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Weshalb die Geschichte der stalinistischen Repressionen neu geschrieben werden muss

Sergej Prostakow — über die Bedeutsamkeit der Erfahrung der Organisatoren des GULAG-Aufstands für die heutige russische Zivil-Gesellschaft

Am vergangenen Sonntag traf aus der Ukraine eine traurige Nachricht ein — über das Ableben von Jewgenij Grizjak, einen der Anführer des Norilsker Häftlingsaufstands im Jahre 1953. Er war 90 Jahre alt geworden.

Der Ukrainer Grizjak und der Russe Boris Schamajew sind die berühmtesten Anführer des Aufstands in Norilsk. Grizjak wurde 1926 geboren, er war Mitglied des Jugendflügels der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN). Während der Rückkehr der Roten Armee in die West-Ukraine wurde er mobilisiert; den Krieg beendete er in der Tschechoslowakei. Er erhielt zahlreiche Kriegsauszeichnungen. Aber 1949 erfuhren die sowjetischen Sonderdienste von seiner Vergangenheit — Grizjak wurde verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt; das Urteil wurde nach damaliger Gesetzgebung in 25 Jahre Straflager geändert. Boris Schamajew wurde 1918 geboren. Er geriet im Sommer 1941 in Gefangenschaft. In deutschen Konzentrationslagern war er Mitglied des Untergrunds, organisierte Fluchtversuche von Gefangenen. 1945 bekam er 20 Jahre Zwangsarbeit „wegen Vaterlandsverrats“».


Jewgenij Grizjak. Quelle: ukrinform.ru

Aber man kann nicht sagen, dass die Schicksale von Grizjak und Schamajew sich besonders von den anderen Häftlingen der Nachkriegszeit unterschieden. Nachdem der Krieg 1945 zu Ende war, erwies er sich nicht nur als größte Tragödie für das Land und die erste vollständige sowjetische Generation Grizjaks und Schamajews. Nach der Vernichtung der Zivilgesellschaft in den 1930er Jahren, der kompletten Unterdrückung des autonomen gesellschaftlichen Lebens stellte die Grenzlinie zwischen Leben und Tod auch den einzigen verfügbaren Freiheitsraum im Lande dar. Es ist offensichtlich, dass Menschen, die sich an den Tod gewöhnt haben, den Staat viel weniger fürchten. Aus den Soldaten und Offizieren, die den Krieg mitgemacht und das Leben in Europa gesehen hatten, formierten sich neue Züge mit Gefangenen. Doch sie erwiesen sich auch als «Zeitbombe»: diese Häftlinge werden zu den Anführern und Mitwirkenden des Aufstands im GULAG.

Nicht das Jahr 1937

Stalins Tod im März 1953 kurbelte im Land unumkehrbare Wandlungen an. Die GULAG-Memoiren unterschiedlicher Autoren bezeugen: dass das gesamte System auf einem einzigen Mann ruht; sie begriffen: wenn auch nicht alle, so doch sehr viele. Und tatsächlich wurde schon bald darauf eine Amnestie verkündet. Allerdings war sie nicht auf die Hauptopfer des Regimes ausgerichtet - „Konterrevolutionäre“, die nach § 58 des Strafgesetzes verurteilt worden waren. Wenn Veränderungen eintraten, dann nur sehr langsam. Doch auch das vorherige System der Wechselbeziehung zwischen Häftlingen und Lager-Wachen konnte sich so nicht fortsetzen. Die Geführten empfanden einen «Willen».
In Norilsk gab es fast keine Straftäter, und deswegen betraf «Berijas Amnestie» praktisch keinen der Gefangenen in den örtlichen Lagern. Die örtliche GULAG-Außenstelle, der Gorlag, errichtete das Bergbau- und Metallurgie-Werk sowie das zukünftige Norilsk. Die Häftlinge auf dem Bau arbeiteten 10-12 Stunden täglich, und die Lager-Leitung kümmerte sich wenig um den Alltag der Gefangenen — hierhin brachte man sie zum Sterben. Der Tod des Diktators führte für einen Moment zu Gärungsprozessen, welche die Gefangenen, mehr als andere, begünstigten, die bereits den Krieg erlebt hatten. Die Lagerverwaltung bemerkte das. Unverzüglich erfolgten Gegenmaßnahmen: verdächtige Häftlinge wurden erschossen und während der Verhöre getötet.


