Am 2. Juli 1937 traf vor Ort ein von Stalin unterzeichnetes Telegramm ein – unverzüglich die Hinrichtungen feindlich gesinnter Elemente einzuleiten. Der Grundstein für den Beginn des Großen Terrors war gelegt.
Und heute schreiben wir den 30. Juni. Den 30. Juni 1937. Moskau ist von Sonne durchflutet, und das ganze Land um die Stadt herum ebenfalls. Wir wissen, womit der Sommer des Jahres 1937 zu Ende ging. Aber damals, am Ende seines ersten Monats, freute sich die Bevölkerung der UdSSR sowohl über Sonnenschein, als auch über Regen. Die Preise für Massenbedarfsgüter waren gesenkt worden. Elektrische Lampen, Glas, Grammofone, Streichhölzer – all das war billiger geworden… Die Lebensmittelkarten hatte man bereits Anfang 1935 abgeschafft.
„Die Hungerjahre liegen hinter uns, - schreibt Lion Feuchtwanger: er war unlängst in Moskau zu Gast, und sein Buch „Moskau 1937“ wird im November in Druck gegeben. Der Prosaiker lobt die „verblüffend preisgünstigen“ Überschuhe. „Ganz Moskau strahlte vor Zufriedenheit und, mehr noch – vor Glück“. 9. Januar 1937, „Prawda“: „Gestern empfing Stalin den deutschen Schriftsteller L. Feuchtwanger. Die Unterredung dauerte über drei Stunden“. Später erzählt der Autor im Rundfunk: „… Stalin ist in seinen Worten deutlich bis zur Grobheit. Er ist bereit zu streiten, versteht das auch sehr gut und verteidigt eisern das, was er sagt. <…> Schon bald beginnst du zu begreifen, weshalb die Massen ihn nicht nur verehren, sondern sogar lieben. Er ist – ein Teil ihrer selbst“.
Auszug aus „Moskau 1937“: „… der vernünftige Anfang, welcher der Sowjetunion lebenslänglich seinen Stempel aufdrückte, tritt besonders deutlich in dem erhabenen Plan des Wiederaufbaus der Stadt Moskau zutage. <…> allenthalben wird unermüdlich gegraben, geschürft, gehämmert, gebaut, Straßen verschwinden und entstehen neu. <…> Nie zuvor wurde eine Stadt mit Millionen-Bevölkerung so grundlegend nach den Gesetzen der Zweckmäßigkeit und Schönheit gebaut, wie das neue Moskau“.
In den Datschen-Siedlungen knirschen Fahrrad-Reifen über abgefallene Baumnadeln, die Schatten der Bäume liegen auf dem grünen Wasser, werden länger und länger. Aber in naher Zukunft wird nichts davon für hunderttausende Menschen so sein. Vorgestern hat das Politbüro angeordnet, die Höchststrafe „für alle Aktivisten, die aufständischen Organisationen verbannter Großbauern angehören, anzuwenden und in West-Sibirien eine Troika (Mironow, Bakow, Eiche) zu schaffen – „für eine schnellstmögliche Lösung des Problems“. Übermorgen, am 2. Juli, geht an die Regionen ein von Stalin unterzeichnetes Telegramm mit dem Satz, die feindlichsten antisowjetischen Elemente unverzüglich zu erschießen, und die weniger aktiven auszuweisen. Die Wirtschaft der UdSSR ist eine Planwirtschaft, und zur Einteilung der Opfer in Kategorien, die jeweilige Festlegung von Höchstgrenzen für beide, die Bestätigung der personellen Zusammensetzung der Troikas, die Ausarbeitung konkreter Verfahrensweisen, Erteilung von Instruktionen, die Vorbereitung von Schießplätzen sowie das Verwischen der Spuren waren vier Wochen nötig. Am 30. Juli bestätigt das Politbüro den operativen Befehl des NKWD über die Verfolgung antisowjetischer Elemente. Und der Große Terror des sowjetischen Staates gegen das Volk geht auf die praktische Ebene über.
