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„Die Troika“ – das ist ein Rudel

Die Massen-Repressionen waren sogar aus Sicht der sowjetischen Gesetzgebung ungesetzlich

Im Jahre 1939wurden einige ausführende Personen des Großen Terrors wegen „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ verurteilt. Doch es mangelte bei der Durchführung dieser Operationen nicht an „sozialistischer Gesetzlichkeit“, weil vereinzelte Tschekisten sie missachteten. Sie fehlte nämlich grundsätzlich. Ungesetzlich, sogar im Rahmen der sowjetischen Gesetzgebung, waren die Befehle über die Massenoperationen als solche. In der Konstitution von 1936 steht geschrieben, dass die Rechtsprechung in der UdSSR durch Gerichte erfolgt. „Troikas“, „Dwoikas“ und andere außergerichtliche Organe waren in der Verfassung nicht vorgesehen. Aber genau sie waren es, die die „Rechtsprechung“ im Verlaufe der Massenoperationen verwirklichten.

Unlängst wollte man mit blauäugig weismachen, dass eine „Troika“ aus einem Richter und zwei Beisitzern aus dem Volk bestünde. Das scheint wohl auch eine sehr verbreitete Meinung zu sein. Ich erkläre etwas genau, wie das funktioniert. Von oben werden Mindestzahlen festgelegt und ihre Erfüllung rigoros kontrolliert. Menschen wurden ganz einfach verhaftet, weil sie mit bereits zuvor festgenommenen Leuten bekannt waren. Das Ermittlungsverfahren nimmt seinen Gang (wie – dazu später mehr) und endet mit der Anklageschrift. Die Anklageschrift wird an eine „Troika“ weitergeleitet. Die „Troika“ – das ist eben kein Richter mit zwei Beisitzern. Es handelt sich dabei in der Regel um den Leiter der Regional-Verwaltung des NKWD, den Staatsanwalt (der Region, des Gebiets oder der Republik) sowie den Ersten Sekretär der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten). Keine Advokaten, kein Schlagabtausch zwischen den beiden Seiten oder anderer bourgeoiser Unsinn. Und natürlich ist der Beschuldigte nicht anwesend.


Der Sekretär verliest die Anklageschrift; allerdings tut er das nur, wenn die Zeit dafür reicht Die „Troika“ entscheidet, nach welcher Kategorie sie den Angeklagten einstuft. Nach der ersten – Erschießung, nach der zweiten – Lagerhaft. Genauer gesagt – sie entscheiden die Kategorie noch nicht einmal einzeln pro Person, sie bestätigen nur noch. Bei den nationalen Operationen ist alles noch viel einfacher. Abschriften aus den Anklageunterlagen werden zu „Alben“ zusammengeheftet; diese schickt man nach Moskau, wo Jeschow und Wyschinskij sie unterschreiben – ohne sie zu lesen.
Und das ist die ganze Rechtsprechung. Die außergerichtlichen Organe an sich waren schon illegale, und genauso ungesetzlich waren auch ihre Urteilssprüche. Daher wurden während der Überprüfung der Akten in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts diese Urteile, mit wenigen Ausnahmen, fast automatisch abgeschafft.

Selbst offenkundige Verteidiger der stalinistischen Rechtsprechung vermeiden, wenn sie über „das Jahr 37“ sprechen, das Wort „Gesetzlichkeit“, in dem sie es durch den Begriff „Gerechtigkeit“ ersetzen. Indessen ist in der Rechtsprechung die Vorgehensweise wichtig. Selbst wenn der Mensch dreimal schuldig ist, die Vorgehensweise jedoch verletzt wurde, dann muss der Fall trotzdem überprüft werden. Vielen unserer Mitbürger ist es bis heute unverständlich, wenn beispielsweise der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, ohne die Sache als solche begutachtet zu haben, dennoch ihre Überprüfung wegen Verletzung der Verfahrensweise fordert.

Übrigens – noch eine kurze Anmerkung zur sozialistischen Gesetzlichkeit: am 7. August 1937 verschickte der Staatsanwalt der UdSSR Wyschinskij an die Staatsanwälte der Republiken, Regionen und Gebiete eine Anweisung darüber, dass im Verlauf der Ausführung des Befehls N° 00447keine vorsorglichen Sanktionen für die Verhaftungen erforderlich seien. Schließlich wurde für den Ermittlungsrichter des NKWD ein Verhaftungsplan erstellt, für den er im wahrsten Sinne des Wortes mit Kopf und Kragen verantwortlich war. Er kann jede beliebige Person ohne Sanktion des Staatsanwalts festnehmen lassen und ihn wegen eines beliebigen Vergehens anklagen. Wünschenswert ist die Vorlage einer „Schuld“-Anerkenntnis, aber man kann auch ohne sie auskommen – die „Troika“ wird das Urteil schon durchwinken. Und alles wird von oben gutgeheißen.

Es gibt noch zwei Punkte des Befehls N° 00447, die es lohnt zu erwähnen.

Erschießungsurteile sollten „Unter völliger Geheimhaltung von Zeit und Ort der Vollstreckung“ vollstreckt werden. Die Verwandten wurden über das Urteil nicht informiert. Man teilte mit, dass darüber im Gefängnis „nichts bekannt“ wäre – und das war alles. Später entstand der Satz „zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr“. Die Ehefrauen rannten die Türen ein, schrieben Bittgesuche, in den Familien entstanden Mythen darüber, dass jemand ihren Vater oder Ehemann in irgendeinem Lager gesehen habe. Dieses Phänomen muss man noch einmal überdenken – bis zu dem Zeitpunkt hatten die Tschekisten Publizität absolut nicht gescheut und sogar zur Abschreckung in den Zeitungen Erschießungslisten veröffentlicht. Schließlich teilte man der Familie mit, dass die Person erschossen worden sei. Und dann so eine Wendung und vollständige Geheimhaltung. Vielleicht hatten sie begriffen, dass sie sogar nach den Maßstäben der UdSSR ein Verbrechen begingen.

Noch ein Moment im Befehl N° 00447. Die Operation sollte 4 Monate dauern, das heißt am 5. Dezember 1937 enden. Tatsächlich dauerte sie beinahe ein ganzes Jahr länger, aber ob der 5. Dezember ein Zufall ist, besonders angesichts der Tatsache, dass gemäß der neuen Konstitution am 12. Dezember die Wahlen in den Obersten Sowjet stattfanden? Vielleicht geschah das rein zufällig, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass die „Kulaken-Operation“ ganz nebenbei die Wahlaufgabe entschied. Nach der Konstitution des Jahres 1936 gab es bereits niemanden mehr, dem das Wahlrecht entzogen war, und die ehemaligen Entrechteten, hauptsächlich enteignete Großbauern, erhielten zum ersten Mal nach 15-jähriger Unterbrechung das Stimmrecht zurück. Die Staatsmacht fürchtete sie ganz offenkundig – denn es gab Millionen ehemaliger Wahlrechtsentrechteter. Allerdings konnten sie auf den Wahlausgang keinen Einfluss nehmen, aber durchaus „den Festtag verderben“. Selbst nach dem Massenterror und der Säuberung des Wählerfeldes fanden sich im Lande noch mehr als sechshunderttausend Menschen, die dagegen wählten.

Aleksej Babij
Vorsitzender des Krasnojarsker „Memorial“
“Neue Zeitung“, 16. August 2017


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