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Die Beschützerin

Daran, welche Denkmäler aufgestellt und welche vernichtet werden, kann man ablesen, in welche Richtung das Land sich bewegt.

Die 2000er Jahre sind in diesem Sinn äußerst charakteristisch: im Land werden gleichzeitig sowohl Denkmäler für die Opfer der politischen Repressionen als auch für Stalin errichtet. Die Geschichte dieser Gedenkstätten ist – eine Geschichte der Widersprüchlichkeit.

Am 28. August 1950 brachte man ukrainische Familien, die aus dem Gebiet Rowno „wegen Begünstigung der Bandera-Anhänger“ ausgewiesen worden waren, ins Babik-Tal nach Chakassien. Zur damaligen Zeit war das eine ganz gewöhnliche Angelegenheit: das Prinzip der kollektiven Verantwortung wurde von der Sowjet-Macht ab dem ersten Tag ihrer Existent praktiziert. Ebenso wie die Missachtung der Gesetzgebung, sogar der eigenen: es gab keinerlei Gerichtsverhandlungen, ein Schuldnachweis fand nicht statt. Irgendjemand nahm einen anderen fest und beschloss, ihn mit seiner Familie auf administrativem Wege auszuweisen.

Fünfhundert Menschen, einschließlich Kinder, wurden an einem kahlen Ort abgesetzt. Ihre Aufgabe: das Majnsker Kupfer-Bergwerk mit Holz zu versorgen. Nicht so sehr mit ganzen Baumstämmen, als vielmehr mit Klein- und Brennholz, weil das Bergwerk nicht auf Basis von Kohle, sondern mit Holz arbeitete. Im Babik-Tal entstand eine ganze Siedlung. Die Umsiedler waren sogar so mutig, sich dort einen Garten anzulegen. Mitte der fünfziger Jahre wurde die Sonderansiedlung abgeschafft, und sie wären gern in die Heimat zurückgefahren, doch dort wartete niemand auf sie. Ihre Häuser waren von anderen Bewohnern belegt, und es gab für sie keine Arbeit. Also kehrten sie wieder zurück.

In den sechziger Jahren wurde das Kupfer-Bergwerk stillgelegt; dafür begannen sie mit dem Bau des Sajan-Schuschensker Wasserkraftwerks, und Majna wurde zu seiner „Hauptstadt“. Die Menschen zogen nach Majna, die Siedlung Babik verschwand. Als ich im Jahr 2005 dort war, erinnerte nichts mehr daran, dass hier irgendwann einmal Menschen lebten, mit Ausnahme des Denkmals der Beschützerin, das 2000 auf Initiative des Vorsitzenden des Sajanogorsker „Memorial“ – Oles Grek – dort errichtet wurde. Der Autor der Skulptur Andrej Sekunda bildete als Beschützerin Anna Krawtschuk ab, die Babik als letzte verlassen hatte.


Autoren-Foto

Und danach begannen sich um die Gedenkstätte die Ereignisse zu entwickeln. Mitunter gute, manchmal war auch das Gegenteil der Fall.

Im Tal des Babik gab es eine Weide, und die Kühe düngten ständig die weite Fläche um die Skulptur. Oles Grek wandte sich an die Behörden, damit sie eine Einzäunung veranlassten, doch die Behörden hatten es damit nicht eilig. Einmal entdeckte er, dass die Einzäunung errichtet war, und was für eine schöne, stabile, an den oberen Enden dreigezackte. Es stellte sich heraus, dass die Behörden damit gar nichts zu tun hatten. Buchstäblich neben Babik hatte Oleg Deripaska ein Viersterne-Hotel für den Bergski-Komplex Gladenkaja gebaut und (Ironie des Schicksals!) zu diesem Zweck eine Bau-Brigade aus Lwow eingestellt. Schon in den allerersten Tagen bemerkten diese Bauarbeiter die Beschützerin, wunderten sich, brachten das angrenzende Territorium in Ordnung und errichteten die Einzäunung.
Wie denn die Beschützerin dort auch in ihrer Unantastbarkeit dastand, so brachte gerade die Nachbarschaft des Ski-Kurorts Probleme mit sich. 2009 wurde das Denkmal in barbarischer Weise zerstört: man schlug der Figur Kopf und Hände, riss die Einzäunung nieder. Ob dies einfach durch rowdyhaftes Benehmen wegen Trunksucht so gekommen war oder sich bei den Ski-Touristen Patriotismus breit- gemacht hatte – das lässt sich jetzt nicht mehr feststellen. Die Zeiten waren bereits andere geworden. Siebzigtausend für die Wiedererrichtung des Denkmals konnten nur mit Mühe aufgetrieben werden. Die Beschützerin steht wieder da – fast so, wie sie vorher aussah, wenngleich ohne Einzäunung.

Ein Krieg des Gedenkens ist im Gange, ein Tauziehen, ein ständiger Positionskampf. In die Karte werden unsichtbare Fähnchen gesteckt. Wenn in irgendeiner Stadt ein Denkmal zu Stalins Ehren aufgestellt wird, bedeutet es, dass in dieser Stadt eine Anhöhe bereitgestellt wurde, und wir müssen zurückweichen. Und umgekehrt: wenn es gelingt ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen zu errichten – dann haben wir es geschafft, wenigstens eine kleine Anhöhe zu erklimmen.

Und so geht es nicht nur mit den Denkmälern: jede auch noch so geringe Position besitzt Bedeutung. Jeder hat seine kleine Erhöhung, die es gilt, bis zum Letzten zu verteidigen. Und wenn die Möglichkeit besteht, dann sollte auch ein neues Fähnchen gesetzt werden.

Aleksej Babij
Vorsitzender des Krasnojarsker „emorial“

Neue Zeitung, 3. Mai 2017


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