Nach Angaben der Kommission unter dem Vorsitz des Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Peter Pospelow (1956) wurden 1937-1938 mit der Beschuldigung antisowjetischer Aktivitäten 1548366 Personen verhaftet; 681692 erhielten die Höchststrafe. Ähnliche Angaben finden sich bei zahlreichen Historikern, unter anderem Zeitgenossen. Oleg Chlebnjuk (Doktor der Geschichtswissenschaften, Nationale Forschungsuniversität – Höhere Schule der Ökonomie): „Die Repressalien brachen mindestens über 1,6 Millionen Menschen herein, 680000 von ihnen wurden erschossen“. Der bekannte Nowosibirsker Forscher der sowjetischen Sonderdienste und des Politterrors Aleksej Tepljakow: „In den Jahren 1937-1938, auf dem Höhepunkt des kommunistischen Terrors, wurden annähernd 682000 Menschen erschossen“.
In dem altertümlichen und gemütlichen sibirischen Städtchen Minussinsk wurden in den dreißiger und vierziger Jahren – Verfolgungen, Krieg, Migration – von der fast 30000 Personen zählenden Bevölkerung zu nicht weniger als drei Viertel ausgetauscht. Im September 1937 erschoss man hier 109 Personen, im Oktober 357, im November 416. Im Dezember waren es sogar 590; in nur einer einzigen Nacht, der Nacht auf den 9. Dezember – 222. Die Stämme bogen sich, mit der Brechstange gab man ihnen den Rest. In der Nacht auf den 5. August 1938 wurden 309 Menschen erschossen.
Nach den Angaben verschiedener Forscher wurden in Minussinsk in den Jahren 1937-38 nicht weniger als 4500 Personen erschossen.
In dem noch altertümlicheren und schönen und damals ebenfalls 30000 Einwohner zählenden Tobolsk kamen in demselben Zeitraum nicht weniger als 2500 Menschen durch Erschießen ums Leben. In der Nacht zum 14. Oktober 1937 waren es allein 217.
Warum spreche ich von Tobolsk und Minussinsk? Nicht wegen des Maßstabs der Grausamkeiten, sie sind unbedeutend. Das Gefängnis im Tobolsker Zentral-Gefängnis-Komplex wurde 1989 abgeschafft. Damals besuchte ich es: hier saßen Korolenko und Tschernyschewskij, die sich um die Leute kümmerten; hier erschoss man später die „Feinde“ dieses Volkes. Und hier, gar nicht unweit, suchte ich die Grabsteine der Dekabristen auf. Und in Minussinsk, wo die Menschen vorwiegend nicht im Gefängnis erschossen wurden, sondern ganz in der Nähe – im Kiefernwäldchen bei der Stadt Lyssucha, - befinden sich ebenfalls Gräber von Dekabristen. Die Dekabristen in Tobolsk und Minussinsk starben ihren Tod, und sie haben Gräber.
Ich erinnere daran, dass man im Jahre 1826 laut den Auswertungen des tatsächlichen Aufstands fünf Personen umbrachte. Insgesamt kam es, was die politischen Fälle angeht, von 1825 bis zur ersten Revolution durchschnittlich zu zwei Verurteilungen zum Tode pro Jahr. In ganz Russland. Aber ab Mitte August 1937 bis November 1938 machte die Intensität der Erschießung antisowjetischer Elemente mehr als 1500 am Tag aus. Im Durchschnitt.
So viel zur Mythologie der oberen Kreise, zur Frage der Büroklammern und der Tatsache, dass man mit diesem Volk ohne Grausamkeit nicht auskommt.
Und noch einmal zu Tobolsk und Minussinsk – das betrifft auch uns, die heute
Lebenden, die Mythologie der Unteren, den Tatbestand, dass sie 1937 die
parteiwirtschaftliche Elite und die rote Intelligenz erschossen, dass der
ausgegrabene Stalin vom Volk als Rächer Pugatschows oder Fürsprecher Rasins
gesehen wird, der einst der Partei-Elite das Fell abzog, ihr gesamtes Gold
einschmelzen lässt und in ihre Gurgeln gießt. Na ja, in Tobolsk und Minussinsk
lebten Führung und Intelligenz dicht beieinander.
