Die Menschen im Jahre 1937 waren von einem mystischen Grauen erfasst:
Es war völlig unbegreiflich, nach welchem Prinzip Leute verhaftet wurden
Der Leiter der Rubrik „Porträt und Rundherum“, Aleksej Babij, Chef des Krasnojarsker „Memorial“, sammelt seit beinahe drei Jahrzehnten Zeugnisse über die Opfer jener Jahre und digitalisiert die Archive und Erinnerungen von Augenzeugen. Seit Juli verändert sich die Rubrik. Anfangs ging es um Dokumente darüber, wie der Große Terror technologisch aufgebaut wurde, aber ab Mitte August wird Babij anfangen, die Geschichten und Fotos konkreter Personen darzulegen, die vor genau 80 Jahren, Tag für Tag, erschossen wurden. Zahlen und Einzelschicksale; für die Listen der Hingerichteten bieten unsere 24 Spalten zu wenig Platz.
Die Repressionen hörten seit den ersten Tagen der Revolution nicht mehr auf, aber für gewöhnlich richteten sie sich auf konkrete politische oder soziale Gruppen. Mal wurden Sozialrevolutionäre, mal Kadetten zerschlagen. Dann wieder enteignete man Großbauern, verhaftete Anhänger der Neuen Ökonomischen Politik oder stürzte sich auf die Trotzkisten…
Der durchschnittliche Spießbürger mit seiner proletarischen Abstammung mischte sich in Politik und Wirtschaft nicht ein, er hatte viele Chancen, unversehrt aus dieser Schlacht hervorzugehen, wenn er nur seine „Nase nicht hineinsteckte“. Es gab das Risiko, seine Wahlrechte wegen Vermietung der Wohnung oder geringfügiger Spekulationsgeschäfte auf dem Markt zu verlieren. Es gab das Risiko, als sozial schädliches Element in die Verbannung zu geraten, denn zur Erfüllung des Plans wurden alle, die ihnen in die Finger kamen, eingesackt. Bekannt ist beispielsweise ein Fall, in dem ein Mann in Moskau 1933 in Hausschuhen losging, um ein paar Papirossi zu kaufen; man verhaftete ihn, weil er seinen Ausweis nicht dabeihatte (wer nimmt denn seinen Ausweis mit, wenn er nur Zigaretten holen geht?).
Sie verhaften die „Ehemaligen“ – auf diese Weise bist du keiner mehr. Sie weisen die Bauern aus – dann bist du keiner mehr. Sie arrestieren die Trotzkisten – dann bist du keiner mehr. Sie verschleppen Menschen aus Leningrad im Rahmen des „Kirow-Stroms“ – und schon lebst du nicht mehr in Petersburg.
1937 änderte sich die Situation grundlegend. Die Staatsmacht führt eine nie gesehene Massen-Operation durch, deren Ziel schon nicht mehr der Kampf gegen irgendwelche Kräfte, Tendenzen, Fraktionen ist, sondern der totale Terror, vor dem niemand mehr sicher ist – vom wohnungslosen Streuner bis hin zum Funktionär der Allrussischen Kommunistischen Partei. Die Menschen ergreift ein mystisches Grauen: es ist völlig unverständlich, nach welchem Prinzip Menschen nun verhaftet werden. Fast auf jedem Flur steht ein „Verhör-Köfferchen“ bereit, beinahe in jeder Wohnung schläft man nachts nicht (übrigens ebenfalls ein wichtiges Element des psychologischen Terrors) und es scheint, als ob die Leute erleichtert aufatmen, wenn sie geholt werden, - besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Und diese Heidenangst ist für immer im sowjetischen Menschen verwurzelt geblieben und wird von Generation zu Generation weitergegeben, selbst wenn ihre Familie von den Repressionen nicht betroffen war. Sie verfolgten jeden Hundertsten, aber in Angst und Schrecken versetzten sie – alle.
Der Mechanismus des Terrors war simpel: „an Ort und Stelle“ werden zunächst die Limits für Erschießungen und Verhaftungen heraufgesetzt, die man zudem noch mit Erlaubnis der ersten Persönlichkeiten des Landes erhöhen kann. Und dabei muss man sich noch nicht einmal um die Beweislage Sorgen machen, denn die Urteile werden von außergerichtlichen Organen gefällt. Der Strafmechanismus beginnt ganz von selber zu arbeiten: von oben drückt ein gigantisches Plansoll, dafür sind die Hände vollkommen frei. Im weiteren Verlauf hängt alles vom Erfindungsgeist der Ermittlungsrichter, der Beeinflussbarkeit der Verhafteten und nicht selten auch vom Zufall ab.