Flugblatt der aufständischen Häftlinge des Gorlag. Norilsk, Juni 1953.
Foto: gulagmuseum.org

Aber das war nicht das Jahr 1937 und auch nicht das Jahr 1945 —es geschah bereits im Mai 1953, dass die Häftlinge den Streik erklärten. Die Lager-Verwaltung kollidierte mit der Tatsache, dass sie auch in der späten Stalin-Zeit keinem organisierten Widerstand begegnet war. Mittels illegaler Lagerpost schlossen sich alle neuen Lagerzonen dem Streik an. Die Häftlinge forderten nicht nur eine Verkürzung des Arbeitstages und eine Verbesserung der Alltagsbedingungen, sondern auch eine vollständige Revision ihrer Akten nach § 58, die Entfernung der demütigenden Häftlingsnummern von der Kleidung, die Entlassung der Invaliden und Ausländer aus den Lagern und das Abmontieren der Gitter von den Baracken. Insgesamt nahmen an dem Streik bis zu 30 Tausend Menschen teil (nach anderslautenden Angaben — 15 Tausend); von der Größenordnung her verwandelte sich der Streik in einen Aufstand. «Das großartige Bauwerk des Sozialismus» inmitten des ewigen Eises erhob sich. Und trotzdem bargen diese Ereignisse seitens der Gefangenen einen friedlichen Charakter in sich.

Neben Grizjak und Schamajew befanden sich in der Führung des Häftlingsaufstands der ehemalige Partisan und professionelle Saboteur Iwan Worobjew, Oberst Pawel Filnew, die Ukrainerin Aleksandra Selenskaja, die wegen der Versorgung ukrainischer Aufständischer mit Lebensmitteln inhaftiert worden war.

Erst Anfang August gelang es, die Aufständischen zu bändigen. Die Ereignisse in Norilsk gingen als die längsten jemals im GULAG stattgefundenen Geschehnisse in die Geschichte ein. Im Verlauf der Niederschlagung wurden nach unterschiedlichen Angaben zwischen 200 und 400 Gefangene getötet. Aber bezeichnend war, dass die Leitung von MGB und MWD bereits gezwungen war, in Verhandlungen mit den Aufständischen überzugehen, denn immer noch wusste niemand, was tatsächlich nach Stalins Tod passieren würde. Nicht weniger bezeichnend war, dass die Anführer des Aufstands lediglich durch Verbringung in den Strafisolator oder Verprügeln «davonkamen».

Grizjak wurde 1956 freigelassen, dann aber erneut im Jahre 1959 wegen desselben Falls inhaftiert – man verzeih dem « Banderow-Anhänger» die Beteiligung in der jungen OUN nicht. Wenngleich Grizjak an der Dissidentenbewegung nicht teilnahm, stand er bis ganz zum Ende der Sowjetherrschaft unter der ständigen Bedrohung einer Verhaftung. Schamajew wurde erst 1968 freigelassen. Er lässt sich im kasachischen Alma-Ata nieder, wo er 1998 stirbt.

Man muss schreien!

Der Norilsker Aufstand — ist nicht der einzige, der sich nach Stalins Tod im GULAG ereignete. Zeitgleich mit Norilsk verlief nach einem ähnlichen Szenario der Häftlingsaufstand in Workuta. Wobei der bekannteste der Aufstand im kasachischen Kengir im Jahre 1954 war. Er war nicht der längste, aber während er im Gange war, versuchten die Gefangenen das Abbild einer eigenen «Republik» innerhalb des Landes zu gründen. Opfer der Niederschlagung des Kengir-Aufstands waren zwischen 40 Menschen nach offiziellen bis zu 500 Mann nach inoffiziellen Angaben. Einige Monate später stellte ein Untersuchungsverfahren fest, dass für eine Gewaltanwendung keinerlei Notwendigkeit bestanden hätte.

Diese Aufstände waren zweifellos nicht die einzigen in der Geschichte des GULAG und erst recht nicht die einzigen Beispiele für den Widerstand gegen den sowjetischen Autoritarismus während der gesamten Dauer seiner Geschichte. Allerdings nehmen sie im gesellschaftlichen Bewusstsein einen erheblich geringeren Platz ein, als sie eigentlich verdienen.


