Geiseln der Macht: du kannst bis zum Letzten gehen, wenn die Sache nur dich betrifft
Dieses Dokument fand ich im Staatsarchiv der Region Krasnojarsk, als in den sozialen Netzwerken stürmische Debatten darüber im Gange waren, ob Minderjährige unter der Sowjetmacht erschossen wurden oder nicht. Man zweifelte an der Echtheit der Dokumente, die von W. Solouchin im Buch „Salz-See“ über die „Heldentaten“ Arkadij Gajdars in Chakassien in den zwanziger Jahren angeführt worden waren. Da ich mich nun viel näher an diesen Dokumenten befand, als alle anderen, ging ich los, um das zu überprüfen. Solouchin hat sich nicht geirrt, nur hat er sich in der Reihenfolge der Hinweise geirrt. Minderjährige gab es unter den Erschossenen tatsächlich. Zu den Listen Solouchins lassen sich weitere hinzufügen. Und was die Solouchinschen Dokumente betrifft – sehen wir uns dieses hier mal an.
Die nicht enden wollenden Befehle der TschON (Sonder-Einheiten – Red.) über Erschießungen von Geiseln muten nicht schrecklich an, weil darin auch die Rede von Minderjährige ist. Die Ansage wurde in einer Druckerei gedruckt, mit Unterschrift versehen sind lediglich der Name des Dorfes und die Zahl der Geiseln. Das ist keine Ausnahme, das ist System.
Geiseln — das ist der Firmenstil der Sowjetmacht. Lenins Briefe sind voll von Hinweisen in der Art von: „zu erschießen sind zehn Popen, damit es den anderen eine Lehre ist“.
Während des Bürgerkriegs wurden nicht nur Offiziere, sondern auch gewöhnliche Soldaten nicht selten in folgender Weise „mobilisiert“: entweder dienst du in der Roten Armee oder wir erschießen dich und deine gesamte Familie. Den Bolschewiken war bereits der verdiente Ruf von „Eiseskalten“ vorausgeeilt, und die Drohungen waren auch vollkommen real.
In den Gebieten der Bauernaufstände erschoss man die Geiseln einfach ohne Gerichtsverhandlung und Ermittlungsverfahren.
In den zwanziger – dreißiger Jahren wurden die Wahlrechte nicht nur einer konkreten Person, sondern gleich seiner gesamten Familie entzogen.
Im Jahre 1934 wurde der § 58-1 «B» des Strafgesetzes der RSFSR durch die Formulierung ergänzt: «Bei Fluchtversuch oder Grenzübertritt eines Militärdienstleistenden werden seine minderjährigen Familienmitglieder, sofern sie bei den Vorbereitungen dazu oder beim Begehen des Vaterlandsverrats behilflich waren oder zumindest davon wussten, aber die Behörden nicht entsprechend in Kenntnis setzten, mit Freiheitsentzug zwischen fünf und zehn Jahren sowie Konfiszierung des gesamten Besitzes bestraft. Die übrigen minderjährigen Familienangehörigen eines Vaterlandsverräters, die zur Zeit der Verbrechensverübung bei ihm leben oder von ihm unterstützt werden, unterliegen dem Entzug der Wahlrechte und einer Verbannung für fünf Jahre in entlegene Bezirke Sibiriens».
Der Befehl des NKWD ¹00486 vom 15. August 1937 gestattete nicht nur Repressionen an der gesamten Familie des Verhafteten, sondern schrieb diese sogar ausdrücklich vor. Kleinere Kinder wurden in Sonder-Kinderheime geschickt, die älteren – ins Lager, und eines der Kasachstaner Lager erhielt die Bezeichnung ALSCHIR (Akmolinsker Lager für die Ehefrauen von Vaterlandsverrätern).
Am 24. Juni 1942 erging die Anordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees „Über Familienmitglieder von Vaterlandsverrätern“, dem gemäß Familien von zur Höchststrafe wegen Spionage, Übertritt zum Feind „<…> wegen versuchten Vaterlandsverrats und verräterischer Absichten verurteilten Personen festzunehmen und für die Dauer von fünf Jahren in entlegene Gegenden der UdSSR zu verbannen sind». Die Fakten waren unerklärlich, es reichte ein bloßer Verdacht. In die Region Krasnojarsk verschleppt wurde Jekaterina Maksimowa, die Ehefrau des legendären Sorge, — und nach wenigen Tagen verstarb sie aufgrund äußerst merkwürdiger Umstände. Betroffen waren nicht nur „offizielle“ Familienmitglieder. Die “Frau“ von General Wlassow wurde noch im Jahr 1941 schwanger, sie wurde demobilisiert und begab sich zu den Eltern nach Woronesch. Hier ereignete sich die Niederlage der Zweiten Armee, zu Wlassows Gefangennahme – und man machte keine großen Umstände, in aller Eile seine „Frau“ ausfindig zu machen und sie zusammen mit dem Kind in die Region Krasnojarsk zu verbannen.
Nach dem Krieg erging eine Serie von Befehlen über die Aussiedlung aus der Ukraine und den Baltischen Staaten von Familien von „Nationalisten und Banditen“ nach Sibirien. Für die Verbannung reichte es aus, dass das MGB schlicht und ergreifend eines der Familienmitglieder der „Begünstigung“ verdächtigte.
Ja und später, zu „vegetarischen“ Zeiten, ermahnte man in glimpflicher Weise die Dissidenten: «Na, Sie wollen doch nicht, dass Ihre nächsten Angehörigen Unannehmlichkeiten bekommen…“. Und der Mensch musste eine nicht gerade leichte Wahl treffen, denn diese Unannehmlichkeiten waren absolut garantiert. Du kannst gern bis zum Ende gehen, wenn die Dinge nur dich selber betreffen, aber wenn es auch um deine Angehörigen geht…
Aleksej Babij
Vorsitzender des Krasnojarsker „Memorial“
„Neue Zeitung“ – 30.06.2017