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Familiensache

Die Sowjetmacht vernichtete sorgfältig die horizontalen Strukturen, sei es die Partei, gesellschaftliche Organisationen oder die Familie. Die Familie widerstand am längsten von allen.


Verbliebene Mitglieder der Familie Farafonow in Lipezk.
Drei Schwestern waren im Lager, eine – im Sonder-Kinderheim

Das Schicksal der Farafonows ist ziemlich typisch. Im Jahre 1930 – die „Entkulakisierung“. Teilweise, nach der dritten Kategorie: Haus und Land werden konfisziert, sie selbst jedoch nicht ausgewiesen. Kümmerlich schlugen sie sich bei verwandten durch, später begaben sie sich nach Lipezk, lebten in irgendwelchen Not-Unterkünften. Das Familienoberhaupt, Fjodor Andrejewitsch, wurde im Mai 1937 verhaftet, weil er „Kulak“ (Großbauer; Anm. d. Übers.) war und im Kirchenchor sang. Am 07.08.1937 verurteilte ihn eine „Troika“ im Gebiet Woronesch zum Tod durch Erschießen (das heißt er war einer der ersten, die auf Grund des Befehls 00447 erschossen wurden, - die Operation begann am 5. August).

Aber das erfuhren sie erheblich später, damals wussten sie nichts. Sie holten den Vater – und er verschwand spurlos. Die Mutter verlor praktisch den Verstand; viele Male versuchten die Angehörigen, sie in eine Klinik für psychisch Kranke zu bringen, doch 1939 wurde die Mutter verhaftet, verurteilt und mit einer Etappe nach Taischet verschickt; von dort kam sie nach Komsomolsk, wo sie auch starb. Sohn Michail wurde zusammen mit der Mutter verhaftet; er saß in Tschukotka 10 Jahre ab. Die Töchter Anastasia und Maria wurden verhaftet und verbüßten ihre Strafe im Gebiet Tscheljabinsk. Die jüngsten Kinder – Aleksander, Pelageja und Jekaterina – kamen in ein Kinderheim. Kaum war Pelageja aus dem Kinderheim wieder entlassen, wurde auch sie im Dezember 1943 verhaftet. Sie war gerade erst 16 Jahre alt. Es folgte die Kolyma: Siedlung Sporny, Susuman, Neksikan. In Neksikan gab es ein Geburtshaus – Frauen besaßen den Mut, schwanger zu werden, um wenigstens vorübergehend der Schwerstarbeit zu entrinnen. Die Kinder wurden in Krippen oder Kindergärten gegeben. Hatte eine Frau keine große Haftstrafe zu verbüßen, konnte sie das Kind bei der Freilassung zu sich nehmen. Aber wenn es sich um eine langjährige Strafe handelte, kam das Kind in einen Kinderhort.

Im Herbst wurde das Gewächshaus vorübergehend stillgelegt, und man schickte die gefangenen Frauen zur Brennholz-Beschaffung. Pro Tag mussten sie 3 Kubikmeter Bruchholz sammeln. Wenn man berücksichtigt, dass es im Bezirk Susuman praktisch nichts wächst außer Lärchen und Erlen, war das eine schwierige Aufgabe. Aber dafür konnte man dort nach Herzenslust Preiselbeeren essen, die es direkt unter dem Schnee gab. Die Haftstrafe war beendet, doch die Freiheit war noch 2eine Ewigkeit nicht in Sicht“. Pelageja geriet hier als „Wiederholerin“ in „ewige“ Verbannung.

Nach 1954 fand sich die Familie wieder zusammen. Zu Pelageja in Susman kam der freigelassene Michal. Die jüngste Schwester Jekaterina geriet direkt aus dem Kinderheim in âøó Ansiedlung. Später holten die älteren Schwestern sie sowie eine weitere Schwester zu sich, doch es gelang nicht, nach Lipezk zurückzukehren: dort wurden sie immer noch als Volksfeinde schief angesehen. Und sie erhielten auch keine Anmeldegenehmigung: in ihrem Ausweis befand sich ein Stempel, der in den Personalabteilungen mit äußerstem Misstrauen begutachtet wurde.

Sie fuhren nach Jenisseisk, wo diese Stempel zur Gewohnheit gehörten, und hier bekamen die Farafonows Arbeit und durften sich polizeilich anmelden. In Jenisseisk kam indessen die Familie Titow wieder zusammen (Angehörige der Mutter). In die Verbannung nach Jenisseisk geriet nach seiner Lagerhaft auch Onkel Iwan, später „zogen“ sich an ihm, nach verbüßter Verbannungs- und Lagerstrafen, auch die Kusinen und Vettern „hoch“, und nun auch die verbliebenen Familienmitglieder der Farafonows. Sie ließen sich nieder, richteten ihr Leben ein, wobei sie sich gegenseitig halfen und eine schützende Schulter boten.

Wenn man über die Familie als Grundlage der Gesellschaft spricht, muss ich immer an die Farafonows und Titows denken. Zwanzig Jahre lang wurden ihre Mitglieder unerbittlich vernichtet: sie wurden erschossen, man quälte sie in Lagern und ließ sie hungern, man riss sie in Stücke, verschleppte sie an Orte, die zum Leben wenig geeignet waren. Doch sie regenerierten sich beharrlich, fanden sich erneut in einem vereinten lebenden Organismus zusammen, setzten sich der tödlichen Macht des Staates durch ihre lebendige Kraft zuwider. Und siegten.

Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation

Neue Zeitung, 19.04.17


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