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Zur Ansiedlung für immer

Der Leiter der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft Aleksej Babij schreibt seit dreißig Jahren am „Buch der Erinnerung“ an die Opfer der Repressionen und es scheint, als ob er bereits persönlich diejenigen kennt, die in den Kerkern der Stalinistischen Lager verschwanden. Einmal schleppte dieser Mann 12 Bände seines Buches zur Wache des Bürgermeister-Büros und begleitete sie mit der Notiz: „Hier sind mehr als 600000 Menschen, in den Jahren des Stalinismus verhaftete und erschossene; auch ihre Meinung muss berücksichtigt werden, denn durch ihren Tod haben sie bereits gewählt“. So trat er gegen das Stalin-Denkmal an, welches in Krasnojarsk errichtet werden sollte, einer der Hauptverbannungsregionen der UdSSR.

Zur ewigen Ansiedlung – in die Region Krasnojarsk


Jurij Schewtschuk mit dem Portrait eines Verwandten

- Aleksej Andrejewitsch, vor einigen Jahren haben sie das Schicksal des verfolgten Großvaters des Rock-Musikers Jurij Schewtschuk rekonstruiert. In der Region Krasnojarsk verbüßten auch andere Angehörige bekannter Leute, aber auch sie selbst, ihre Strafe. Erzählen Sie von ihnen.

- Der Gründer der Gruppe DDT teilte im Internet mit, dass er gern mehr über seinen Verwandten und dessen Begräbnisort erfahren würde. Ich sah seine Bitte und beschloss ihn zu finden. Und im vergangenen Jahr ist es uns tatsächlich gelungen, Informationen über den verfolgten Großvater Jurij Schewtschuks, Sosfen Iwanowitsch, zu finden, der in der Region Krasnojarsk starb und hier auch begraben wurde.

Diese Angaben wahren lange Zeit in den Archiven des FSB verwahrt und gerieten erst kürzlich ins Buch der Erinnerung. Es stellte sich heraus, dass die Familie Schewtschuk in den dreißiger Jahren als Großbauern enteignet und nach Sibirien verbannt worden war. Sie lebten in Baracken eines forstwirtschaftlichen Betriebs in der Nähe von Kansk (einer Stadt 200 km östlich von Krasnojarsk). Dort wurde Sosfen Iwanowitsch 1937 wegen konterrevolutionärer Tätigkeit erschossen. Ich schickte den Band des Buches der Erinnerung, in dem die Informationen über ihn stand, nach Sankt-Petersburg. Bis heute ist nicht bekannt, wo genau sich sein Grab befindet. Falls es uns gelingt, auch das noch herausfinden, werden wir es dem Musiker selbstverständlich sofort mitteilen.


Sosfen Iwanowitsch Schewtschuk
Verhaftet am 9. September 1937, angeklagt wehen konterrevolutionärer Tätigkeit ÊÐÎ. Verurteilt am 3. November 1937 von einer Troika der NKWD-Behörde der Region Krasnojarsk zur Höchststrafe. Erschossen am 11. November1937 in Kansk. Rehabilitiert am 24. April 1956.

-Und Georgij Schschonow, der Schauspieler? Das ist natürlich der bekannteste Mann unserer Region, den die Repressionsmaschinerie wie eine Walze zerdrückte...

- Ja, siebzehn Jahre irrte er in Stalinistischen Lagern und Verbannungsorten umher. Fünf davon verbrachte Schschonow in Norilsk, im Norden der Region Krasnojarsk. Die Geheimhaltung seiner Personenakte wurde nach mehr als 50 Jahren aufgehoben und befindet sich jetzt bei der Krasnojarsker MWD-Behörde. Eine Kopie der Akte schenkte man ihm, als der Schauspieler nach Krasnojarsk kam. In ihr befinden sich Gesuche und Bittschreiben, dass man ihn in entsprechend seiner Berufsausbildung arbeiten lassen möge: Rollen spielen, als Regisseur tätig sein.
Beispielsweise folgende:

„Ich bitte Sie inständig, mich bei meinen Bemühungen um Aufhebung der Verbannung zu unterstützen. Ich befinde mich seit nunmehr fünf Jahren in der Verbannung. Seit vier Jahren arbeite ich am Norilsker Dramaturgie-Theater, ich bin Künstler. Meine gewissenhafte Arbeit lässt sich durch meine Arbeitsbeurteilung, mein Arbeitsbuch und die Reaktion der Zuschauer bestätigen“.

