Zeremonie zur Aufstellung eines Gedenkkreuzes in der Siedlung Tugatsch
Diesen Herbst, am Vorabend des Gedenktages an die Opfer der politischen Repressionen errichteten die Ortsbewohner in der Taiga-Siedlung Tugatsch in der Region Krasnojarsk ein Kreuz auf dem Friedhof, auf dem 60 Jahre zuvor die Häftlinge des KrasLag begraben wurden. Hier in Tugatsch befand sich eine seiner Lager-Außenstellen für 1800 Häftlinge – das ist dreimal so viel, wie die Siedlung heute Einwohner zählt. Abkömmlinge der Gefangenen und derer, die sie bewachten, versuchen nun gemeinsam, diese tragische Seite der Geschichte ihres Dorfes zu rekonstruieren. Sie richtenden Friedhof her, schufen in der örtlichen Schule ein Museum und fügen aus winzigen Bruchstücken die Biographien der Gefangenen des KrasLag zusammen.
Auf dem Friedhof, auf dem in Tugatsch Häftlinge des KrasLag beerdigt wurden, gibt es weder Grabstellen, noch Kreuze – nur mehr oder wenige abgesenkte Gruben. In einigen liegen zwei bis drei Tote, in anderen – zehn. Wie viele Tote hier insgesamt liegen, weiß niemand.
Der Friedhof ist auch nicht begrenzt. Auf ihm ist ein kleiner Wald herangewachsen, nebenan – die Dorfstraße. Die Ortsbewohne sind der Ansicht, dass sie ebenfalls auf anonymen Massengräbern verläuft.
So sieht der Lager-Friedhof heute aus
Die meisten der heute hier Lebenden sind Abkömmlinge von GULAG-Häftlingen und -Mitarbeitern. Und sie wohnen nicht nur in der Nachbarschaft: häufig finden sich diese wie jene in ein und derselben Familie. Das ist das Schicksal von Tugatsch: die Siedlung entstand an er Stelle des in den 1950er Jahren geschlossenen Lagers. Und diejenigen, die sich damals auf unterschiedlichen Seiten des Lagerzauns befanden, fingen ein gemeinsames Leben an. Und heute rekonstruieren sie zusammen die Geschichte von Tugatsch und des Lagerpunktes, der sich damals hier befand. Die Haupt-Initiatoren dieser Sache waren seinerzeit zwei Frauen. Ljudmila Miller – Tochter eines Mitarbeiters des KrasLag (des Leiters der BUR, der Baracke mit verschärftem Regime) und Braut eines Gefangenen, der in dem Lager einsaß, in dem ihr Vater arbeitete. Und Tamara Petrowa – die Vorsitzende des Tugatschinsker Dorfrats, Tochter und Enkelin eines einstigen Häftlings.
Alles begann mit dem Versuch, auf menschliche Art und Weise einen Friedhof für die stalinistischen Häftlinge zu schaffen. Anfangs wurden sie in den örtlichen Filialen des KrasLag noch in Särgen bestattet. Später, um zu sparen, verfuhr man folgendermaßen: vom Lager wurden die Toten in Särgen zum Friedhof gebracht, dort in gruben gekippt und mit Erde zugeschüttet. Der Sarg wurde immer wieder verwendet, bis er völlig abgenutzt war. Schließlich kamen sie auch ohne diese „Formalitäten“ aus – man lud die Leichen unverhüllt auf Leiterwagen, brachte sie zu den Gruben, warf sie hinein und schüttete die Vertiefungen zu.
Und das taten sie nicht gerade sorgfältig: immer wieder kamen Schädel und Knochen an die Oberfläche, und die Ortsbewohner deckten sie mit Erde zu, damit die Überreste nicht von den Hunden zerrissen wurden. Doch mit der Zeit überwuchs der Friedhof mit Gras, an manchen Stellen mit Wald. Auch das war manchen Einwohnern von Tugatsch nicht bekannt.
Das derzeitige Oberhaupt des Tugatschinsker Dorfrats, Tamara Petrowa, erfuhr davon nur ganz zufällig, obwohl sie in der Siedlung geboren ist und lange Zeit hier gelebt hat, bevor sie zum Studium nach Krasnojarsk zog.
