Jedes Jahr am 30. Oktober wird in Russland der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen begangen
Prisajane_ Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen
"Sibirien… ein riesiges Gefängnis" schrieb bereits im 19.Jahrhundert der erste Gouverneur des Jenisseisker Gouvernements Aleksander Petrowitsch Stepanow. Und bis 1917 war Sibirien ein Ort der politischen Verbannung. Doch sein schwerwiegendster Ruhm steht mit dem 20. Jahrhundert in Verbindung. Praktisch alle Groß-Bauten stehen auf den Knochen von Gefangenen. Hunderttausende von ihnen wurden im Kraslag, Norillag, Gorlag, beim Jenissei-Bauprojekt und in anderen Lagern gehalten...
Ein Teil der Lager des Kraslag befand sich auf dem Territorium des Sajansker Bezirks mit Zentrum in der Siedlung Tugatsch (1938-1953).
Marin Klein und Samsonowka, wo Frauen untergebracht waren, die für alle Lager-Außenstellen Gemüse zogen (sogenannte Gefangenen-Siedlungen), Schweine und Rinder züchteten. Schidorba, Schaibino, Schamki, wo unter besonderer Aufsicht Männer gehalten wurden, die in der Holzbeschaffung arbeiteten. Mamsa, Bolschaja Retschka, Matwejew Kljutsch, wo Baracken standen, in denen freie Häftlinge lebten, die sich nicht unter strenger Bewachung befanden. Das ist die von der Jugend vergessene Geographie des Tugatschinsker Besserungs-/Arbeitslagers. Bis in unsere Tage haben Nachfahren der Gefangenen, die das Tugatschinsker Lager nach § 58 (politische Gründe) durchlaufen haben, versucht, Informationen darüber zu finden. Laut statistischen Angaben waren es am 1. Januar 1953 nicht wenige – etwa 4781 Personen, die alle aufgrund politischer Motive verurteilt wurden und ins Mahlwerk der Repressionsmaschinerie gerieten.
Diese Menschen hatten kein leichtes Schicksal. Seelische und körperliche Qualen betrafen nicht nur die Verfolgten selbst, sondern auch ihre Angehörigen und die ihnen Nahestehenden.
Das Thema der Verewigung der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen auf dem Territorium der Taiga-Siedlung Tugatsch kam mehrfach auf. Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde an der Stelle der einstigen Baracke mit verschärftem Regime ein Gedenkzeichen zu Ehren der Opfer der politischen Repressionen aufgestellt. Im Herbst 2016 stellte man am alten Friedhof des Kraslag, wo einige Jahrzehnte zuvor Häftlinge bestattet wurden, ein orthodoxes Kreuz auf. Anfangs hatte man geplant, es unmittelbar auf dem Friedhof zu errichten; man suchte einen Platz aus, fing an zu graben und förderte mit großem Schrecken menschliche Knochen zu Tage. Man legte die Gebeine in die Erde zurück, schüttete die Stelle wieder zu und brachte das Kreuz an einen Ort außerhalb des Friedhofsgeländes. Der Vorsteher der Kirche des Heiligen Wundertäters Nikolai in der Ortschaft Aginsk, Vater Johann Dolgow, weihte das Kreuz und hielt eine Totenmesse für die Dahingeschiedenen. Die Totenfeier fand an dem einzigen noch erhaltenen Grab mit halb verschütteter Holzeinzäunung und einem Kreuz statt, das vollständig von Moos und Flechten bewachsen war. Auf das Vorhandensein weiterer Begräbnisstätten weisen heute nur noch Gruben hin, über denen sich nach und nach Wald ausbreitet…
In dem Jahr wurde in der Siedlung Tugatsch der Startschuss für das Projekt zur Schaffung eines Museums und der Erarbeitung einer Touristenroute „Auf den Wegen des Kraslag“ gegeben. Initiatoren des Projekts waren das Ex-Oberhaupt des Dorfrats Tamara Petrowa und eine Gruppe von Einwohnern aus der Siedlung Tugatsch mit Unterstützung der Kulturabteilung der Sajansker Bezirksverwaltung. Eine große Rolle in dem Projekt fiel der Tugatschinsker Schule zu. Wertvolles Material über die Geschichte des Kraslag wurde von der Schulbibliothekarin Tamara Nikolajewa gesammelt.
Und dann eine neue Etappe.
2017 nahm das örtliche Museumsprojekt eine Weiterentwicklung und verwirklichte sich in der Idee, in der Siedlung Tugatsch ein Museum unter freiem Himmel entstehen zu lassen: „Streng geheim – das Tugatschinsker KrasLag“. Zudem sind auf dem Gelände der Siedlung bis in unsere Tage eine Anlage erhalten geblieben, die mit den Händen der Gefangenen entstand - der Friedhof, und so etwas gibt es praktisch auf keinem einzigen Territorium eines GULAG-Lagers.
Mitarbeiter des Sjansker Heimatkunde-Museums schrieben mit Unterstützung von
Partnern ein Projekt für die Teilnahme beim Allrussischen Wettbewerb „Kulturelles
Mosaik kleiner Städte und Ortschaften“ aus. Zuerst kam das Vorhaben ins
Halbfinale, dann auch noch ins Finale und bekam für die Realisierung eine
Finanzierungszusage in Höhe von 568 108 Rubel.
Berater in dem Projekt sind der Vorsitzender der Krasnojarsker Gesellschaft für
Geschichtsaufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge "Memorial" – Aleksej
Babij, sowie die verdiente Pädagogin und Historikern Ljudmila Miller.