„Seit mehr als sechzehn Jahren erkläre ich immer wieder, dass ich kein Verbrecher bin! Ich war nie kriminell, sondern war bin und bleibe ein aufrichtiger Mensch und Bürger meines Landes. Begreifen Sie doch, dass weder moralische noch physische Kräfte diese sinnlose Verbannung weiterhin ertragen können“.

Ebenfalls verbüßte Atchen Nalbandjan bei uns ihre Strafe, die Mutter des berühmten Barden Bulat Okudschawa. Erst 1945 wurde sie entlassen, aber ein Wiedersehen mit ihrem Sohn war ihr nicht mehr möglich; schon bald nach ihrer Freilassung verstarb sie.


Georgij Stepanowitsch Schschonow

Zum ersten Mal verurteilten sie ihn 1937 wegen „Spionage-Tätigkeit“ und schickten ihn an die Kolyma. Eine Gruppe von Filmschauspielern, unter denen sich auch Schoschonow befand, fuhr für Dreharbeiten nach Komsomolsk-am-Amur, und die Schauspieler unterhielten sich mit einem vorbeireisenden amerikanischen Diplomaten. Alle ausländischen Diplomaten wurden unaufhörlich verfolgt. Und schon bald geriet die Liste derer, die mit ihm Kontakt gehabt hatten auf den Tisch des NKWD. Schschonow war zu dem Zeitpunkt bereits der Verwandte eines verurteilten „Volksfeindes“ und galt deswegen als allerbester Kandidat für eine Anklage wegen Spionage. Sie brummten ihm fünf Jahre Lagerhaft auf, die sich letztendlich über siebzehn Jahre hinzogen. 1949 verurteilten sie ihn erneut und schickten ihn nach Norilsk. 1954 wurde der Künstler schließlich freigelassen. Wegen einer erlogenen Anklage musste der Schauspieler sich 17 Jahre lang in Lagern und in der Verbannung umherirren.


Sawelij Kramarow und Viktor Kramarow

- Stimmte es, dass auch Sawelij Kramarow seinen Vater nicht wiedersah?

- Sawelik Kramarows Vater, Viktor Kramarow, wurde zweimal eingesperrt. Als sie den Vater fortholten, war Sawelij noch klein. Im Aktenmaterial befindet sich eine Notiz, in der es heißt, dass die Mutter den kleinen Sawelij nur ein einziges Mal zum Vater mitnahm, als er sich in der Sonderansiedlung in Sibirien befand. Danach hat der Sohn den Vater nie mehr gesehen.

Zwei Jahre nach der Freilassung, im Jahre 1950, verurteilten sie Viktor Kramarow ein zweites Mal als Wiederholungstäter. Und 1951 erhängte er sich... 1978 schrieb Sawelij Kramarow ein Gesuch an die Krasnojarsker Hauptverwaltung für innere Angelegenheiten, und man antwortete ihm, dass „sich sein Vater in der Verbannung in Turuchansk befunden hätte und in seinem Haus in der Lytkin-Straße 20, Turuchansk, verstorben“ sei. Doch darüber, dass er seinem Leben durch Selbstmord ein Ende gesetzt hatte, fand sich kein einziges Wort.