***
Wenn es so scheint, als ob ich bei der Erwähnung des Programms zum Wiederaufbau
der Stadt Moskau im Jahre 1937, auf das heutige anspiele, und dass ich in
Erinnerung an Feuchtwanger Stone meine und Züge Stalins in Putin suche, - das
ist ein lügenhafter Eindruck. Vergleichen kann man natürlich, aber nichts wird
sich jemals wiederholen. Alle Analogien sind maßlos übertrieben.
Reden wir nun von etwas anderem. Wie vollzieht sich dieser nur einen einzigen Augenblick dauernde Abbruch des Lebens? Kann man den Moment einfangen, wenn die Walze plötzlich losrollt und euch plattmacht?
Ja, die Massenverhaftungen begannen bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1936, die Kerker waren überfüllt. Am Krasnojarsker Gefängnis (es befindet sich auch heute noch dort, an ihm endet die Republikstraße, die Straße der Diktatur des Proletariats stößt dort auf den Kolchos-Markt und der Freiheitsprospekt auf – den Friedhof), ließen sich ständig Ansammlungen von hunderten von Menschen beobachten, die versuchten, irgendetwas über ihre Angehörigen zu erfahren. Es wurden Technologien erforderlich, um die Gefängnisse zu entlasten die Verbringung der Häftlinge in Lager zu beschleunigen, die Vorgehensweise bei den Erschießungen zu vereinfachen. Und, nach den Auswertungen von Wadim Rogowin (Doktor der philosophischen Wissenschaften am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften) stieg die Zahl der Erschossenen 1937 um das 315-Fache (gegenüber 1936).
In der Tat wurde das Volk fast überall vernichtet, seine Geschichte lässt sich (genau gesagt - bereits ab 1917 bis 1953) nach der bekannten Formel beschreiben: dem Wechsel von langen Perioden der Angst und kurzen Zeitspannen des Grauens. Dabei stellt die Kollektivierung den Höhepunkt der Repressionsmaßnahmen dar. Damals litt das Volk viel mehr, und die Einbußen der Nation richteten einen nicht wieder gut zu machenden Schaden an. Indessen gab es während der Revolution und dem darauffolgenden roten Terror, bei der Kollektivierung, bei der Schaffung und Füllung der Lager – verbunden mit dem Bau industrieller Gebäudekomplexe – eine mangelhafte, aber immerhin existierende Logik. Aber ist dieses Fließband der Morde irrational, mystisch, wenn es keine Antwort darauf gibt, was man unternehmen muss, um nicht der letzte zu sein, um die Familienmitglieder zu schützen?
In der Nacht zum 12. Juni 1937 wurden die Erschießungen in Sachen Tugatschewskij
durchgeführt. Ja, anhand sämtlicher Geschehnisse in der Welt wurde sichtbar,
dass die Menschheit zu neuen grandiosen Massakern bereit war. Und wir vermuten (obwohl
es keine erhärtenden Indizien dafür gibt), dass der Komplott in der Armee
heranreifte. Aber – noch einmal – nach dem tatsächlich stattgefundenen Aufruhr
ließ Nikolai I fünf Menschen erhängen. Stalin verfolgte zehntausende Offiziere
und Militär-Führer, darunter 66% der höchsten Ränge der Russischen Arbeiter- und
Bauern-Armee.
Übrigens, über eine Verbindung der Jahre 1937, 1939 und 1941 muss man gesondert
sprechen. Und wahrscheinlich wird das auch erst in ferner Zukunft möglich sein:
die sinnlosen Verluste in jenem Krieg lassen es – aus menschlichen Gründen -
nicht zu, Fragen zu stellen. Der Sieg hat alles ausgebucht.
Was hat das Fließband trotzdem zum Laufen gebracht? Das Herannahen des Krieges, die ersten Parlamentswahlen (12. Dezember 1937)? Das ist eine Version, die von keiner einzigen wissenschaftlichen Gemeinschaft endgültig akzeptiert wird.