- Vor zehn Jahren kam ich wieder nach Tugatsch, um meine Verwandten zu besuchen; mit einer Bekanntenmachte ich einen Spaziergang und … wir stießen auf eine Grube mit Knochen. Sie erzählte mir etwas darüber, ich machte ein paar Fotos und stellte sie im sozialen Netzwerk „Klassen-Kameraden“ aus. Es kamen daraufhin Reaktionen, Erinnerungen, Geschichten… All das verblüffte mich so sehr, dass ich beschloss, Material über diejenigen zu sammeln, die hier gefangen waren und später in der Siedlung lebten, - sagt Petrowa.
Ljudmila Miller (links) und Tamara Petrowa (Mitte) mit der Tochter eines
ehemaligen Häftlings des KrasLag – Emma Gortschatowa
Dies über die offiziellen Kanäle zu bewerkstelligen, erwies sich als praktisch unmöglich. Wenn es irgendwo überhaupt eine Information über jene gibt, die in Tugatsch begraben liegen, dann ist sie geheim. Theoretisch, berichtet Tamara Petrowa, können sich damit höchstens die Kinder derer hier Ruhenden bekannt machen. Doch auch das ist nicht durchführbar: häufig wissen die Familien nicht, wo und wie das Leben ihrer Väter und Großväter endete. Das heißt: all das blieb auch innerhalb der Familie ein Buch mitsieben Siegeln. Daher beschloss man, sich auf das menschliche Gedächtnis zu stützen – Zeugenaussagen derer, die persönlich vom Tugatschinsker Sonder-Lagerpunkt wussten.
- Ich arbeitete früher bei den Verwaltungen in Sosnowoborsk und im Berjosowsker Bezirk, entschloss mich jedoch, in die Heimat zurückzukehren: ich will allen zeigen, was es mit unserem weit abgelegenen Tugatsch auf sich hat. Erzählen, dass sich hier die größte Lagerzone im Sajan-Bezirk befand und die Taiga voll von namenlosen Gräbern ist. Wie können wir leben, wenn wir darüber nichts wissen? – meint Petrowa.
Das Material suchen die Einwohner anhand von Bruchstücken zusammen. Nun ist es nicht nur gelungen, Erinnerungen zusammen zu stellen, sondern auch alte Fotografien, eine schematische Darstellung der Lagerpunkte des KrasLag, die noch in den dreißiger-vierziger Jahren erstellt wurde, eine Karte der Lager-Nebenstellen in der Taiga – Waldreviere, in den die Gefangenen arbeiteten, ausfindig zu machen. Es fanden sich einzigartige häusliche Mechanismen, angefertigt von Nikolai Probst, sowie Bilder, gemalt von dem Häftling Wladimir Tschikanik. Man kann ihn zu Recht als Künstler eines einzigen Werkes: einmal malte er ein Porträt von der Tochter einer Dorfbewohnerin und nannte es „Mädchen mit Kätzchen“. Danach wurde er mit Aufträgen überschüttet; Thema und Komposition blieben die gleichen, nur das Gesicht des Mädchens veränderte er jedes Mal. Als Tschikanik starb, malte ein anderer Lager-Künstler, Boris Gurjanow, noch ein paar weitere „Mädchen mit Kätzchen“. Aber ortsansässige Kenner beschlossen, dass das Werk auf der Leinwand „schon nicht mehr das“ war.