Olga Stefanowna Michailowa-Budjonnaja

Die Ehefrau Marschall Budjonnys. Sie wurde im August 1937 verhaftet. Im August 1945 ließ man sie frei. Rehabilitiert im Sommer 1955. In der Akte findet sich der Hinweis, dass „Michailowa aufgrund ihres Verbrechens nach Ende der Haftstrafe nicht entlassen werden kann. Sie ist bis zum Ablauf der Gültigkeit der Direktive 185 im Gefängnis zu belassen“.

1948 brachte man die Ehefrau Marschall Semjon Budjonnys, Olga Stefanowna Michailowa-Budjonnaja, nach Jenisseisk (Stadt im Norden der Region Krasnojarsk) in die Verbannung. Sie war Künstlerin am Moskauer Akademie-Theater gewesen, man hatte sie wegen „Spionage-Verbindungen“ verhaftet.

Es gibt Informationen, nach denen sie in Moskau während eines Konzerts im Theater verhaftet wurde... in einem Kleid, Lackschuhen und einem dünnen Kopftuch. Fünf Jahre verbüßte sie ihre erste Haftstrafe, im Wladimirer Gefängnis, danach schickte man sie in die Verbannung. In Jenisseisk meinte der Gefängnisleiter, dass man sie als französische Spion verhaftet hätte, vermutlich deswegen, weil sie die französische Sprache in ganzer Vollkommenheit beherrschte.

Es ist bekannt, dass Budjonny versuchte, sich für seine Frau einzusetzen, er schrieb Briefe zu ihrer Verteidigung, doch alle Bemühungen waren vergeblich.

- Wessen Schicksal war ihrer Meinung nach am tragischsten?

- Das war wohl das Schicksal der Tochter der Poetin Marina Zwetajewa, Ariadne Efron. Das Mädchen wurde verhaftet, als es 26 Jahre alt war; man verurteilte es zu 8 Jahren Lagerhaft. Und nach der Freilassung schickte man es in die Verbannung in den Turuchansker Bezirk, das liegt im Hohen Norden. Sie arbeitete als Reinmachefrau in der Schule. Später hatte man Erbarmen mit ihr und verlegte sie als Künstlerin in den Klub. 1955 wurde sie entlassen. Doch von ihren Verwandten war zu dem Zeitpunkt bereits keiner mehr am Leben. Ihren Vater hatten sie 1941 erschossen, die Mutter, Marina Zwetajewa, nahm sich kurz darauf selber das Leben. Bruder Georgij fiel 1944 an der Front.


Ariadna Efron

Ariadna Efron wurde 27 August 1939 wegen Spionage verhaftet. Eineinhalb Jahre lang gab es keinerlei Nachricht über ihren Verbleib. Nachdem sie 8 Jahre verbüßt hatte, kehrte sie 1948 nach Rjasan zurück. Aber im Februar 1949 wurde sie erneut aufgrund der selben erdachten Beschuldigung verhaftet und wegen „Spionage zu Gunsten der französischen Aufklärung“ angeklagt. Am 18. Mai 1949 wurde Efron zur ewigen Ansiedlung nach Turuchansk verbannt. Im Februar 1955 kam sie aus Mangel an Tatbestand frei.


Jekaterina Aleksandrowna Maksimowa

Ehefrau des legendären sowjetischen Aufklärers Richard Sorge. 1942 in Moskau verhaftet, verurteilt zu 5 Jahren Verbannung in der Region Krasnojarsk. Sie verbüßte die Verbannungsstrafe in Bolschaja Murta, wo sie auch starb. Todesursache: Hirnblutung mit nachfolgendem Stillstand des Atemzentrums. Das Grab konnte nicht ermittelt werden. Es ist Jekaterina Maksimowa bis heute nicht gelungen, sich mit der Ermittlungsakte vertraut zu machen.


Der Sohn von Nikolaj Gumiljew und Anna Achmatowa. Verhaftet 1938, verurteilt zu 5 Jahren. Erneut verhaftet 1948 zu 10 Jahren. Freigelassen 1956.

Niemand dachte, dass eine Rehabilitierung möglich wäre.