Darüber, wie der Mechanismus funktionierte, sprechen wir nicht zum ersten Mal. Wichtig ist, dass er vom Politbüro der WKP (B) angefacht wurde. Es erging die Anordnung vom 2. Juli 1937, welche den Grundstein für die „Anti-Kulaken-Operation“ des NKWD legte, der größten von allen – die Arbeit ist in vollem Gange, „an Ort und Stelle“ werden Listen „geflohener Kulaken“ vorbereitet, „in den oberen Etagen“ diskutiert man die Zahlen für die zukünftigen Limits. Innerhalb von nur drei Tagen, am 5. Juli, kommt noch eine weitere Anordnung des Politbüros heraus – „Über die Ehefrauen verurteilter Vaterlandsverräter“.
„1. Den Antrag des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten über die
Inhaftierung aller Frauen verurteilter Vaterlandsverrätern,
rechtstrotzkistischer Spionage- und Sabotage-Organisationen für eine Dauer von
5-8 Jahren gemäß vorgelegter Listen anzunehmen.
2. Das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten zu ersuchen, zu diesem Zweck
Sonderlager in der Region Narym sowie dem Turgaisker Bezirk in Kasachstan
einzurichten.
3. Im Voraus die Vorgehensweise festzulegen, mit der alle Frauen nachweislicher
Vaterlandsverräter, rechtstrotzkistischer Spione der Inhaftierung in Lagern mit
einer Haftzeit von nicht weniger als 5-8 Jahren ausgesetzt werden.
4.Alle nach der Verurteilung zurückbleibenden verwaisten Kinder bis zum Alter von 15 Jahren unter staatliche Versorgung zu stellen; was mit Kinder in einem Alter ab 15 Jahren betrifft, ist im Einzelfall zu entscheiden.
5. Dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten vorzuschlagen, die Kinder innerhalb des vorhandenen Netzes an Kinderheimen und geschlossenen Internaten der Volkskommissariate für Bildung der Republiken unterzubringen.
Alle Kinder unterliegen der Unterbringung in Städten, mit Ausnahme von Moskau, Leningrad, Kiew, Tiflis, Minsk, den Städten des Primorje-Gebiets sowie grenznahen Städten“.
Diese Anordnung und anschließend auch der auf seiner Grundlage vorbereitete Befehl des NKWD N° 00486 haben ihre eigene Geschichte, die wir gesondert erzählen werden. Jetzt ist etwas anderes von Bedeutung: das Politbüro bringt beinahe täglich neue Anordnung in Bezug auf Repressalien heraus. „Kulaken“, Ehefrauen“, „Deutsche“, „Polen“, „Charbiner“. Deswegen wird ihre Logik, als die Massen-Operationen beginnen, für Nichteingeweihte völlig unverständlich. Wir wissen heute beispielsweise, dass nach dem Befehl N° 000486 ausschließlich Familien von durch ein Kriegskollegium oder Kriegsgericht (nicht durch Troikas) Verurteilten verfolgt wurden, doch damals sahen die Menschen, dass Ehefrauen und Kinder ebenfalls verhaftet wurden, - und so entschlossen sich zahlreiche Familien nach der Verhaftung des Familienoberhaupts zur Flucht.
Die Aufgaben stellten sich nicht nur vor dem NKWD. Am 7. Juli gibt die Staatsanwaltschaft der UdSSR ein Rundschreiben heraus dessen Sinn es ist, „zu gewährleisten, dass rowdyhafte Handlungen die begleitet sind von oder sich äußern in konterrevolutionären oder chauvinistischen Auffälligkeiten“ gemäß Art. 58-10 (antisowjetische Propaganda) oder Art. 59-7 (Propaganda, „die sich auf nationale oder religiöse Feindseligkeit richtet“) des Strafgesetzes der RSFSR.
Man kann wohl sagen, dass es auch früher keine Seltenheit war: zum Beispiel prügelten sich Burschen im Dorf, eine ganz gewöhnliche Sache, doch einer der Leidtragenden – ist Mitglied der Komsomolzen-Organisation oder Mitglied des Dorfrats, und schon verwandelt sich das rowdyhafte Benehmen in eine politische Angelegenheit. Jetzt wird das von der Staatsanwaltschaft direkt vorgeschrieben. Übrigens, der Art. 59-7 (mit der dem heutigen Menschen sehr bekannten Bezeichnung) war damals überhaupt nicht populär. Zumindest finden sich in der Krasnojarsker Datenbase insgesamt nur zwei Personen, die nach diesem Paragraphen verurteilt wurden. So dass es sich hierbei wohl eher um eine Art „Gewürz“ zum Hauptgericht handelt. Es gibt jedenfalls erheblich mehr bekannte Fälle, in den ganz banales Rowdytum nach Art. 58-10 geahndet wurde.
So erweiterte sich die Basis der Repressionen praktisch täglich. Das Ganze zieht sich über einen Monat hin, und alle sind Bestandteil der Risiko-Zone. Niemand kann sich verstecken.
Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft
„Neue Zeitung“, 14.07.2017