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Ein Mensch, der lachte

Zu beiden Seiten des Stacheldrahtes war das Leben danach ausgelegt, die Persönlichkeit zu zerstören.
Und der Humor ist eines der Mittel, die Persönlichkeit zu bewahren


Iwan Iwanowitsch Jegorow

Anfang der 1990er Jahre hatte ich die Gelegenheit, beim Jubiläum des Chirurgen anwesend zu sein. Die Gäste waren durchweg alle Chirurgen. Nach dem dritten Gläschen (und natürlich trank man medizinischen Schnaps) machten sich die Chirurgen daran, alle nur erdenklichen amüsanten Fälle aus ihrem Chirurgenleben auszutauschen. Die Begebenheiten waren in der Tat ziemlich lustig, wenn man sie aus der Sicht eines Chirurgen betrachtet. Aber ich nahm das, was sie erzählten aus der Sicht des Patienten auf, so dass ich selbstverständlich nur mit leichtem Schaudern darüber lachen konnte und schließlich nach einer weiteren Geschichte nicht umhinkam, das köstlich gebratene, mit Buchweizengrütze gefüllte Ferkelchen in die Freiheit zu entlassen.

Aus irgendeinem Grund musste ich an das Ferkel denken, als ich Iwan Iwanowitsch Jegorows Lagergeschichten anhörte. Und er liebte es, sie zu erzählen. Da, so sagte er, war bei uns im Lager einmal ein „Stuten-Lenker“. Er schaffte es nicht, das Pferd anzuhalten, wenn es nötig war. Mal fuhr er damit in den Zaun, mal riss er mit den Rädern des Karrens ein Fass um. „N-n-o!“ – das konnte er sagen, aber „Tp-r-r-ru!“ nicht. „Warum denn nicht, Iwan Iwanowitsch?“ – frage ich. „Na ja, sie hatten ihm bei den Verhören die Zähne ausgeschlagen, und die, die übrigblieben fielen ihm aufgrund von Skorbut aus“, - meint Iwan Iwanowitsch und schüttelt sich vor Lachen.

„Und dann war da bei uns im Karla, - fährt Iwan Iwanowitsch fort, - noch Mischa Remisow, ein ehemaliger Offizier, der zehn Jahre dafür bekam, dass er die deutsche Technik so hoch gelobt hatte. Einmal wurde im Lager die Scheune geplündert, der Lagerleiter grämt sich: „Die japanischen Karpfen haben sie geklaut, die besten in der ganzen Welt!“ Mischa, der seine Lehren schon hinter sich hat, erwidert: „Herr Lagerleiter, die besten Karpfen der Welt – das sind die sowjetischen“! Schnell stieß der Leiter hervor: „Ja-ja-ja“.

Iwan Iwanowitsch selber wurde am 21. Juni 1941verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt, aber dann erschoss man ihn doch nicht: sie hatten ihn bereits dorthin gebracht, von wo die Menschen nicht mehr zurückkehrten, als sich plötzlich herausstellte, dass die Höchststrafe in 10 Jahre Erziehungs-/Arbeitslager und „5 Jahre auf die Hörner“ (Einschränkungen / Entzug von Rechten nach Absitzen der Lagerstrafe; Anm. d. Übers.) umgewandelt worden war, die er auch vollständig absaß. Auch von seiner nicht stattgefundenen Erschießung erzählte er lachend.

Zu beiden Seiten des Stacheldrahtes war das Leben so ausgelegt, dass die Persönlichkeit vernichtet wurde. Aber der Humor ist eine Mittel, um die Persönlichkeit zu erhalten. Das Gefühl von Humor ist die Fähigkeit, über den Dingen zu stehen, im Unangemessenen, in der Nichtübereinstimmung eine gewisse Komik zu sehen. Es gab jede Menge tragikomischer Situationen, denn im sowjetischen Leben existierten nur wenig Logik und gesunder Menschenverstand. Mal sperren sie einen Taubstummen wegen antisowjetischer Propaganda (er war angeblich angetrunken gewesen und hatte mit Gesten deutlich gemacht, dass es nichts zu essen gab), mal erschießen sie einen Staatsanwalt, der gestern noch mit einem lautstarken politischen Prozess befasst gewesen war, als Volksfeind, und dann wieder erklären sie den schlimmsten Feind zum besten Freund und bald darauf – zum Gegenteil.

Der beste Witz über die Verfolgungen der 1930er Jahre ist dieser hier. „Sitzen drei in der Zelle. „Weswegen sitzt du?“ fragen sie den Einen. „Weil ich, - so antwortet er, - Radek beschimpft habe“ (Karel Radek – sowjetischer Polit-Funktionär. Am 30. Januar 1937 zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, umgebracht im Wjerchneuralsker politischen Isoliergefängnis am 19. Mai 1939. – Red.). „Und ich, weil ich Radek gelobt habe“ – meint der Zweite. Der Dritte sagt: „Und ich bin Radek“. Es heißt, dass Radek sich den Witz selber ausgedacht hat, aber wie dem auch sei, er zeigt jedenfalls besser den Unverstand und die Gesetzlosigkeit des damaligen Rechtswesens auf, als mehrbändige Forschungsberichte.

Nicht umsonst wurden in der UdSSR Menschen ins Gefängnis gesteckt, weil sie Witze erzählt hatten: je mehr Humor ein Mensch besaß, umso mehr Freiheit und weniger Angst wohnten ihm inne. Ein Mensch mit Humor ist für einen totalitären Staat gefährlicher, als ein leidenschaftlicher Kämpfer. Ein leidenschaftlicher Kämpfer ist nämlich der Staat selbst, nur mit einem anderen Erkennungszeichen. Sie handeln alle nach dem gleichen Gesetz; deswegen werden aus flammenden Revolutionären grausame Tyrannen, und leidenschaftliche Opponenten erweisen sich plötzlich als … hervorragend in den vertikalen Machtaufbau eingebaute Strukturen.

Und der, der lacht – fällt aus dem Rahmen.

Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation

Neue Zeitung, 22. März 2017


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