- Soweit ich weiß, ist die Region Krasnojarsk – eine der Hauptverbannungsregionen jener Zeit. Welche Beweise gibt es dafür?

- Das ist tatsächlich so. Für gewöhnlich meint man, wenn von den Repressionen die Rede ist, Erschießungen oder Lagerhaft. Obwohl, in der Tat, die Sondersiedlungen eine viel zahlreichere Erscheinung darstellten. Es handelt sich dabei um enteignete Großbauern, deportierte Balten, Deutsche, Finnen, Griechen, Kalmücken. Dazu kommen noch die befristete und die unbefristete Verbannung sowie die Verbannung nach dem Ende der Lagerhaft.

Gerade in die Region Krasnojarsk schickte man die „Wiederholungstäter“ – jene, die 1937 eingesperrt worden waren und den Mut besaßen, 1947 immer noch am Leben zu sein, um in die Freiheit entlassen zu werden. Den Behörden gefiel das nicht. Und so begannen sie 1949 damit, die Leute ein weiteres Mal zu verhaften, und zwar mit derselben Beschuldigung wie schon das Mal zuvor, obwohl sie die Strafe bereits abgesessen hatten. Die Menschen begriffen nicht, was das sollte, und so erklärte man ihnen wohl, dass sie noch nicht auf den rechten Weg gekommen seien. Nur wurden sie diesmal nicht ins Lager geschickt, sondern in die ewige Verbannung, vorwiegend in den Norden der Region Krasnojarsk.

So befand sich die Region Krasnojarsk in diesem Sinne unter den drei Ersten in der UdSSR. Es ist nicht nur die Region der Lager, sondern auch die der Verbannten, in der es ganz besonders viele Sonderumsiedler gab.

1991 wurde das Gesetz der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen“ verabschiedet. Doch es begann erst 1992 real zu greifen. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, dass diese Menschen erst in unserer Jetztzeit freigesprochen wurden.

In den zwanzig Jahren unserer Arbeit hat die Krasnojarsker Filiale für Sonderfonds der Staatlichen Behörde für innere Angelegenheiten ungefähr eine halbe Million Rehabilitationsbescheinigungen ausgestellt. Dabei haben nur diejenigen ein solches Dokument erhalten, die, erstens, zu dieser Zeit noch am Leben sind und ihren Status erfahren haben, zweitens, einen Antrag auf die Bescheinigung stellten, und, drittens, über die alle dazu erforderlichen Dokumente auffindbar waren!

- Das heißt – in Wirklichkeit ist ihre Zahl noch viel höher?

- Ja, denn zahlreiche Dokumente sind verloren gegangen. Von den enteigneten Groß-Bauern, die in die Sonderumsiedlung gerieten, wurden 1959 alle Melde-Dokumente, entsprechend ihrer Aufbewahrungsfrist, vernichtet, und das geschah nicht in böser Absicht. Schließlich hat damals niemand daran gedacht, dass eine Rehabilitierung dieser Menschen eines Tages möglich werden könnte.

Deswegen gibt die hohe Zahl derer, die eine Bescheinigung erhielten – eine halbe Million, nur eine unbedeutende Anzahl der Menschen wider, die unter den Repressionen zu leiden hatten. Stellen Sie sich eine Bauernfamilie vor, die vollständig ausgeplündert und dann an einen fremden Ort gebracht wurde. Nehmen wir an, dass bis in die Jahr 2000-er Jahre wenigstens eines der Kinder dieser Familie gelebt hat. Dann konnte wenigstens dieses überlebende Kind nur für sich, für einen oder beide Elternteile bekommen. Allen anderen blieb die Aushändigung einer Bescheinigung versagt.

Die Frauen in der Sonderfond-Abteilung arbeiteten ohne freie Tage; sie gaben bis zu 100 Bescheinigungen pro Tag aus! Dabei hatten sie noch nicht einmal Schreibmaschinen zur Verfügung, sie schrieben alles mit der Hand. Laut Gesetz sollten sie eine Anfrage innerhalb eines Monats beantworten, daher stellten sie nur Bescheinigungen für diejenigen aus, die einen entsprechenden Antrag gestellt hatten. Es war einfach unrealistisch, für jedes einzelne Familienmitglied eine gesonderte Bescheinigung auszustellen.