Zur Verwirklichung dieses zweifellos notwendigen Projekts schalteten sich auch Partner-Organisationen ein: die Verwaltung des Sajansker Bezirks, die Tugatschinsker Mittelschule, das Jugendzentrum „Sajany“, die Abteilung für Bildung sowie das Archiv des Sajansker Bezirks, die Sajansker Filiale des staatlichen Unternehmens "KraiDEO", die Sajansker Bezirkszeitung „Prisajane“.
Am 8. Oktober fand in der Siedlung Tugatsch eine Bürger-Versammlung statt, auf der die Notwendigkeit eines Museums unter freiem Himmel „Streng geheim – das Tugatschinsker KrasLag“ erörtert wurde. Daran nahmen sowohl Vertreter der Administration des Sajansker Bezirks und des Bezirks-Deputiertenrats, wie auch der Vorsitzende der regionalen „Memorial“-Organisation Aleksej Babij, Pädagogen der Tuagtschinsker Schule sowie Schüler und Nachfahren ehemaliger Häftlinge des Tugatschinsker Lagers teil.
Die Tragödie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betraf die Schicksale von sehr, sehr vielen Bürgern des Landes, die in die Mühlen der Massen-Verhaftungen, Aussiedlungen, Erschießungen gerieten. Als Gedenkdatum dienten die Ereignisse des 30. Oktober 1974, als politische Gefangene der mordwinischen und Permer Lager den Hungerstreik erklärten – als Zeichen ihres Protestes gegen die politischen Repressionen in der UdSSR. Seit der Zeit begingen sowjetische Polithäftlinge jedes Jahr den 30. Oktober als Tag des politischen Gefangenen. Offiziell wurde der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen gemäß Anordnung des Obersten Sowjets der UdSSR erstmalig 1991 begangen.
Die Bewohner der Siedlung haben heute unterschiedliche Meinungen zum Anlass der Realisierung des Projekts. Einige sind der Meinung, dass „es nicht nötig ist, diese schreckliche Geschichte wieder auszugraben, da die aus dem Lager freigelassenen Häftlinge, die aufgrund von Strafrechtsparagraphen eingesessen hätten, den Einwohnern der Siedlung eine Menge Unheil und Kummer eingebracht hätten“. Aber die meisten Einwohner von Tugatsch, unter denen sich zahlreiche Abkömmlinge von Repressionsopfern befinden, sin der Ansicht, dass man die Geschichte bewahren muss. Es ist wichtig die Erinnerung an die aus dem Leben geschiedenen, unschuldigen Menschen zu wahren – talentierter und beherzter Leute, welche die Kerker der Lager durchlaufen haben und nicht daran zugrunde gegangen sind.
"Unsere Familie hat sich lediglich deswegen schuldig gemacht, weil sie vier Kühe und vier Pferde hielt, - erinnert sich eine der Einwohnerinnen von Tugatsch, - dafür wurden sie als angebliche Großbauern enteignet. Ja, ich weiß noch, dass es in der Siedlung viele Kriminelle gab, aber die Zahl der politisch Verfolgten war noch viel größer – intelligente Leute, für die die Strafrechtsparagraphen nicht galten. Ich denke es ist richtig, jetzt ein Museum zu schaffen. Es ist nötig, dass eine Erinnerung an die Menschen bleibt, die unschuldig gelitten haben".
"Vom Kraslag ist heute nichts mehr übriggeblieben, - erzählt die Einwohnerin der Siedlung Tatjana Perzewa. – Hier gab es Wachtürme, und hier war die Lagerzone. Vom Hügel hinter dem Flüsschen Tugatsch sah alles aus wie auf der Handfläche. Es ist wichtig, dass unsere Nachfahren sich an ihre Vergangenheit erinnern und die Fehler ihrer Vorfahren in der Zukunft nicht wiederholen".
- Das Projekt verfügt über eine einzigartige Besonderheit – nirgendwo in der Region Krasnojarsk hat man Lagerzone zu einem Museum gemacht, in keinerlei Form. Nicht einmal das einzige erhalten gebliebene Lager am Bauprojekt 503 „Salechard-Igarka“ konnte vom Igarsker Museum in ein Museumsobjekt verwandelt werden. Daher ist der einzige Ort, an den man Interessierte bringen kann, um sich ein ehemaliges Lager anzuschauen - Tugatsch. Und das befindet sich immerhin nur vier Stunden von Krasnojarsk entfernt und nicht mehr als tausend Kilometer bis nach Igarka.
Es ist sehr wichtig, den Lagerfriedhof zu einem Ort zu machen, der für eine wirtschaftliche Nutzung geschlossen ist. Natürlich muss man ihn ausstatten, sauber halten, aber es ist wichtig, dass dort keine Bäume geschlagen werden, man keinen Sand von dort beschafft usw. Der Ort soll den Status einer Gedenkstätte haben.
Die Initiative der Schule Zeugnisse zu sammeln ist sehr wertvoll. Denn das Projekt hat zwei Bestandteile: einen Objekt-Teil (Wiederherstellung von Baracken, Hinweisschilder, Gedenkzeichen usw.) und einen Dokumentar-Teil. So lange es noch lebende Zeugen gibt, muss man sie befragen, aufschreiben, Fotos und Dokumente sammeln. Das, was in der Schule getan wird, ist gleich von zweifacher Wichtigkeit – hier findet nicht nur Forschungsarbeit statt, hier gibt es auch einen erzieherischen Wert.
Die Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ist bereit, an dem Projekt unter maximaler Mitwirkung teilzunehmen. Es bedeutet uns sehr viel. Wir haben bereits sämtliche bei uns befindlichen Dokumente, Erinnerungen usw. Übergeben, und sind bereit, jede Art von Beratung zu geben, beim Erstellen einer vollständigen Liste der Häftlinge des Tugatschinsker Lagers mitzuwirken.
Autorinen:Jelena Koslowa, Irina Majazkich
„Prisajane“, 23.10.2017