Es versteht sich von selbst, dass Verschwörungen für die Erhaltung der Macht unerlässlich sind. Aber alles hat seinen Preis. 700000 Menschenleben – ist das nicht zu viel?
Und ob eine Wiederholung möglich ist – diese Frage schwebt über uns, denn was haben wir nicht alles heute, was es damals auch gab? Das Syndrom einer belagerten Festung – in seiner ganzen Vielfarbigkeit. Wahlen sind jetzt am laufenden Band im Anmarsch. Ächtungen von „National-Verrätern“ – die haben wir jetzt wieder. In den Listen stehen Menschen, Organisationen, ganze soziale Gruppen. Wut und Verwirrung von unten kommt regelmäßig hoch, wie in den dreißiger Jahren. Politische Zweckmäßigkeit anstelle von Wahrheit, das Ignorieren der friedlichen Gemeinschaft, das Fehlen einer Macht-Verteilung… Experimente mit Denunziantentum. Was gibt es denn eigentlich noch nicht, was es am 30. Juni 1937 auch gab? Eine moralische Katastrophe?
Das wirtschaftliche Leben ist derart pathologisch organisiert, dass jeder aktive Mensch an den Haken gerät, egal, ob es sich um einen Geschäftsmann, einen kleinen Händler oder den Theaterdirektor oder -Regisseur handelt. In den sozialen Bereich werden so viele unsinnige Verbote eingebracht, dass es auch nicht ungefällig ist, sich darin zu bewegen.
Und dann beginnt der Triumph der Unlogik, der Unfassbarkeit, der Bruch der Ursache-Folge-Zusammenhänge, der Unmöglichkeit sich zu verstecken. Laut Darwin wird die Überlebensfähigkeit durch Tarnung und Anpassungsfähigkeit gewährleistet, aber jetzt, im Jahre 1937, besaßen Loyalität zur Staatsmacht und Bekanntheit des Namens schon keinerlei Bedeutung mehr. Was die unteren Volksschichten erfreuen kann, allerdings nur vorübergehend, denn im weiteren Verlauf verstärkt sich die Massen-Psychose. Ist das heute nicht auch so? Und wie soll man mit der Welt zusammenwirken, wenn es keine Regeln mehr gibt, sondern lediglich Zufälle, die Zunahme chaotischer Verhältnisse, die beispielsweise hinauslaufen auf unmotivierte Gewalt – all diese letzten laut gewordenen außergewöhnlichen Vorkommnisse, wenn sie die Waffe in die Hand nehmen und eine rein zufällig auftauchende Person umbringen.
Das heißt: das Bild ist ein ähnliches, die Bedingungen sind identisch, aber es gibt keinen Staatsterror. Und es wird ihn auch nicht geben.
Bringt uns das vielleicht auf en Gedanken, dass, säße jemand anderes im Kreml, im Lande schon längst geschossen und gehenkt würde?
Doch einstweilen zieht sich der lange Tag des 30. Juni 1937 hin. Das Tscheljabinsker Traktorenwerk hat mit der Serienproduktion des ersten sowjetischen Dieseltraktors C-65 begonnen. Schostakowitsch, der Anfang 1936 einer Hetzjagd ausgesetzt war, beendet seine 5. Symphonie. Er selbst bezeichnet sie als „Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik“, und sie unterscheidet sich stark von allem, was er bis zu dem Zeitpunkt geschrieben hat. Im November wird man sie in Leningrad vorstellen, und es wird ein Triumph werden.
Der Mensch ist nicht dazu da, um zu widersprechen. Er ist dafür gemacht, auf schattigen Pfaden mit dem Fahrrad dahin zu jagen und auf das langsame grüne Wasser zu blicken. Billig gewordene Überschuhe zu kaufen. In der Kindheit bringen sie uns bei, dass das Gute siegt, später entdecken wir, dass das Böse auf kurzen Strecken die Oberhand gewinnen kann, und zeitweise kommt es uns so vor, als ob es keinen Ausweg gäbe; doch letztendlich finden sich optimale Lösungen, denn die Welt ist im Großen und Ganzen rational, es gibt trotz allem Fortschritt und Humanisierung.
