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Der Aufstand eines lettischen Schützen

Die Menschen begaben sich ergeben zur Schlachtbank in der Hoffnung auf Besseres. Doch es gab auch Ausnahmen.

Aleksander Solschenizyn; der im „Archipel GUKAG“ die Verfahrensweise bei der Verhaftung beschrieb, ruft traurig aus: „Widerstand! Wo war euer Widerstand? – werden jetzt die Leidtragenden von denen gescholten, die wohlbehalten weiterlebten.

Ja, er hätte gleich einsetzen sollen, schon bei der Verhaftung.

Aber das tat er nicht“.

Ja, er tat es nicht. Die Menschen begaben sich ergeben zur Schlachtbank, in der Hoffnung auf Besseres. Ganz seltene Ausnahmen bestätigen dennoch die Regel. Von einer dieser Ausnahmen will ich auch sprechen.

Rodion Petrowitsch Liber, geboren 1905, Lette, diente bei den NKWD-Grenztruppen in der Autonomen Republik Altai, Altai-Gebiet (heute Autonome Altai-Republik). Er war Gehilfe des Stabsleiters der 28. Grenzeinheit (Oirotsker Kavallerie-Grenz-Einheit) im Rang eines Ober-Leutnants. 1937 schloss man ihn „wegen Verbindung zu Volksfeinden“ als Kandidat für die Mitgliedschaft in der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) aus und entließ ihn aus der Grenzeinheit. Allerdings befahlen sie ihm zu guter Letzt noch, die Dokumente zum Gebietsstab in Nowosibirsk zu bringen. In Wirklichkeit war das erforderlich, um ihn ohne große Scherereien in Nowosibirsk verhaften zu können und ihn nicht erst von weit weg eskortieren zu müssen. Im Dezember 1937 waren die Mitarbeiter des Nowosibirsker NKWD ohnehin schon mit Arbeit überlastet: der Plan die festgesetzten Limits zu erfüllen war in vollem Gange.

Sie verhafteten ihn als „lettischen Spion“. In der Anklageschrift heißt es: „Durch die NKWD-Behörde des Nowosibirsker Gebiets wurde eine nationalistische aufständische Spionage- und Sabotage-Organisation aufgedeckt, die von der lettischen Aufklärung auf dem Territorium des Nowosibirsker Gebiets von Letten und Latgalen gegründet wurde“. Beim NKWD gehörte es zum guten Ton, nicht nur einzelne „Antisowjets“ zu ergreifen, sondern auch weit verzweigte Spionage-Organisationen zu enttarnen. Und Sibirien war voll von Letten und Latgalen; sie waren aufgrund der Stolypin-Reform noch vor der Revolution dorthin umgezogen. Versteht sich von selbst, dass dies in der Absicht geschehen war, nach der Revolution Spionage- und Sabotage-Organisationen ins Leben zu rufen (das ist kein Witz! Ich habe tatsächlich so eine Formulierung in einer Akte gefunden).

Die Akte führte der Bevollmächtigte der 5. Abteilung der NKWD-Behörde und Sergeant der Staatssicherheit Mikow. Rodion Petrowitsch wies sämtliche Anschuldigungen zurück und setzte Mikow schließlich schlicht und ergreifend mit einem Schlag des Briefbeschwerers außer Gefecht, entwendete dessen Pistole, schoss ihm in den Kopf und eröffnete das Feuer auf die ins Kabinett stürzenden NKWD-Leute. Als die Patronen zu Ende waren, setzte er den Kampf mit den bloßen Fäusten fort und brach dem Ober-Leutnant der Staatssicherheit Budkin eine Rippe.

Allerdings herrschte ein ungleiches Kräfteverhältnis. Nun wurde er schon von der gesamten Abteilung „verhört“. Liber bedauerte nur eine Person angeschossen zu haben. Und tatsächlich kamen alle mit ihren Verletzungen glimpflich davon, sogar Mikow, nachdem er aus nächster Nähe in den Kopf getroffen worden war.

Gegen Morgen unterschrieb Rodion Petrowitsch alles. Zum § 58-1b (Vaterlandsverrat) und 58-11 (Mitgliedschaft in einer antisowjetischen Gruppe) brummten sie ihm noch den § 58-8 (Terrorismus) auf und erschossen ihn natürlich.

1957 wurde er in allen Punkten rehabilitiert, unter anderem auch im Punkt „Terrorismus“. Das Kriegsgericht des Sibirischen Wehrkreises resümierte: „In der Anklage wegen Terrorakten und Verleumdung der Parteiführung und Regierung wurde LIBER nicht verhört, diese Anklage wurde ihm nicht vorgeworfen. Die Gründe für LINERs Überfall auf einen NKWD-Mitarbeiter während des Verhörs wurden nicht weiter untersucht“.

So endete diese verzweifelte Rebellion. Natürlich konnte Liber an seinem Schicksal schon nichts mehr ändern. Wenngleich, wie McMurphy in Ken Keseys Roman sagte, „ich es, verdammt nochmal, zumindest versucht habe!“

Aleksej Babij
Vorsitzender des Krasnojarsker „Memorial“

Neue Zeitung, 26. April 2017


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