Dieses Bild stammt nicht – aus Auschwitz. Es handelt sich um einen Haufen Schnürschuhe im Lager Butugytschag an der Kolyma. Ich weiß nicht, warum diese furchtbar abgetragenen Halbstiefel sich alle an einer Stelle befinden, aber mir liefen während der Aufnahme pausenlos Schauer über den Rücken..
Der Lagerfriedhof in Butugytschag – das ist lediglich zusammengepresster Schotter, aus dem Pfähle mit angenagelten Deckeln von Konserven-Dosen herausragen, auf denen Nummern stehen. Das ist alles, was vom Menschen übrig geblieben ist – Pflöcke auf dem Friedhof und ein paar durcheinander geworfenen Schuhe.
Grab des unbekannten Gefangenen: ein Pfahl in der Erde, der Deckel einer
Konservendose und darauf eine Nummer.
Butugytschag – ein Ort des Schreckens, des Infernos, sogar ohne Lager. Es liegt eingeklemmt zwischen drei kahlen Hügeln. Der Schotter auf diesen Hügeln ist mit Moos überwachsen, das in der Sonne in einem hellen Grün schimmert; aber die Sonne braucht nur hinter einer schwarzen Wolke, auch wenn es nur eine kleine ist, verschwinden – dann fangen alle drei Hügel sogleich an, wie düstere, erdrückende Kolosse hervorzuspringen. Nicht umsonst gab Anatolij Schigulin, der in diesem Lager saß, seinem Roman den Titel „Schwarze Steine“.
Wir verweilten mehrere Tage in Srednij Butugytschag, und während der gesamten Dauer unseres Aufenthalts drang der Frost bis auf unsere Knochen durch. In Nischnij Butugytschag herrscht zudem eine starke Strahlung, und so bahnten wir uns unseren Weg so schnell wie möglich hindurch. Und Wjerchnij Butugytschag ist sehr gut aus dem Barackenfenster zu sehen, was davon spricht, dass eine Flucht von hier unmöglich war.
In Kolyma gibt es nur wenig Wald, daher wurden die Lager-Baracken
aus Stein gebaut
Es gibt kaum Wald an der Kolyma. Die Lager-Gebäude sind aus diesem Grund alle aus Stein gebaut. Das vermittelt ein zusätzliches Gefühl von Irrationalität. Es kommt die so vor, als befändest du dich bei Ausgrabungen in irgendeiner uralten römischen Stadt.
Im Hintergrund der halb verfallenen Baracken, die für Menschen errichtet wurden, schaut eine gigantisch große Manege hervor, welche der Lager-Kommandant für seine Pferde bauen ließ. Das Dach wurde nie fertig gebaut – die Zeit des „Tauwetters“ setzte ein. Aber die Wände sind solide, ein halbes Jahrhundert konnte ihnen nichts anhaben. Und sie werden noch ein weiteres Jahrhundert dastehen.
In Wirklichkeit handelt dieser Text nicht vom Butugytschag, sondern davon, weshalb wir nicht die Lehren aus der Geschichte gezogen haben, sondern das Schuljahr immer wieder nicht schaffen. Wenn Sie „Butugytschag“ in die Suchmaschine eingeben, dann sehen Sie hauptsächlich Materialien über das Uran-Bergwerk und über zersägte Schädel. Den heutigwn Spießbürger kannst du mit einem Haufen Häftlingsstiefel und kleinen Pflöcken auf dem Friedhof schon nicht mehr beeindrucken. Du musst ihm schon schrecklichere Horror-Szenarien vorsetzen – damit kennt er sich aus.
Das ist ja gerade das Schlimme. Als Ende der 1980er Jahre die furchtbaren Fakten über die Repressionen aufgedeckt wurden, als die Leute sich die Zeitungen mit den sensationellen Materialien gegenseitig aus der Hand rissen, schien es aus irgendeinem Grunde, dass es zu einem Massen-Umdenken, zu einer Gesundung und ähnlichem kommen würde.
Aber es kam nicht dazu. Die Schrecken des GULAG waren bestenfalls ein Horrorfilm, Nervenkitzel. Im schlimmstem Fall festigten diese schrecklichen Tatsachen lediglich die seltsame, entstellte Liebe zum Tyrannen – ja genau, ein echter, der nicht irgendein Vögelchen gegessen, sondern Millionen Menschen zugrunde gerichtet hat. Nicht wie die Heutigen…
Aber wenn wir die Emotionen einmal ganz ausschalten, dann fangen wir an, mit gesichtslosen Zahlen anstatt menschlichen Schicksalen zu operieren, das heißt wir arbeiten in der Logik eines totalitären Staats, in dem es Menschen… gar nicht gab, sondern Sklavenkräfte und „Schräubchen“. Auf dem Niveau der Emotionen ist Kolyma – ein Symbol des GULAGs, in unseren Köpfen sitzen dort Millionen zu Tode gequälter Gefangener ein, und die Stars der Chansons singen ebenfalls von Kolyma. Auf dem Niveau der Ziffern und Fakten kann man die heutigen Strafkolonien im Gebiet Magadan an den Fingen einer Hand abzählen, und es sitzen dort auch nur Hiesige. Was die GULAG-Zeiten betrifft: allein in der Kartothek der Magadaner Innenbehörde befinden sich ungefähr 800.00 Registrierkarten.
Aber für den Spießbürger zählt alles, was sich unter einer Million befindet, nicht. Er braucht Zahlenmit vielen Nullen, die jegliche Vorstellungskraft aus dem Rahmen sprengen.
Hat Kolyma aufgehört, ein Symbol des GULAG zu sein, weil es dort weniger als eine Million Gefangene gab? Ist Butugytschag kein grauenhafter Ort mehr, wenn dort keine Schädel gespalten wurden (und ich denke, dass man sie nicht zersägt hat)?
Für ein Umdenken und eine Sanierung ist es erforderlich, dass die Erkenntnisse mit dem Miterlebten harmonisieren und nicht nur mit Emotionen.
Doch mit dem Miterleben sieht es schlecht aus. Zu dem Zweck muss man sich in die Haut eines Gefangenen in Butugytschag versetzen, einfach einmal einen Tag seines Lebens durchmachen, in seiner innersten Gedankenwelt, wofür es nicht ausreicht, einfach nur dorthin zu fahren. Man muss eine Menge wissen. Die Kenntnisse darüber sind bei uns teilweise nicht nur schlecht, sondern sogar äußerst schlecht. Erwachsene Menschen haben in der Regel eine Vorstellung von den Repressionen auf dem Niveau von Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag. Die jungen Leute wissen bisweilen nicht einmal das; für sie sind die Repressionen nichts weiter, als ein Absatz in dem langweiligen Schul-Lehrbuch, dessen sie längst überdrüssig sind. Das ist es, was gegenwärtig so schrecklich ist…
Nebenbei bemerkt, obwohl es mich in Butugytschag auch gruselte und mir die Schauer über den Rücken liefen, brach ich dort nicht ein einziges Mal in Tränen aus. Die Tränen pressten ein paar gewöhnliche, vergilbte Papierchen aus mir heraus, welche ich in einem der Bezirksarchive entdeckte. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
Aleksej Babij, Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation
Fotos vom Autor
Neue Zeitung, 08.02.2017