Es ist dem Menschen zu eigen daran zu glauben. Aber später stürzt die rationale
Welt, in der eigentlich alles zurechtkommen soll, in sich zusammen. Und dann
begreifst du, was sie bedeutet – die Natur des Lebens. Jedenfalls nicht
Überschuhe und Fahrrad. Es gibt nur diese Welt – mit Foltern, gebrochen Rippen,
ausgeschlagenen Augen. Jene Welt, die es früher gab, hat nur einfach ihre Maske
abgeworfen.
Ich formuliere es anders. Was hat das Volk, was haben die Menschen in 80 Jahren
getan, damit sich der gegen sie gerichtete Terror nicht wiederholt? „Wir können
es noch einmal wiederholen“ – gilt das nur für den Mai 1945? Aber es hätte ihn
nicht gegeben ohne das Jahr 1941, und das – nicht ohne den September 1939, und
den – nicht ohne den Terror der Jahre 1937-1938… Was „können wir wiederholen“?
Gründe für nächtliche Erschießungen werden sich immer finden. Der Feind am Tor,
die Zuspitzung internationaler Beziehungen…
Und doch haben die Zeiten sich geändert. Die Auswählbarkeit heutiger Repressalien, die Punktförmigkeit der Gewalt – sind der wichtigste Unterschied. Wozu erschießen, wenn sich das Bewusstsein von Millionen von Menschen mit viel weniger Zeitaufwand und Anspannung manipulieren lässt? Dennoch ein wissenschaftlich-technischer Fortschritt – eine großartige Sache. Ingenieur-Lösungen, Technik, die Erdbohrungen vollbringt und Erdöl herauspumpt, das Internet, das es einem in realer Zeit gestattet, alle über alles zu informieren – das ist zuverlässiger, als die Menschen.
Was kann man von den Leuten verlangen? Sie sind immer dieselben. Allerdings werden manche von ihnen zum Henker, andere werden entsorgt.
Oder sind sie doch nicht dieselben? Stalin hat sie vernichtet – das heißt, er hatte Angst vor ihnen. Andererseits starb er seinen Tod in Blischnaja Datscha. Und sowohl damals, 1937, als auch 1953 und 2017, bleibt er für Millionen das Licht am kleinen Fensterchen. Wenn dem so ist, ist es dann richtig, vom kollektiven Stalin zu sprechen?
Uns lässt das vergangene Jahrhundert irgendwie nicht los. Wie sind in ihm
steckengeblieben und kommen von dort so lange nicht wieder heraus, bis wir alle
diese Fragen über die Jahr 1937 und 1941 beantwortet haben, uns über Opfer und
Henker klargeworden sind, alle jenseitigen Stimmen angehört und alle dunklen
Schatten genau betrachtet haben, mit denen unser Haus angefüllt ist. Liegt nicht
darin heute die Pflicht des russischen Menschen – vor sich, den Kindern, dem
Volk, der ganzen Welt? Sich bereitmachen, um den ganzen Staub, die ganze Asche
zu sehen, alle Stimmen, die aus der Erde kommen, zu hören. Wenn man die
Erfahrungen nicht verinnerlicht, wird man sie nicht ausmerzen, nicht beseitigen
können.
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Der Leiter der Rubrik „Porträt und Rundherum“, Aleksej Babij, Chef des
Krasnojarsker „Memorial“, sammelt seit beinahe drei Jahrzehnten Zeugnisse über
die Opfer jener Jahre und digitalisiert die Archive und Erinnerungen von
Augenzeugen. Seit Juli verändert sich die Rubrik. Anfangs ging es um Dokumente
darüber, wie der Große Terror technologisch aufgebaut wurde, aber ab Mitte
August wird Babij anfangen, die Geschichten und Fotos konkreter Personen
darzulegen, die vor genau 80 Jahren, Tag für Tag, erschossen wurden. Zahlen und
Einzelschicksale; für die Listen der Hingerichteten bieten unsere 24 Spalten zu
wenig Platz.
Aleksej Tarasow¸
Berichterstatter
“Neue Zeitung“, 30.06.2017