- Es war ein klassisches Wald-Lager – die Häftlinge fällten Bäume, im Frühjahr flößten sie die Stämme ab und bauten außerdem die Eisenbahnlinie von Reschoty bis nach Karabula, - erzählt Aleksej Babij, der Vorsitzende der Krasnojarsker „Memorial“-Filiale. – Das KrasLag wurde 1938 organisiert, das Tugatschinsker Außenlager 1940. Die Gefangenen – vor allem diejenigen, die nach §58 verurteilt worden waren. Es gab dort auch sogenannte „Usniki“ – man hatte sie inhaftiert wegen Zuspätkommens zur Arbeit, Diebstahl von Staatseigentum u. ä. – sowie enteignete Bauern. Viele deutsche Gefangene der Arbeitsarmee gab es dort, die man in den Jahren 1941-42 hierhergebracht hatte. Sie hatten weder einen Paragraphen, noch ein Urteil, doch sie lebten trotzdem mit Häftlingen zusammen im Lager und hatten sich demselben Regime unterzuordnen, wie die Gefangenen. Es gab dort auch Litauer: im Juni 1941 wurden die Männer von ihren Ehefrauen getrennt und ins KrasLag geschickt, und erst nachdem sie bereits ein ganzes Jahr dort verbracht hatten, fing man damit an sie massenhaft wegen Vaterlandsverrat und antisowjetischer Agitation zu verurteilen. Dabei wurden Urteile auch über Menschen verhängt, die zu dem Zeitpunkt bereits verstorben waren. Natürlich gab es auch Kriminelle – solche, die wegen Mord, Raub oder Bandenzugehörigkeit einsaßen.
Aleksej Babij in der Ortschaft Tugatsch. Feierliche Errichtung eines
Kreuzes auf dem Lager-Friedhof
Die Verwaltung des KrasLag befand sich anfangs in Kansk, später wurde sie nach Nischnaja Poima verlegt. Das Gebäude steht heute noch und gehört heute zur regionalen Hauptverwaltung des Strafvollzugsdienstes. Irgendwo sind aus der Zeit auch noch Baracken erhalten.
Die Nebenlager des KrasLag waren vergleichsweise klein – durchschnittlich für 600-800 Gefangene gedacht, das größte für 3000. Aber im Süd-Osten der Region Krasnojarsk gab es dutzende Lager, und als das KrasLag sich mit ganzer Kraft „entfaltete“, befand sich dort mehr als 30.000 Menschen. Insgesamt durchliefen in den Jahren seiner Existenz nicht weniger als 100000 Personen das KrasLag, von denen die Hälfte politische Gefangene waren. Die meisten von ihnen hatten Haftzeiten von 5-10 Jahren.
Das KrasLag
Nach Stalins Tod wurde das Tugatschinsker Sonder-Nebenlager geschlossen. Aber die Menschen, die in die Freiheit hinausgingen, wussten oft nicht, wohin sie gehen sollten. Geld besaßen sie nicht, in die Heimatstädte konnten nicht alle zurückkehren – man hätte sie schlicht und ergreifend nicht gelassen, sie bekamen Zuzugsgenehmigungen, und Arbeit gab es ebenfalls nicht. Von vielen Häftlingen hatten die Verwandten und Freunde sich losgesagt. Daher blieben die Freigelassenen, um hier zu arbeiten: Deutsche, Litauer, Kasachen, Russen, Ukrainer. Politische und Kriminelle. Gefangene und Wachleute. Alle beieinander, - sagt Aleksej Babij.
Die Geschichte des Tugatschinsker Soner-Lagerpunktes wird von den Nachfahren
der Häftlinge und Mitarbeiter des KrasLag ebenfalls mit all seinen Siedlungen
rekonstruiert. Ein einzigartiger Fall für unser Land: die Dorfbewohner handeln
ohne Hilfe „offizieller“ Historiker und Heimatkundler, ohne jegliche
Unterstützung
der Behörden. Ohne „fremde“ Gelder. Und sogar ohne Archive: wie sich
herausstellte, findet man in ihnen nicht immer die notwendigen Informationen.
Und wenn man sie findet – dann lassen sie einen nicht heran, um sie zu studieren.
Deswegen wird die Chronik von Tugatsch anhand der Zeugenaussagen derer
rekonstruiert, die sich an das Lager noch erinnern können: einstige Gefangene
und ihre Kinder.
Ljudmila Miller bewirkte sogar die Errichtung eines kleinen Denkmals an der Stelle, an der sich einmal die BUR (Baracke mit verschärftem Regime; Anm. d. Übers.) befand. Es wurde ebenfalls mit eigenen Händen vom Einwohner Nikolai Starikow angefertigt.