In den Jahren 1930-1931 schickte man zahlreiche enteignete Bauern aus dem Baikal-Gebiet zu uns in die Region. Später, 1937, verhaftete man sie als japanische Spione im Rahmen der „Charbiner Operation“. Verhaftet wurden vorwiegend diejenigen, die mit der Chinesisch-Fernöstlichen Eisenbahnlinie in Verbindung standen, aber gleichzeitig auch die, welche unweit von China lebten – im Baikal- und im Primorje-Gebiet.

- Welche Spur in den Familien hinterließ die Geschichte der Chinesisch-Fernöstlichen Eisenbahn?

- Schaut man sich auf der Karte den östlichen Teil Russlands an, so sieht man dort einen Vorsprung, einen Buckel – das ist die Mandschurei. Als sie die Transsibirische Eisenbahnlinie bauten, entschlossen sie sich, zusätzlich kurzweg eine Verlängerung der Bahntrasse von Tschita nach Wladiwostok zu bauen. So ließen sich damals 2-3 Tage und Nächte Fahrzeit einsparen. Man kaufte diesen Landstreifen von China und begann mit dem Bau, um gleichzeitig auch die Infrastruktur in der Region zu entwickeln, damit die Arbeiter mit ihren Familien dorthin kommen konnten. So bildete sich dort eine russische Kolonie. 1929 kam es zu einem Konflikt bei der Chinesisch-Fernöstlichen Eisenbahn, und die Bahnlinie ging an China über, und später – an Japan. Alle, die nach diesem Ereignis in die UdSSR zurückkehrten, wurden für „japanische Spione“ gehalten und erschossen.

Russisch-japanische Liebe und ein ewiger Schüler

- Wessen Schicksal hinterließ die größte Spur in Ihrer Seele?

- Ich werde niemals die Geschichte der Familie Tobari vergessen. Diese Familie blieb an der Chinesisch-Fernöstlichen Bahnlinie, nachdem dort die Japaner die Macht übernommen hatten. Und einer der Beamten der Charbiner Verwaltung, Katsumi Tobari, verliebte sich in die russische Kellnerin Valentina. Sie war 16 Jahre alt, er 32. Sie war zutiefst gläubig, entstammte einer orthodoxen Familie, er war Buddhist. Die Eltern waren lange gegen diese Verbindung, doch es gelang ihnen, diesen Widerstand zu überwinden und zusammen zu sein. Ein Zimmer in ihrem Haus war japanisch eingerichtet: dort lagen Reisstroh-Matten, das andere Zimmer war russisch, ausgestattet mit einem Läufer. Um die geliebte Frau heiraten zu können, musste Katsumi zum orthodoxen Glauben übertreten und den russischen Vornamen Viktor annehmen.

1945 marschierte die Rote Armee in Charbin ein, und Viktor nahm sich das Leben. Seine Frau verschwand. 60 Jahre lang wusste die japanische Verwandtschaft nicht, wo sie geblieben waren und was mit ihnen geschehen war. Die Angehörigen suchten sie, schrieben Anfragen nach China und an die UdSSR, doch alles war vergeblich. Es stellte sich heraus, dass sie nach den Ereignissen an der Chinesisch-Fernöstlichen Bahnlinie zunächst nach Sachalin und später nach Krasnojarsk geraten waren. Schließlich war es ein Zufall, der ihnen bei der Suche zu Hilfe kam.