Alexander Solschenizyn nach dem verlassen des Lagers im Jahre 1953. Quelle: kulturologia.ru

Alexander Solschenizyn stellt sich schon ganz am Anfang seines epischen „Versuchs einer künstlerischen Untersuchung“ - «Der Archipel GULAG» - die zentrale Frage seiner Überlegungen über die sowjetische Repressionsmaschinerie: «Da also – bringen sie uns hin. Beim täglichen Arrest gibt es unbedingt diesen kurzen, einmaligen Augenblich, wenn sie euch — implizit, aufgrund einer feigen Absprache, oder ganz offenkundig, mit gezückten Pistolen— durch die Menge führen, zwischen hunderten ebensolcher Unschuldigen und Verdammten hindurch. Und euer Mund ist nicht verschlossen. Und ihr könntet und müsstet unbedingt SCHREIEN! Schreien, dass ihr verhaftet seid! Dass verkleidete Bösewichter Menschen fangen! Dass es reicht mit den erlogenen Denunziationen! Dass hier eine schreckliche Abstrafung von Millionen Menschen vor sich geht! Und wenn unsere Mitbürger diese Schreie viele Male am Tag und in allen Teilen der Stadt hörten – würden sie sich dann aufsträuben? Vielleicht waren Arreste nicht so leicht zu nehmen?!». Und später füllt Solschenizyn zweieinhalb Tausend Seiten des «Archipel GULAG» mit Beschreibungen nicht nur von Leid und Misshandlungen, sondern auch vom Widerstand gegen das System.

Solschenizyns wichtigstes Buch wurde von ihm in den 1960er Jahren geschrieben, als sich in groben Zügen bereits eine Vorstellung über den stalinistischen Terror herausgebildet hatte, in dessen Gefangenschaft wir uns bis heute befinden. 1956 unternahm Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU einen historischen Schritt: zum ersten Mal in der Geschichte entlarvte sich das System selbst und bekannte faktisch seine Schuld an den begangenen Verbrechen. Allerdings mit einem entscheidenden „aber“: die Verbrechen, die das System begangen hatte, hatten sich gegen unschuldige Menschen gerichtet. Zum Kreis der Freigesprochenen gehörten keine Menschen, die nach sowjetischen Maßstäben Verbrecher waren — die in Wort oder Tat, mit Waffen in den Händen oder auf friedliche Art und Weise den Bolschewiken durch einen Streik Widerstand entgegengesetzt hatten. Daher wurde die Geschichte der stalinistischen Repressionen langsam zu einer Erzählung darüber herabgewürdigt, wie man sowjetische Bürger zur Schlachtung getrieben hatte, ohne dass sie Widerstand geleistet hätten. Widerstand gegen die Bolschewiken wurde aus der verbreiteten offiziellen Version ausgeschlossen.

Dieser katastrophale Riss in unserer historischen Erinnerung wurde auch durch die Veränderungen nicht erschüttert. Bei den meisten Russen vollzog sich noch zu Sowjetzeiten eine Aussöhnung mit den «Weißen»: eben jener Solschenizyn verwendete die treffsichere Formulierung, dass «die unseren gegen die eigenen Leute kämpften». Ein solcher Standpunkt weitet sich niemals auf die Kollaborateure des zweiten Weltkriegs aus — sie gingen in die Geschichte nicht so sehr als Krieger gegen Stalin, sondern vielmehr als offenkundige Verräter in dem Vernichtungskrieg ein. Die kleineren Beispiele des Widerstands zu erwähnen, darauf kommt man gar nicht erst – si wurden, offen gesagt, von den meisten Russen „vergessen“.

Doch eine ähnliche Situation Bedarf der Korrektur. Heute, da die zivile Gesellschaft auf den stärksten Druck seitens des Staates seit den Sowjetzeiten stößt, ist es unerlässlich, positive Beispiele in der Vergangenheit zu suchen. Ja, in der vaterländischen Geschichte gibt es viel zu wenig überzeugende Beispiele für die Erfahrung von Freiheit. Ohne Mühe kann man sie als ewiges Zarenreich des Autoritarismus beschreiben. Aber so groß auch die autoritäre Tradition ist, so bedeutsam ist auch die Tradition des Widerstands gegen sie. Sowohl der Norilsker Aufstand, als auch seine Organisatoren sind ein Beispiel dafür, dass weder in der Geschichte, und noch nicht einmal heute, alles so hoffnungslos ist, wie es bisweilen scheint.

Sergej Prostakow
„Offenes Russland“, 15.05.2017


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