Aufstellung des Denkmals am Ort der einstigen BUR
Aber das Wichtigste ist, dass sie, als sie noch als Lehrerin an der Aginsker Schule tätig war, damit begann, mit den Schülern an einem Buch der Erinnerung an den Sajan-Bezirk zu arbeiten, in dem auch Tugatsch gelegen ist. Anfangs konnten sie sich lediglich auf äußerst spärliche und trockene Zahlen stützen.
- Aber da wir alle verfolgten Sajan-Bewohner kannten, entstanden aus den nüchternen Zeugnissen lebendige Biografien. Und verblüffende Lebensgeschichten gibt es hier auf Schritt und Tritt, - sagt Ljudmila Miller.
Ljudmila Konstantinownas Schullehrerin, Klawdija Grigorewna Ljamkina, kam ins Lager, als sie 14 Jahre alt war. Nach § 58 verurteilte man sie zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager. Sie lernte damals am Technikum, ein junger Bursche war eifersüchtig auf sie und verfasste eine schriftliche Anzeige gegen sie: angeblich hätte man auf den Etiketten ihrer Schulheft-Umschläge den Ausruf „Nieder mit der WKP!“ (Allrussische Kommunistische Partei (Bolschewiken); Anm. d. Übers.) lesen können. Das war Ende der 1930er Jahre. Nach dem Krieg wurde Klawdija freigelassen, doch es kam nicht dazu, dass sie nach Hause, nach Dschambul, zurückkehrte. Neben ihr missglückte der Bremsversuch eines Holztransporters, die Stämme rutschten direkt auf das Mädchen herab und zerschmetterten seine Beine. Der bemerkenswerte Arzt und Chirurg Genrich Nawotny, selber Häftling, schaffte es (soweit das überhaupt möglich war), ihr die Gesundheit zurückzugeben. Aber Klawdija konnte Tugatsch nicht mehr verlassen.
Die Geschichte Nawotnys selber (des Großonkels von Tamara Petrowa) erzählt Irina Majazkich, Journalisten der Lokalzeitung „Sajan-Gebiet“:
- Er ist der Herkunft nach Tscheche. Verhaftet wurde er in Simferopol aufgrund einer Denunzierung – angeblich hätte er gesagt, dass die sowjetischen Panzer schlechter seien, als die deutschen. Dafür bekam er 10 Jahre Lager. Auf die Meinung des Arztes Nawotny, der seine Haftstrafe zuerst in Reschoty und später in Tugatsch verbüßte, hörte sogar die Lagerleitung – er war der Einzige, der ihr widersprechen durfte. Im Winter, bei strengem Frist, untersagte er es, die Gefangenen zum Bäume Fällen in die Taiga zu fahren, indem er ankündigte, er würde andernfalls an die operative Abteilung schreiben, dass die Menschen absichtlich „auf gröbste Weise kaputtgemacht“ würden, um das Plansoll nicht einzuhalten. Nawotny ließe man nach seiner Freilassung in der Siedlung Tugatsch; er heiratete Sofia Tschajkina, Einwohnerin aus dem Nachbardorf Gladkowo, und wurde 1957 zum Leiter des Tugatschinsker Abschnittskrankenhauses ernannt, wo er fast bis zum Ende seiner Tage arbeitete und praktisch jeden beliebigen Arzt, egal welcher Fachrichtung, ersetzen konnte.
Der ehemalige Häftling des KrasLag und Chirurg Genrich Nawotny
mit seiner Familie
Nikolaj Sergejewitsch (Gottlieb Ludwigowitsch) Probst, Schullehrer, wurde direkt aus dem Unterricht heraus verhaftet: laut Denunziation hatte er irgendwann einmal einen Artikel über Bucharin gelesen. Aus dem Wolga-Gebiet gelangte Probst ins KrasLag. Die Einwohner von Tugatsch erinnern sich an ihn als einen bemerkenswerten Lehrer für Arbeit und genialen Mechaniker, einen Mann mit goldenen Händen: die von ihm in jenen Jahren auf Bitten der Dorfbewohner angefertigte Wurstmaschine, ein Butterfass, ein Spinnrad und die Schul-Drechselbank existieren und funktionieren noch heute. Nikolaj Probst verstarb 1990; er liegt auf dem Friedhof der Siedlung Tugatsch begraben, erzählt Irina Majazkich.
