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«Wenn auch als Gefangene»

Wie eine neue historische Gemeinschaft entstand — das sowjetische Volk

Die Aufgabe eines totalitären Staates besteht darin, sich den Menschen vollkommen untertänig zu machen, all seine Initiativen zu unterdrücken. Was er auch immer selber zu unternehmen versucht, : «nein». Zur Politik wird das, was eigentlich überhaupt keine Beziehung zu ihr hat. Aber in einem totalitären Staat ist die Politik – alles, auch der Alltag und die Familie.

Nehmen wir an, Sie vermieten eine Wohnung. Oder ein Zimmer. Und Sie bekommen dafür eine geringfügige Geldsumme, aber nicht vom Staat, sondern ganz für sich selbst. Das wurde in der UdSSR als nicht durch Arbeit erworbenes Einkommen gewertet, und Sie — als der Sache des Sozialismus unholde Person. Deswegen hätte man Ihnen im Jahre 1929 die Wahlrechte entzogen.

So scheint es — na und? Sie hätten sowieso nichts zu wählen gehabt. Und Sie wären auch nicht zur Wahl gegangen. Aber das ist alles nicht so einfach.

Wenn Sie bei einer staatlichen Behörde arbeiten, wird man Sie bei der ersten Gelegenheit entlassen. Für den Chef ist es unnötig, dass man ihn bei der nächsten Säuberung hinauswirft, weil er «den Apparat mit Entwürdigten beschmutzt». Daher tut er besser daran, Sie zu entlassen. Und es wird schwer für Sie sein, einen anderen Arbeitsplatz zu finden – aus eben demselben Grund. In einigen Organisationen ist es eh verboten, solche Leute wie Sie einzustellen — zum Beispiel bei der Eisenbahn. Dasselbe betrifft auch sämtliche Familienmitglieder, denn ihnen wurden, zusammen mit Ihnen, ebenfalls die Wahlrechte entzogen. Auch bei Ihrer entrechteten Frau beginnen die Probleme am Arbeitsplatz, und Ihren studierenden Sohn wir man wohl exmatrikulieren oder zumindest aus der kommunistischen Jugendorganisation ausschließen. Sogar bei der kleinen Tochter in der Schule wird es Schwierigkeiten geben.

Die Menschen verlieren ihre Existenzmittel, Möglichkeiten für eine Karriere sind ihnen versagt. Das führt zu witzigen Situationen: «Ich werde mit Nachdruck beim Stadtrat um Mitwirkung bitten <…> wenigstens bei der Vergabe einer Tätigkeit, die der von Gefangenen gleichkommt, welche Zwangsarbeit leisten müssen. Ich habe mich persönlich ans Sibirische Lager mit besonderer Bestimmung SibULON) gewandt, mit der Bitte, mich für eine Arbeit anzunehmen, doch sie wurde mir aus folgendem Grund verweigert: «Es gibt keinen Paragraphen — wir können dich nicht annehmen».

Die Menschen versuchen irgendwie zu überleben, indem sie sich mit handwerklichen Arbeiten beschäftigen, Küchlein, Saat, Kwass, selbstgemachtes Eis verkaufen, und ein Zimmer an andere vermieten. All das stellte die Sowjetmacht mit einem Verbrechen auf eine Stufe und entzog den Menschen dafür die Wahlrechte – und damit auch die Möglichkeit einer geregelten Arbeit.

«Aber ich brauche doch etwas zu essen, und um zu essen, muss ich arbeiten — das Recht dazu haben, und deswegen bitte ich darum, mir das Stimmrecht zu erteilen, damit man mich nicht als Wärter entlässt oder damit wenigstens die Kinder nicht so verachtet werden».

Zähmung durch Hunger — die beliebteste Methode der Sowjetmacht. Die ganzen materiellen Güter, einschließlich Nahrungsmittel, sollen vom Staat ausgehen. Und der entscheidet ganz allein, ob du dieses Wohl verdienst oder nicht und in welcher Höhe. Er entscheidet, ob du eine vernünftige Portion oder eine Häftlingsration erhältst. Und der Mensch bemüht sich, dem zu entsprechen, um überleben zu können.

Den Mitgliedern des Schriftstellerverbandes, das heißt den «richtigen Schriftstellern», gaben sie im Hungerjahr 1934 Lebensmittelkarten aus und die Möglichkeit, Bücher herauszubringen. Und den «unrichtigen» — nicht. Keine Lagerhaft, keine Erschießungen — einfach nur Nahrungsentzug. Mitunter genügte das schon, damit ein Mensch «richtig» wurde.

So entstand eine neue historische Gemeinschaft — das sowjetische Volk. Es wurde mit Erfolg geschaffen und existiert bis zum heutigen Tag.

Aleksej Babij
Vorsitzender des Krasnojarsker «Memorial»

„Neue Zeitung“, 14. Juni 2017


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