Valentinas ältester Bruder Wladimir arbeitete in Charbin als Übersetzer, und als die Rote Armee kam, wurde er als erster verhaftet. Er saß seine Strafe ab, und als er aus dem Gefängnis kam, fuhr er nach Krasnojarsk – zu seiner Schwester Valentina. Ende der achtziger Jahre tauchte er bei unserem Memorial auf und erzählte seine Geschichte. Wir stellten sie ins Internet. Und nach einiger Zeit erhielt ich einen E-Mail von einem japanischen Professor aus Tokio.


Viktor und Valentina Tobari. Auf dem Foto rechts – mit Töchterchen Vera


Die Familie Tobari


Die japanischen Verwandten von Vera Tobari


Begrüßung der Tobaris am Flughafen

- Das gibt es doch nicht! Das ist ja unglaublich.

- Ein Japaner mit Namen Masami Tobari erkundigte sich, ob in Krasnojarsk keine Umsiedler namens Schawkunow (Valentinas Mädchenname) aus der Mandschurei wohnten. Sein Onkel Katsumi habe einst die Russin Valentina Schawkunowa geheiratet, sie hätten Kinder bekommen, doch nach den militärischen Handlungen in der Mandschurei im Jahre 1945 sei Katsumi umgekommen, aber über das Schicksal seiner Frau und der Kinder wäre nichts bekannt.

Er schrieb, dass er seine Verwandten seit langem suche und dass russische Freunde ihm empfohlen hätten, im Internet nach Valentinas Familiennamen zu suchen, und so war er an Memorial geraten.
Das ging mir mitten durchs Herz, das ist unsere Geschichte!

Valentinas Bruder weilte schon längst nicht mehr unter den Lebenden, aber ich fand seine Telefonnummer noch – und wählte. Seine Nichte Vera Tobari nahm den Hörer ab – die Tochter von Katsumi und Valentina Tobari! Bis heute trug Vera noch den japanischen Nachnamen ihres Vaters. Ich bat sie um ihre Erlaubnis, ihre Telefonnummer dem japanischen Professor zu geben, und nach eineinhalb Stunden standen sie bereits in telefonischem Kontakt.

Später reiste sie zu Besuch nach Japan. Trotz ihres Alters war diese Frau sehr schön, eine wunderbare Kombination aus russischem und japanischem Blut. Sie arbeitete in der Pokrowsker Kirche und war eine echte Christin, brachte alles zum Leuchten, obwohl sie so viel durchgemacht hatte. Man bat Vera in Japan zu bleiben, versprach ihr volle Unterstützung an. Aber sie konnte nicht – sie sagte, dass es dort sehr wenige Kirchen gäbe.

- Können Sie sich an eine Geschichte erinnern, in der Menschen stoisch ihre Entbehrungen ertrugen und nicht in ihrer Seele zerbrachen? Eine Geschichte, die Sie ganz besonders berührt hat?

- Sehr berührt hat mich der Fall des Wladimir Grigorewitsch Worobjew. Der junge Bursche, er war 19 Jahre alt, war in einem Kinderheim tätig. Er verstand sich mit dem Leiter nicht gut, und der denunzierte ihn schriftlich, einfach so, ohne jeglichen Grund. 1949 wurde Wladimir festgenommen. Und während er in der Zelle saß fing er an, alles zu lernen, was möglich war.

Saß ein Mathematiker bei ihm in der Zelle – löste er Rechenaufgaben, war dort ein Musiker – befasste er sich mit Musiktheorie, studierte Gesang. Danach verlegte man ihn ins Norillag, wo viele Leute aus Kunst und Wissenschaft einsaßen, von denen er ebenfalls lernte. Später geriet er in den Ural, wo die Arbeitszone sich in vier Kilometer Entfernung vom Wohnbereich befand. Jeden Tag ging er unter Wachbegleitung mit einem Professor für westliche Philosophie aus Holland zu Fuß hin und zurück.

Pro Tag konnte er sich bei ihm zwei Vorlesungen anhören, eine auf dem Hin-, die andere auf dem Rückweg. Insgesamt lernte er während seiner Inhaftierung im Lager 5 Sprachen, bildete sich in Philosophie und Naturwissenschaften, sammelte mit einem Zellengenossen, der Botaniker war, Arzneipflanzen fürs Herbarium. Von Lager zu Lager schleppte er eine riesige Bibliothek mit sich.