Nikolaj Probsts Wurstmaschine
Aber vielen Häftlingen gelang es nicht, ein vorgerücktes Alter zu erreichen – nicht einmal ihre Freilassung.
- Die Todesrate im KrasLag hielt sich all die Jahre auf dem Niveau von 7-8 Prozent. Aber im Winter 1942-43, als es um die Versorgung besonders schlecht bestellt war, erreichte sie sogar 10 Prozent, - sagt Aleksej Babij. – Die Haupt-Todesursache war der Hunger im Zusammenwirken mit körperlicher Schwerstarbeit: die Menschen mussten bei strengstem Frost Bäume fällen, die Stämme zum Fluss ziehen, um sie im Frühjahr abflößen zu können. Sie starben in erster Linie an Erschöpfung, des Weiteren an Pellagra, Ruhr, Verletzungen, die sie bei der Waldarbeit erlitten hatten. Pro Tag standen einem Menschen laut Norm 400 Gramm Brot, 70 Gramm Graupen, 600 Gramm Kartoffeln zu. Fleisch gab es achtmal im Monat – insgesamt 90 Gramm. An Fisch standen ihnen 150 Gramm an 22 Tagen zu. Doch häufig kam das, was laut Normen vorgesehen war, gar nicht bis zu den Häftlingen. Das Hauptnahrungsmittel war die Balanda – eine halbflüssige Substanz unverständlicher Zusammensetzung. Im Norden warfen sie mitunter einen ungeputzten, nicht ausgenommenen Fisch mit hinein. Aber hier bestand sie im Wesentlichen aus qualitativ minderwertigen Graupen. Besser lebten die sogenannten Lager-Pridurki (privilegierte Gefangene, die in der Lager-Verwaltung arbeiteten; „Bevorzugte“; Anm. d. Übers.) – sie hegten ein freundschaftliches Verhältnis zur Verbrecherwelt, ließen sich in der Kantine neben ihnen nieder und passten dort auf, wer ein etwas größeres Stück Brot oder etwas dickere Suppe aufgetischt bekam.
Lager-Ruinen
Irina Majazkich führt auch die Aussage eines Gefangenen des Tugatschinsker Lagers, Gennadij Bajakow, an: „Wenn ein hungriger Gefangener aufgrund des Kräfteverlusts nicht arbeiten konnte, zwangen die Wachsoldaten ihn, bei Frost auf einem Baumstumpf zu stehen, und das tat er so lange, bis er tot herunterfiel“.
Aber es gab auch noch den Karzer. Dort gab man an die Häftlinge 200 Gramm und einen Krug Wasser pro Tag aus. Im Winter bekamen sie zudem noch 18 Kilogramm Brennholz für alle, erzählt Irina Majazkich. Sie erinnert sich an eine Geschichte, die eine Einwohnerin von Tugatsch, Lidia Slepez, ihr erzählte. Ihr Vater verbrachte mehrere Monate im Karzer: vor der Lagerleitung hatten ihn Kriminelle zu Unrecht bezichtigt. Und als er schließlich dort herauskam, wog er, ein erwachsener Mann, nur noch 38 Kilogramm.
Dabei wich man im KrasLag ziemlich schnell von dem System ab, welches in anderen Lagern praktiziert worden war, als die Ration der Häftlinge unmittelbar von den Arbeitsergebnissen abhingen (erfüllst du das Plansoll nicht – halbe Essensnorm, Übererfüllung – dann wiegen sie dir mehr ab). Im KrasLag hatte man den Gefangenen praktisch von Anfang an eine Art Lohn gezahlt: ein wenig Geld, von dem man dennoch am Lager-Kiosk etwas kaufen konnte.
- Auch die Ortsansässigen gaben den Gefangenen zu essen, obwohl sie selber auch nicht gerade gut lebten. Aber schließlich gab es ringsumher die Taiga, und da fand sich immer etwas Essbares. Ab Mai konnte man Türkenbundlilien ausgraben, später kam der Bärlauch, - zumindest vor Skorbut konnte man sich retten. Und die Häftlinge taten viel für die Dorfbewohner, denn sie besaßen geschickte Hände. Die Wachen hinderten weder den Einen noch den Anderen, obwohl das, rein formell gesehen, eine Verletzung der Lagerordnung darstellte, - sagt Aleksej Babij.
