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Befehl N° 44/21

Generalprobe für den Großen Terror: wie die OGPU den Prozess der „Entkulakisierung“ kontrollierte

In den Erinnerungen der Menschen, welche die „Entkulakisierung“ miterlebten, tauchen vorwiegend Dorf-„Aktivisten“ auf. Sie befassen sich mit unverhüllten Plünderungen und benehmen sich ganz besonders unverschämt. Auch die Milizionäre sind bemerkenswert. Kaum zu sehen sind die Dorfräte, und wenn sie in Erscheinung treten, dann höchstens in irgendeiner unverständlichen Rolle – als Beobachter und Kontrolleure. Die OGPU-Mitarbeiter bekommt man überhaupt nicht zu Gesicht.

Liest man die Dokumente der Entrechteten, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die „Aktivisten“ nehmen eine wichtige, jedoch unselbständige Rolle ein: sie erstellen Ausweisungslisten, übergeben sie an den Dorfrat und bitten diesen, die ausgefertigten Listen zu bestätigen. Ihre Aufgabe ist es, die Sache so aussehen zu lassen, als ob die Ausweisung eine Forderung des Volkes, von unten, sei. Aber sie erfolgt nicht sofort: die Liste muss von zwei Instanzen bestätigt werden. Zuerst muss der Dorfrat die von den “Aktivisten“ erarbeitete Liste bestätigen. Wenn auf den Versammlungen des „Armen-Aktivs“ jemand ohne weitere Begründung erklärt, dass bei einem Bauern Knechte beschäftigt sind, soll der Dorfrat der Akte eine entsprechende Bescheinigung beifügen (nach der Handschrift zu urteilen wurden diese nicht selten von ein und derselben Person geschrieben).

Der Dorfrat konnte auch Personen aus der Liste entfernen: so durften beispielsweise gemäß Instruktion keine ehemaligen roten Partisanen oder „Nazmen“ (Angehörige nationaler Minderheiten; Anm. d. Übers.) ausgewiesen werden. Aber die endgültige Entscheidung traf nicht der Dorfrat, sondern das Bezirks-Exekutivkomitee, genauer gesagt – eine Troika zur Ausweisung und Enteignung der Kulaken-Höfe, die sich aus dem Vorsitzenden des Bezirks-Exekutiv-Komitees, dem ersten Sekretär des Bezirkskomitees der All-Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und dem Leiter der Bezirks-OGPU zusammensetzte.

Aber wenn man sich die Dokumente sehr aufmerksam anschaut, sieht man ein völlig anderes Bild. Das Armen-Aktiv trifft nicht aus eigener Initiative zusammen. Es wird nämlich vielmehr vom vor Ort eingetroffenen Bevollmächtigten aus dem Bezirk einberufen. Dieser ist bereits im Besitz der Liste mit den für eine Ausweisung vorgesehenen „Kandidaten“. Die Aktivisten können dieser Liste noch jemanden hinzufügen, aber der Entwurf ist bereits im Bezirks-Exekutivkomitee festgelegt worden – ausgehend vom zu erfüllenden Ausweisungs-Plansoll. Alle notwendigen Informationen sind „im Bezirk“ vorhanden: Listen der Entrechteten nach Dorfräten geordnet, Angaben der Steuer-Kommissionen, bei der sämtliche Hofwirtschaften registriert sind.

Mehr noch, bei den Dorfratsversammlungen, die der „Regelung“ der Listen gewidmet sind, sitzt in der Regel auch der Bevollmächtigte aus dem Bezirk, und er sitzt dort nicht nur, sondern gibt den Anstoß zur „Inbetriebnahme“ und achtet darauf, dass alles auch wirklich in die richtige Bahn gelenkt wird.

Und schließlich ist da die Sitzung der Bezirks-Dreier- oder Fünfer-Kommission zur Ausweisung und Enteignung der Kulaken-Wirtschaften. Zu den Sitzungen werden Protokolle in mindestens drei Exemplaren gedruckt. So habe ich in den Bezirks-Archiven kein einziges Mal das erste dieser Exemplare gesehen. Immer nur das zweite oder dritte. Ich konnte nur vermuten, wohin das erste geschickt worden war. Aber einmal erhielt ich dafür eine Bestätigung: auf der letzten Seite stand: 1. Ex. – OGPU, 2. Ex. - Bez.-Exek.-Kom., 3. Ex. – Bez.-Kom. der Allrus. Kom.Partei (B). Da sieht man sofort, welche Institution in der Angelegenheit die wichtigste war.

Die Troika hatte vor der OGPU Rechenschaft über die durchgeführte Arbeit abzulegen.

Wenn man sich das alles aus der Sicht des OGPU-Befehls N° 44/21 vom 2. Februar 1930 ansieht, klärt sich das Bild endgültig. Die Ausweisung der „Kulaken“ ist nichts anderes, als eine Sonder-Operation der OGPU. Auf allen Etappen, beginnend mit der Erstellung der Listen und der Zusammenkünfte des „Armen-Aktivs“, ganz zu schweigen von der Organisierung der Ausweisung an sich, der Begleitung zu den Sammelpunkten usw., spielten Leute mit grauen Schirmmützen die Hauptrolle. Sie waren es, die den gesamten Prozess organisierten. Aber sie übten ihre Tätigkeit aus, ohne dabei im Rampenlicht zu stehen, so dass nicht sie in der Öffentlichkeit sichtbar waren, sondern die „Aktivisten“ mit den Dorfräten.

Die Operation laut Befehl N° 44/21 war die Generalprobe für den künftigen Großen Terror der Jahre 1937-1938, aber auch für die kommenden Massen-Deportationen. Gerade im Jahr 1930 wurden die Methoden ausgearbeitet, welche später in einem viel größeren Maßstab zur Anwendung gelangten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation

Neue Zeitung, 15. März 2017


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