo.
Die Nachbarn erinnern sich an ihn als einen offenen, herzlichen Menschen und
fürsorglichen, sparsamen Hausherrn. Er befasste sich mit Bienenzucht, sein
Grundstück sah mustergültig aus. Er starb 1974 im Dorf Kapitonowo, Sajan-Bezirk.
Übrigens wurden alle, über die Tatjana Iwanowna und die Kinder berichteten,
wegen des Mangels an Verbrechenstatbeständen rehabilitiert. Sie hatten sich
keinerlei Vergehen schuldig gemacht, doch ihre Schicksale wurden zerstört, man
entzog ihnen die Heimat, die Familien; man nahm ihnen alles, außer ihrer
Menschenwürde und Ehre. Indem sie ihren Schmerz und ihre Kränkung so tief wie
möglich verbargen, lebten sie weiter und hörten nie auf, an das Werk des Guten
und der Gerechtigkeit zu glauben.
Autorin: Irina Majazkich
„Sajan-Zeitung“, 10.11.2016