Dabei, merkt Babij an, konnten sich die Beziehungen zwischen Gefangenen und Wachmannschaften trotz der schweren und grausamen Haftbedingungen in absolut menschlicher Weise fügen.
- Das ist zweifelsohne ein hiesiges Phänomen, - meint Aleksej Babij. – Viele Wachsoldaten begriffen, dass sich in der Lagerzone bei weitem nicht nur Verbrecher befanden, die Zeit war einfach so beschaffen. Und die Häftlinge wussten, dass es keine wilden Tiere waren, von denen sie bewacht wurden. Es gab dort keine Sadisten und Henker. Genauer gesagt – nicht mehr, als es in anderen Bereichen des Lebens der Fall war. Auch wirkten sich die Besonderheiten eines Waldlagers aus: den meisten Teil ihrer Zeit verbrachten die Gefangenen in Nebenlagern, das heißt in Taiga-Revieren, in denen Bäume gefällt wurden. Und dort gab es keine Baracken und Stacheldrahtzäune – Wachsoldaten und Häftlinge, die nicht mehr bewacht wurden, lebten miteinander. Es kam auch vor, dass Leute die Plätze tauschten – wer gestern noch das Lager bewacht hatte, konnte morgen selber als Gefangener dorthin geraten. Und ein ehemaliger Häftling konnte dazu erkoren sein – ihn zu bewachen. Und was den Alltag und die Lebensbedingungen betrifft – so unterschieden sich Häftlinge und Mitarbeiter des KrasLag nicht sonderlich voneinander.
Wir haben zu unserer Zeit mit Feuereifer versucht, eine „Liste der Henker“ zu erstellen, die in der Region Krasnojarsk tätig waren. Später haben wir begriffen, dass, wenn wir einfach nur die Namen der örtlichen Machtorgane nennen – dies trotzdem eine ganz andere Liste ergibt. Es ist alles nicht so einfach und einheitlich in Bezug auf jene, die einen eingesperrt, die gesessen und die bewacht haben.
Die Tochter einer Mitarbeiterin des KrasLag, Ljudmila Miller, bestätigt, dass die Gefangenen sich bisweilen recht warmherzig über Mitarbeiter des KrasLag äußerten und ihren Verwandten sogar Fotos schickten, auf denen sie gemeinsam zu sehen waren. Auch die heutige ungewöhnliche Bevölkerung von Tugatsch entstand nicht aufgrund von Ausweglosigkeit, sondern vielmehr deswegen, weil diejenigen, die sich auf unterschiedlichen Seiten des Stacheldrahts befanden, sich nicht gegenseitig als Feinde betrachteten.
- Mein Vater, Konstantin Iwanowitsch Leontjew, kehrte verwundet von der Front zurück. Er musste irgendwo arbeiten. Für eine gewisse Zeit fand er eine Anstellung beim Dorfrat, später wurde er Aufseher und schon bald darauf Leiter der Baracke mit verschärftem Regime in Tugatsch. Insgesamt waren an den benachbarten Lagerpunkten des KrasLag fünf Helden der Sowjetunion tätig – sie waren ebenfalls, genau wie Vater, aus dem Krieg zurückgekommen und mussten von irgendetwas leben, - sagt Ljudmila Konstantinowa. – Ich kann mich an so einen Fall erinnern. In unserem Nachbarort lebte eine Frau – ihr Mann an der Front, sie ganz allein. Neben einem Pferd hielt sie vier große Hunde – sie transportierte Holz oder Heu mit ihnen. Und da kommt 1942 ein Soldat ins Dorf: der Krieger benötigte warme Sachen. Sie schlachtete zwei der Hunde und gab ihm das Fell. Und zwei Jahre später taucht dieser Soldat wieder auf und bittet um etwas Warmes anzuziehen. Sie schaut ihn an und sieht – er trägt einen nicht gefütterten Mantel aus ihren Hundefellen. Sie empörte sich darüber – und am nächsten Tag holten sie sie und sperrten sie für 10 Jahre ein. Und als sie dann, sich selber nicht mehr ähnlich, zurückkehrte, wandte sie sich als erstes an meinen Vater. Und er, der Leiter der Strafbaracke, half ihr mit Wohnraum, Arbeit und Geld.
