Eine zuverlässige Methode im sozialen Fahrstuhl aufzusteigen
ist es - seinen Vater
zu denunzieren, sich von der Mutter loszusagen. Und sie denunzierten eifrig
und sagten sich los…
Ein Sohn ist für seinen Vater nicht verantwortlich, sagte einmal der Führer des Weltproletariats. Das Wort, allerdings, unterschied sich sehr stark von der Sache. Für den Entrechteten war nicht nur der Sohn verantwortlich, sondern auch die Tochter, die Ehefrau, Vater und Mutter, die Geschwister mitsamt ihren Familien und sogar die Schwiegermutter – kurzum alle, die mit ihnen einen gemeinsamen Haushalt führten. Und selbst wenn es nicht so war: in jenen Zeiten war es Gang und Gäbe, auf beliebige Art und Weise mit jemandem abzurechnen – an die große Glocke zu hängen, dass irgendjemandes Vater ein Entrechteter war. Kinder von Entrechteten wurden von der Uni gejagt, nicht selten auch aus der Schule. Man bemühte sich, Entrechteten und deren Familienangehörigen keine Arbeit zu geben und die, die in einem Arbeitsverhältnis standen – zu entlassen. Das taten sie auch dann, wenn es überhaupt keinen konkreten Hinweis gab: die Obrigkeit begriff auch so, dass Entrechtete die Umgebung „vergifteten“, dass man mit ihnen Unannehmlichkeiten bekommen würde. Für die unterschiedlichen Arten der Säuberungen gab es eine allgemein bekannte Formel –„der ganze Apparat ist von Entrechteten beschmutzt“.
Ein Entrechteter konnte seine Wahlrechte zurückerlangen, wenn er Loyalität gegenüber der Sowjetmacht bewies und sich mit gesellschaftliche nützlichen Tätigkeiten befasste. Für einen jungen Menschen gab es kein besseres Mittel seine Loyalität unter Beweis zu stellen, als sich öffentlich von seiner Familie loszusagen.
„In Darlegung meines Lebensprozesses teile ich mit, dass ich die Beziehung zu meinem Vater 1927 abgebrochen habe“.
„Ich bitte darum, meinen Antrag zu prüfen, da ich derzeit Sohn eines Vaters bin, dem das Stimmrecht entzogen wurde. Aber ich will nicht entrechtet sein; ich erkläre hiermit, die Verbindung zu den Eltern abbrechen zu wollen. Ich will kein Feind der Sowjetmacht sein, sondern mich als Arbeiter nützlich machen; ich bitte darum, mein Stimmrecht wiederherzustellen. Ich bin noch minderjährig, 15 Jahre alt, und ich kann es nicht ertragen, Feind der Sowjetmacht zu sein. Deswegen bitte ich darum, ich bitte Sie, mir das Stimmrecht wieder zu erteilen. Wenn Sie das gemacht haben, schicken Sie mir eine Antwort. Helfen Sie mir, damit man mich in die Kolchose „Weg zum Sozialismus“ aufnimmt“.
Wenn ein armes Bauernmädel einen Burschen aus einer wohlhabenden Familie heiratete, galt das als Glück. Das war ein sozialer Lift, der sie zu den Gipfeln des Wohlergehens hinauftrug. Und plötzlich rissen die Halteseile dieses Fahrstuhls, und er stürzte zur Erde. Die Ersten wurden plötzlich zu den Letzten. Und manche Frauen erinnerten sich ihrer Herkunft, versuchten sich scheiden zu lassen und schrieben tränenreiche Briefe ans Bezirks-Exekutivkomitee.
"Als ich 17 War heiratete ich, da ich als armes Bauernmädchen ein gutes Benehmen aufwies, einen Bürger aus der Ortschaft Jelnik <…>, Akim Michejewitsch, dem man das Stimmrecht entzogen und ihn ausgesiedelt hatte. Ich lebte mit ihm zehn Jahre, aber ich liebte ihn nicht, da ich aus einer verarmten Klasse war. Ich brach mit ihm die Lebensbeziehung im Beresowsker Bezirks-Exekutivkomitee, beim Standesamt, ab“.
Oder es kam umgekehrt vor, dass man eine fiktive Trennung vornahm, um wenigstens die Ehefrau mit den Kindern aus der Gefahr herauszubringen. Aber auch hier fanden sich Gutwillige, die schriftlich niederlegten, dass die geschiedene Ehefrau nachts in die Hütte des Ehemannes schlich, und der Ehemann seiner Frau mit Lebensmitteln und Heu behilflich war. Sie informierten die entsprechenden Stellen – und schon wurde die ganze Familie in die Verbannung geschickt.
So zerriss die Grundlage des bäuerlichen Lebens – die Familie, in der alles gemeinsam getragen wurde: Belastungen und Wohlergehen, das gesamte Schicksal. In der es immer jemanden gab, der sich für dich verbürgte, der dir in schwierigen Minuten unter die Arme greift. Der Sowjetmensch sollte nichts haben, an das er sich klammern konnte, - weder ein Stückchen Land, noch Besitz, noch eine Familie. Keinerlei Strukturen – lediglich eine gleichartige Masse, die man dorthin lenken konnte, wohin es für den Staat notwendig war, und ihn dann dort so billig wie möglich einzusetzen, im Idealfall – kostenlos. Übrigens ist das aber schon wieder eine andere Geschichte.
Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation
„Neue Zeitung“, 25. Januar 2017