Entrechtete verteidigen die UdSSR mit Waffen in den Händen
Der Sohn eines Entrechteten wurde, nachdem er die Volljährigkeit erreicht hatte, automatisch ebenfalls zu einem Rechtlosen; es gab darüber einen Eintrag in entsprechenden Listen. Allerdings hatte er nun auch das Einberufungsalter erreicht. Der junge Entrechtete wurde eingezogen, allerdings nicht in die Armee, sondern zur Landwehr im Hinterland, wo die Männer ausgesprochene wirtschaftliche Aufgaben erfüllten. Waffen gab man ihnen nicht in die Hände, was sich ganz besonders in den Bescheinigungen der Landwehrmänner des Hinterlandes widerspiegelt. Man kann sich nur vorstellen, wie kränkend es für so ein junges einberufenes Bürschchen gewesen sein musste, eine solche Bescheinigung in Empfang zu nehmen, wenn doch seine Freunde „normale“ Militärpässe der Roten Armee ausgehändigt bekamen. Dagegen waren die Atteste der Hinterland-Wehren von weißer Farbe, woher auch der Begriff „Weißkarten-Inhaber“ rührte, der in unseren Tagen einen ganz anderen Sinn bekommen hat (jemand, der aus gesundheitlichen Gründen für den Militärdienst nicht geeignet ist; Anm. d. Übers.). Genauso wie die Landwehr selber, welche 1937 in Bautrupps der Roten Arbeiter- und Bauern-Armee umorganisiert wurde, anders ausgedrückt „Bau-Bat“ (Bau-Bataillon; Anm. d. Übers.).
Nach 1928 erhöhte sich die Zahl der Entrechteten um ein Vielfaches, weil der Begriff „nicht durch Arbeit erworbene Einkommen“ ausgeweitet wurde. Ich habe das in den Bezirksarchiven gesehen: vor 1928 betrug die Anzahle der Entrechteten in einer Ortschaft – gerade einmal 1 Dutzend, aber später – enthielt diese Liste mehrere Seiten. Es kam zu Kollisionen, die früher unbekannt gewesen waren. Es war beispielsweise verboten, den Familien die Wahlrechte zu entziehen, deren Mitglieder in der Roten Arbeiter- und Bauern-Armee dienten. Lass Instruktionen ruhig Instruktionen sein, aber auf der Jagd nach Ergebnissen (auch für das eigene Konto) entzog man ihnen trotzdem die Wahlrechte. Während im Bezirk die Untersuchungen im Gange waren, teilten die eifrigen Jäger der Truppenführung mit, dass bei ihnen der Sohn eines Entrechteten diente. Es kam vor, dass dieser sich dann unverzüglich von einem Rot-Armisten sin einen Landwehrmann des Hinterlandes verwandelte – mit allen sich daraus ergebenden Folgen.
Mehrere Jahre wurden Hinterland-Wehren überhaupt nicht mobilisiert, sondern man erlegte ihnen lediglich zusätzliche Steuerlasten auf. Und ab Ende 1931 wurden sie dann nicht nur einberufen, sondern auch „mit vollem Programm“ für Arbeiten eingesetzt, die der verteidigungsstrategischen Bestimmung dienten. „Verteidigungsstrategisch“ – ein hinterlistiger Begriff, der sowohl den Bau von Straßen, als auch Arbeit in Schachtanlagen beinhaltete. Die Landwehrmänner des Hinterlandes hausten in unfertigen, in aller Eile errichteten Baracken, ihre Ernährung war um ein Vielfaches schlechter als die der freien Arbeiter. Im Großen und Ganzen lebten sie in einem Lager. Das Volkskommissariat er Verteidigung schloss Verträge mit den anderen Volkskommissariaten ab und stellte ihnen kostenlose Arbeitskräfte zur Verfügung.
Das war eine Tendenz der Zeit. Nachdem die Staatsmacht die NÖP (Neue Ökonomische Politik; Anm. d. Übers.) zerschlagen hatte, ging sie ernsthaft und für lange Zeit zum Einsatz von Zwangsarbeit über. Die Landwehren des Hinterlandes stellten nur einen geringen Teil dieses Prozesses dar. Die Maschinerie begann im Jahre 1929 zu arbeiten: es entstanden Besserungs-Arbeitslager, die Gefangenen wurden vom Volkskommissariat der Justiz in die Zuständigkeit der OGPU übergeben. Das Strafgesetz wurde immer grausamer; es gab den berühmten „Ukas über die drei Ähren“, den „Ukas über den Kampf gegen Spekulationen“, nach dem man 5-10 Jahre für den Handel mit Pastetchen bekommen konnte; ein Jungchen, das aus der Handwerker-Schule fortlief bekam eine Haft von bis zu einem Jahr aufgebrummt; wegen Verspätung am Arbeitsplatz konnte man mit Lagerhaft bestraft werden.
Im Wesentlichen spielten die Ermittlungsorgane die Rolle einer „Personal-Abteilung“, indem sie kostenlose Arbeitskräfte aussuchten, um mit ihnen volkswirtschaftliche Aufgaben zu erledigen. Die Sowjetbürger stellten sich pausenlos die Frage: „Weswegen?“ – obwohl die eigentliche Frage ganz anders lautete: „Wofür?“ Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.
Überreste des KrasLag. Fotot: Aleksander Kusnezow
Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation
Neue Zeitung. 01.02.2017