Konstantin Leontjew (links)
Mit den Kriminellen, die ihre Strafe zusammen mit den nach §58 Verurteilten verbüßten, verhielt es sich anders, sagt Ljudmila Miller. Da gab es Schlägereien, Aufstände und Fluchtversuche.
- Ich weiß von einer Flucht, die ein paar Kriminelle geplant hatten. Später wurde ein Prozess gegen sie eingeleitet – sie hatten ganz blutige Hände. Sie töteten einen jungen Burschen, einen Wachmann, und flohen zu Zehnt. Bei ihnen war auch ein junger Häftling, den sie als „Konserve“ mitnahmen: wenn es im Wald nichts zu essen gab, würden sie – ihn essen. Den Lager-Mitarbeitern gelang es schnell, ihnen den Weg abzuschneiden und sie festzunehmen. Natürlich wurden sie alle erschlagen. In der Siedlung wurden sie mit Pferden gebracht, eingehüllt in Säcke oder irgendwelche dünnen Matratzen. Ich erinnere mich, dass ich auf die Straße hinaustrat und das alles nicht verstehen konnte: die eigentümlichen Packstücke, auf denen sich die Fliegenschwärme tummelten. Mein Vater schrie mir damals zu, dass ich nach Hause gehen und nicht dorthin schauen sollte.
Man bestattete die Geflohenen übrigens ebenfalls auf dem Lager-Friedhof. Auf demselben, auf dem es keine Kreuze, keine Grabstellen gibt.
- Gewöhnlich legen sie den Lager-Friedhof aus hygienischen Gründen in ein, zwei Kilometer Entfernung an. Aber hier befand er sich praktisch direkt hinter der Produktionszone und dem Pferdehof, - sagt Aleksej Babij. Jetzt muss man Formalitäten erledigen, damit der Friedhof auch als solcher angesehen wird und niemand auf die Idee kommt, auf diesem Territorium Bäume zu fällen oder den Erdboden auszuheben. Aber das ist ein langer Weg.
- Unsere Siedlung ist reines Taiga-Gebiet. Das heißt – es gibt eigentlich keine Grenzen, wir gehören zu den Wald-Ländereien, - erklärt Tamara Petrowa. – Und um das Territorium Tugatsch zu kennzeichnen, muss in Moskau ein Beschluss gefasst werden, um die Veränderungen in den Generalplan aufzunehmen. Irgendwann werden wir diese Frage entscheiden, aber offensichtlich nicht so bald. Daher ist für uns wichtiger als alles andere – Materialien über unsere Geschichte zu sammeln, so lange die Menschen noch am Leben sind, die etwas berichten können. Ich möchte, dass alles menschlich abgeht. Dass der Friedhof verschönert und grundlegend eingezäunt wird. Und das Väterchen haben wir gebeten, dass er dieses Fleckchen Erde weiht und für die hier in der Erde Ruhenden die Totenmesse liest.
Lagerfriedhof – Totenmesse
… Als sie das Kreuz aufstellten, stießen sie in der ausgehobenen Grube erneut auf Knochen. Sie schütteten die Grube wieder zu und beschlossen es dann trotzdem, von der Sünde etwas weiter entfernt, auf dem Friedhofsareal zu errichten. Zu dem Zeitpunkt war es bereits dunkel. Und am Morgen entdeckten sie, dass sie das Kreuz auf dem Kopf befestigt hatten. Aber Vater Johann aus der Nikolsker Kirche der Ortschaft Atschinsk segnete das Kreuz trotzdem und hielt die Totenmesse am einzigen Grab, das man noch anhand seiner eingestürzten kleinen Einzäunung erkennen konnte.
Das letzte noch erhaltene Grab
Julia Starinowa
„Freiheit“, 22. November 2016