Die Strafen des Jahres „37“ sind anomal grausam – sowohl im Hinblick auf die Hinrichtungszahlen, als auch in Bezug auf die Erfassung der sozialen Bevölkerungsgruppen.
Der Leiter der Rubrik „Porträt und Rundherum“, Aleksej Babij, Chef des Krasnojarsker „Memorial“, sammelt seit beinahe drei Jahrzehnten Zeugnisse über die Opfer jener Jahre und digitalisiert die Archive und Erinnerungen von Augenzeugen. Seit Juli verändert sich die Rubrik. Anfangs ging es um Dokumente darüber, wie der Große Terror technologisch aufgebaut wurde, aber ab Mitte August wird Babij anfangen, die Geschichten und Fotos konkreter Personen darzulegen, die vor genau 80 Jahren, Tag für Tag, erschossen wurden. Zahlen und Einzelschicksale; für die Listen der Hingerichteten bieten unsere 24 Spalten zu wenig Platz.
Vor achtzig Jahren, am 2. Juli 1937, wurde der Grundstein dafür gelegt, was in der Geschichte als Großer Terror bezeichnet wird und vom Volk – das Jahr 37. Dieses Jahr wurde zum Synonym für Repressionen. Manche sind sogar davon überzeugt, dass es Repressionen ausschließlich 1937 gab.
„Das Jahr 37“ ließ eine Reihe von Mythen entstehen, von denen der gefährlichste „wo gehobelt wird, fallen Späne“ ist. Viele sind der Überzeugung, dass die Verfolgungen den Hochrangigen und Korrupten einen Schlag versetzen sollten, und die übrigen nur nebenbei in die Hände der Verfolger gerieten. Dieser Mythos bildete die Grundlage für den alltäglichen Stalinismus: die Menschen wollen, dass eine große und gerechte Persönlichkeit kommt und die nachlässigen Bojaren bestraft.
Der Große Terror – eine äußerst gelungene Bezeichnung für das, was vor 80 Jahren geschah. Selbst vor dem Hintergrund des ständigen, grausamen Terrors, sind die Strafen des „Jahres 37“ anormal grausam – sowohl im Hinblick auf die Hinrichtungszahlen, als auch in Bezug auf die Erfassung der sozialen Bevölkerungsgruppen.
Die Bolschewisten kamen gewaltsam an die Macht und konnten sie auch nur gewaltsam halten. Die 1920er und 1930er Jahre gingen mit der Vernichtung politischer Konkurrenten, der Zerschlagung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) und der Vernichtung der Bauernschaft dahin. Parallel dazu war der innerparteiliche Kampf im Gange, er auf natürliche Weise in einen innerparteilichen Krieg mit aufsehenerregenden Erschießungsprozessen überging.
Gewalt war das wichtigste Mittel zur Lösung beliebiger Probleme: politischer, wirtschaftlicher, sozialer. Ein klassisches Beispiel – der GULAG, der auf einen Schlag drei Fliegen mit einer Klappe schlug: er garantierte den Aufbau der Volkswirtschaft durch praktisch kostenlose Arbeitskräfte, er gestatte es, alle los zu werden, die nicht in den von der Macht vorgegebenen Rahmen passten, und zudem denjenigen, die einstweilen noch in Freiheit lebten, keine Angst einflößten.
Der Große Terror löste ebenfalls konkrete Aufgaben der Sowjet-Macht. Wenn es auf den vorangegangenen Etappen ausgereicht hatte, nur Repressionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen einzuleiten, so wurden jetzt massenhafte, allumfassende Verfolgungen erforderlich, damit sich nur niemand in Sicherheit wiegen sollte.
„Das Jahr 37“ ist in Wirklichkeit nicht das gesamte Jahr 1937. Es verfügt nämlich über äußerst klare Zeitrahmen: vom 5. August 1937 bis zum 17. November 1938.
Und alles begann mit diesem Telegramm:
Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) N° P51/94 vom 2. Juli 1937
94. – Über antisowjetische Elemente
Folgendes Telegramm ist an die Sekretäre der Gebietskomitees, Regionskomitees
und das ZK der nationalen kommunistischen Partei zu versenden:
„Es wurde festgestellt, dass ein Großteil der ehemaligen Kulaken und
Kriminellen, die gleichzeitig aus verschiedenen Gebieten in die nördlichen und
sibirischen Bezirke verschickt wurden und anschließend, bei Ablauf ihrer
Ausweisungsfrist, in ihre Gebiete zurückgekehrt sind – jegliche Art von
Anstiftern zu antisowjetischen und Sabotage-Verbrechen zu Tage treten, und zwar
nicht nur in den Kolchosen, sondern auch im Bereich des Transportwesens und in
einigen Zweigen der Industrie.
