Über eine Realität, die schrecklicher ist als alle Mythen
Falls Sie der Weg einmal nach Jenisseisk führen sollte, dann fahren Sie nicht einfach an dem wunderschönen Spassker Kloster vorüber. Und falls einer der Ortsansässigen Sie begleitet, wird er Ihnen ziemlich bald davon erzählen, dass dieses Kloster in den 1930er Jahren als Filiale des NKWD-Gefängnisses genutzt wurde, dass man hier auch Erschießungen durchführte und die Erschossenen ebenfalls hier bestattete (unlängst hat man wieder einmal einige Knochen in einem Keller ausgegraben). Und dass das NKWD dieses Gebäude mit seinem Stempel kennzeichnete – dort ist er, in der Klostertreppe – an der Stelle, wo man ihn am besten sieht.
Und tatsächlich ist in die Klosterwand ein rundes Metallstück von zehn Zentimeter Durchmesser eingelassen, und darauf stehen die Buchstaben „NKWD UdSSR“.
Aber wenn man die Aufschrift vollständig liest, sieht das so aus: „GUGSK UdSSR 2180“. GUGSK — das bedeutet Hauptverwaltung für geodätische Aufnahmen und Kartographie, welche von 1935-1938 zum Bestand des NKWD gehörte. Und der «Stempel des NKWD“ — das ist lediglich ein geodätisches Zeichen, ein großer gusseiserner „Knopf“, den man mit der Spitze in Wände, Steine, usw. einschlug. Das Kloster steht auf einer Anhöhe, die Wand ist von Weitem sichtbar, sogar vom gegenüberliegenden Ufer des Jenisseis. Eine bessere Stelle für einen Nivellierungspunkt findest du nicht. Trotz der bedrohlichen Aufschrift hat dieses Zeichen keinerlei Bezug zur Strafpolitik. Vielleicht waren Verhaftete irgendwann einmal auch in diesem einstigen Kloster inhaftiert. Aber das steht in keiner Verbindung mit dem Zeichen in der Wand.
Die Abkürzung wurde zum Symbol. Der Poet — Puschkin, die Frucht — ein Apfel, die Erschießungen — das NKWD. Dabei war Puschkin — tatsächlich ein Poet, der Apfel ist — wirklich eine Frucht, und beim NKWD wurden wahrhaftig Menschen erschossen. Allerdings handelt es sich beim NKWD um eine gigantische Struktur, die die unterschiedlichen Funktionen ausübte, von Strafmaßnahmen bis hin zu rein „zivilen, bürgerlichen“. Sie befasste sich nicht nur mit Inhaftierungen nach § 58, sondern auch mit dem Einfangen wirklicher Banditen. Doch auf ihr liegt eben dieser Stempel, welche auf immer und ewig die Abkürzung NKWD mit den politischen Massen-Repressionen in Verbindung brachte. An dieser Organisation klebt so viel Blut, dass alles damit übergossen ist, was sie getan hat, selbst das Notwendige und Nützliche. Deswegen löst das unschuldige geodätische Zeichen gruselige Assoziationen aus.
Die Realität ist schrecklicher als Mythen. Ich weiß nicht, wessen Knochen sich im Kloster befanden, aber beim Bau des Umspannwerkes in Jenisseisk im Jahre 1975 wurde ein Massengrab mit Toten entdeckt, die 1937-1938 erschossen worden waren. Nachdem das Gerücht sich schnell verbreitet hatte, kam sogar eine alte Frau aus dem Nachbardorf und bat unter Tränen um die Erlaubnis, ihren Mann finden zu dürfen, der im Jahre siebenunddreißig umgekommen war. Der Leiter des Bauvorhabens erteilte die Anordnung, die sterblichen Überreste in den Sumpf zu werfen. Mit einem Bagger wollte die erste Partei in einen hölzernen Korb verladen und anschließend mit Hilfe eines Bulldozers weit entfernt in den Sumpf verbringen lassen. Man war bereits dabei, den zweiten Korb zu füllen. Schar Moissejewitsch Firer, Chef der kommunalen Stadt-Wirtschaft, nahm, nachdem er von der Aktion erfahren hatte, die für damalige Zeiten fantastisch anmutende Verantwortung auf sich und organisierte die Umbettung der Überreste auf dem städtischen Friedhof. Sein Vater. Moissej Abramowitsch Firer, wurde 1938 in Jenisseisk erschossen. Auch seine Asche musste irgendwo hier ruhen.
Bis in die neunziger Jahre wurde das Massengrab oft heimlich besucht. Es wurde gepflegt, man ließ nicht zu, dass wilde Gräser es überwucherten und dass es wieder in Vergessenheit geriet. Und 2006 wurde dort ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen aufgestellt.
Doch selbst die Überreste, die bereits in den Sumpf geworfen worden waren, erinnerten an sich. Denn in den Körben befanden sich nicht nur Knochen, sondern auch Erde. Und an der Stelle, an der sich die Körbe befanden, mitten im Sumpf, wuchs mit der Zeit ein kleines, aber gut zu erkennendes Birkenwäldchen heran. Und als mein Blick auf dieses kleine Wäldchen fiel, dachte ich: wie sie auch versucht wird, die Erinnerung an die umgekommenen Menschen auszulöschen – sie setzt sich trotzdem mit den mitunter unwahrscheinlichsten Mitteln durch. Und es haben sich immer Leute gefunden, die diese Erinnerung nicht aussterben lassen.
Aleksej Babij
Vorsitzender des Krasnojarsker „Memorial“
“Neue Zeitung“, 31. Mai 2017