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Maldokis‘ Madonna

Hier ein Lied für Sie über einen, der nicht gesungen hat.

Bis zur ehemaligen Siedlung Korbik kann man nur mit einem Geländefahrzeug gelangen, obwohl sie sich buchstäblich neben Krasnojarsk befindet. Wenn du dort inmitten des Sajan-Gebirges stehst, kommt es dir so vor, als ob es im Umkreis von hundert Kilometern keine einzige Menschenseele gibt — so still und menschenleer ist es dort. Aber damals brodelt dort das Leben, und Korbik selbst trug die einfache, aber herausfordernde Bezeichnung — Bezirksholzbeschaffungsstelle, denn es war ganz konkrete zur Holzbeschaffung erbaut worden. Das war nicht bloß eine Siedlung – sondern eine Sondersiedlung, denn dort lebten Sondersiedler.

Heute ist von Korbik nur noch der Friedhof erhalten geblieben. Dort sind nicht nur Litauer begraben worden, aber durchweg ist es ein litauischer Friedhof. Die übrigen Grabstätten sind verfallen, aber die litauischen Kreuze erheben sich stolz über dem Gelände. Mächtige, turmhohe Kreuze aus Kiefern- und Lärchenholz mit eingeschnitzten Vor- und Nachnamen. Inmitten der Kreuze — eine bemerkenswerte hölzerne Statue, die von den Ortsbewohnern „Korbiker Madonna“ genannt wird, wenngleich es sich in Wirklichkeit um die Skulptur der Magd Gottes, der Jungfrau Maria Maloninga (der Barmherzigen) handelt.

Die Geschichte der Skulptur begann im Jahr 1946. 16-jährige litauische Gymnasiasten erstellten eine Wand-Zeitung, die für antisowjetisch gehalten wurde. Die Gymnasiasten wurden zur Beendigung ihrer Ausbildung in Lager geschickt, unter anderem auch der Künstler Jonas Maldokis, der gemäß §58 zu 10 Jahren Lager und 5 Jahren Verbannung verurteilt wurde. Ihre Familien wurden nach Sibirien verschleppt, eben in diese Bezirksholzbeschaffungsstation, wo sie Bäume fällen mussten. Zehn Jahre später war die Lagerhaftzeit beendet, und Jonas wurde erneut ins Bezirksholzbeschaffungsrevier geschickt, um nun dort auch noch seine Verbannungsstrafe zu verbüßen. Zu der Zeit waren auf dem örtlichen Friedhof bereits zahlreiche litauische Gräber entstanden. Gottesfürchtige Frauen baten Jonas, aus Holz eine Skulptur der Magd Gottes, der Jungfrau Maria Maloninga, in Menschengröße zu schnitzen. Sie gaben ihm eine 6 x 9 cm große Ansichtskarte, und er schnitzte die Skulptur aus extra dafür herbei gebrachtem Kiefernholz. Die Schnitzerei war meisterhaft.

Der hervorragende Bildhauer schuftete 10 Jahre im Lager; danach war er gezwungen, in einer Möbelfabrik bei Krasnojarsk zu arbeiten, denn aus dem Status eines Sondersiedlers wurde er lange Zeit nicht entlassen. Die fünfjährige Verbannung endete erst 1961, und er verließ danach sogleich die Region Krasnojarsk; nach der Perestroika gelang es ihm, sich nach Litauen durchzuschlagen. Heute lebt der Bildhauer in Ukmerge, ist dort aber praktisch unbekannt. Selbst bei „Google“ kennt man ich nicht – dabei hätte er weltbekannt werden können.

Die Skulptur hat über ein halbes Jahrhundert gestanden. Während dieser Zeit wurde aus der Bezirksholzbeschaffungsstation die Siedlung Korbik, doch auch die ist inzwischen vollkommen verschwunden; die Verbannten, unter ihnen die Litauer, denen es gelang zu überleben – sind in die Heimat zurückgekehrt. Die Skulptur ist geblieben, allerdings fing sie an, von unten zu verfaulen. Am 11. September 2010 wurde von der litauischen Gesellschaft eine neue Skulptur aufgestellt, die in Litauen aus Eichenholz gefertigt wurde. Und Maldokis‘ Madonna steht jetzt in Vilnius, im Okkupationsmuseum.


Die Skulptur der Magd Gottes, der Jungfrau Maria Maloninga auf dem Friedhof in Korbik (die neue)

Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft
Neue Zeitung, 12. April 2017


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