Das ZK der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) ersucht alle Sekretäre der Gebiets- und Regions-Organisationen sowie alle Gebiets-, Regions- und Republik-Vertretungen des NKWD, alle in die Heimat zurückgekehrten Kulaken und Kriminellen zu registrieren, damit die schädlichsten unter ihnen unverzüglich festgenommen werden und ihre Erschießung auf administrativem Wege durch Troikas angeordnet werden kann; die übrigen, weniger aktiven, aber dennoch schädlichen Elemente sollen neu registriert und auf Anweisung des NKWD in die Bezirke abtransportiert werden.
Das ZK der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) ersucht
darum, dem ZK binnen einer Frist von fünf Tagen die Zusammensetzung der Troikas,
die Anzahl der zur Erschießung vorgesehenen Personen sowie der Zahl der
Auszuweisenden vorzulegen“.
SEKRETÄR DES ZK JOSEF STALIN
Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, Fond 3, Verz. 58, Dossier
212,
Bl. 32. Original, Maschinenschrift
In diesem Dokument gibt es nichts Ungewöhnliches. Sogar die Schaffung außergerichtlicher Troikas – so hatte es die UdSSR schon immer gehandhabt, wenn es galt eine große Menge Menschen ohne überflüssige bourgeoise Formalitäten zu verurteilen – ohne Gerichte, Advokaten, einen Schlagabtausch zwischen beiden Seiten und anderen Unsinn. So arbeiteten beispielsweise während der „Ent-Kulakisierung“ vor Ort lediglich zwei Troikas – eine OGPU-Troika, welche die Erschießungen und Inhaftierungen leitete, und eine zweite – die OGPU-Exekutiv-Troika, welche die Ausweisungen und Enteignungen vornahm.
Natürlich waren alle entflohenen „Kulaken“ beim NKWD registriert. Bereits Anfang der 1930er Jahre wurden besondere Registrierkarten erarbeitet. Daher stellte es für das NKWD keinerlei Schwierigkeiten dar, die Kandidaten für die Erschießung und Ausweisung genau zu definieren. Doch mit den aus den Regionen eingesendeten Zahlen gab die Führung sich nicht zfrieden. So wurden beispielsweise im Gebiet Omsk „gemäß Registrierung“ 479 Personen für die Erschießung und 1959 für die Ausweisung vorgestellt. Aber im Befehl des NKWD N° 00447 vom 30. Juli 1937 sieht man bereits andere Ziffern: 1000 nach der ersten Kategorie (Erschießung) und 2500 nach der zweiten Kategorie (Lagerhaft). Letztendlich werden im Gebiet Omsk während der Zeit des Großen Terrors mehr als 15000 Menschen erschossen, das heißt einunddreißig Mal mehr, als nach der „Registrierung“ geplant war.
Es lohnt sich, bei diesem Detail ein wenig zu verweilen. Also, beim Omsker NKWD registriert waren 2438 (479 + 1959) „entflohene Kulaken und Kriminelle“ registriert. Im Befehl N° 00447 ist bereits eine Grenze von 3500 Personen ausgewiesen. Außerdem sollten zusätzlich zu denen, die bereits auf der Liste standen, noch 1062 weitere ausgesucht werden. Und das galt nur für die erste Untergrenze, danach gab es weitere. Diese gerundeten, erhöhten Ziffern zeugen davon, dass die Aufgabe dieser Operation nicht nur und nicht so sehr darin bestand, die Entflohenen mit der Sonderansiedlung für „Kulaken und Kriminelle“ zu verfolgen. Man war auf eine noch viel größere Idee gekommen: keine punktförmige Operation, sondern Massenterror durchzuführen.
Wie die ursprünglichen Pläne auch ausgesehen, wie sich Fristen, Limits und Kategorien der Verfolgten auch geändert haben mögen, das Resultat liegt auf der Hand: ausgerechnet im Höllenofen des „Jahres 37“ wurde eine neue Gemeinde geboren – das sowjetische Volk. Alles, was vorher gewesen war, war nur Vorbereitung gewesen. Vernichtet wurden politische Parteien und innerparteiliche Strömungen, ökonomisch selbständige Kräfte, gesellschaftliche Vereinigungen. Zum „Jahr 37“ hin war die Gesellschaft äußerst atomisiert, und der Massenterror schweißte diese gleichartige Masse durch Angst zusammen. Am Ende der Entwicklung stand der Homo Sovieticus, der vollständig vom Staat abhing. Das Experiment war erfolgreich verlaufen.
Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft
„Neue Zeitung“, 7. Juli 2017