Da er wegen eines ihm zugeschriebenen Fluchtversuchs als Wiederholungstäter galt, entließ man ihn nicht 1956, wie die meisten anderen, sondern erst im Jahre 1964. Er ging in die Freiheit, begab sich in seinen Heimatort, heiratete eine Lehrerin und lebte bis 1992. Sein ganzes verbleibendes Leben hatte er regen Briefwechsel mit einer riesigen Anzahl Menschen überall in der Welt, deren Bekanntschaft er in den Lagern gemacht hatte. Leider befasste sich niemand mit seinem Archiv – seine Aufzeichnungen wurden im Ofen verbrannt. Jetzt bemüht sich das Bezirksmuseum darum, noch irgendwelche Nachlässe zu verwahren.

Seit 30 Jahren sammeln wir Dokumente, und es ist noch kein Ende abzusehen

- Arbeiten Sie nur mit Dokumenten? Ist es denn nicht notwendig, auch Begegnungen mit Menschen als lebende Zeugen jener schrecklichen Jahre zu haben?

- Von Anfang an, als es noch keinen freien Zugang zu Computern gab, beschafften wir Lochkarten und schrieben darauf die Namen uns bekannter Repressionsopfer – damit legten wir den Grundstein für unser Archiv. Seit der Zeit, seit nunmehr dreißig Jahren, sammeln und digitalisieren wir Dokumente, und es ist immer noch kein Ende in Sicht. Dank unserer Mitarbeiter erhielten tausende Repressionsopfer ihre Rehabilitationsbescheinigung. Zuerst bearbeiteten wir die aufgedeckten Informationen, befragten Menschen und erstellten eine Liste der Repressionsopfer. Parallel dazu sammelten wir Zeitungsausschnitte und Dokumente.

Nach 1992 wurden die Behörden-Archive geöffnet, und unsere Leute begaben dorthin, als ob sie zur Arbeit gingen. Später gelangten wir an die Erschießungslisten. Beim NKWD lagen solche Erschießungslisten, mit sämtlichen Unterschriften, wo es eine Unmenge Hinweise gab – wer, wo, wann. Jetzt gelangen diese Listen in den Computer unter werden auf unsere Internetseite gestellt.

Vor knapp zwanzig Jahren gab es noch sehr viele lebende Häftlinge des GULAG, wir befragten sie und zeichneten das Gesagte auf. Heute ist niemand von ihnen mehr am Leben. Und im besten Fall kann man noch die Kinder der Sondersiedler befragen, doch sie erinnern sich kaum noch.

- Wenn Sie mit Nachfahren der Repressionsopfer zusammentreffen, sind die Ihnen dann für Ihre Arbeit dankbar? Ist es Ihnen wichtig, dass man sich erinnert oder wollen sie lieber vergessen?

- Häufig danken die Menschen uns in ihren Briefen dafür, dass wir ihrer Vorfahren gedenken, bitten um Rat, wie man Informationen über sie herausfinden kann, schicken selber Fotos und Erinnerungen an uns. Es kommt vor, dass sie herkommen, um sich die Orte anzuschauen, an denen ihre Väter und Großväter ihre Verbannungsstrafe verbüßten.

Buchstäblich vor einem Monat kam aus Frankreich der Sohn von Vera Lwowna Gilderman, die 1936 in Krasnojarsk verhaftet worden war, aus Frankreich angereist. Der Mann blickte auf das Gefängnis, in dem seine Mutter gesessen hatte, und nahm das Buch der Erinnerung mit, in dem über sie geschrieben steht. Ist es die Aufgabe, Informationen zu finden und an die Angehörigen heranzutragen oder ist das Ziel ein anderes?

- Wir wollen uns an jeden erinnern. Die Menschen wurden schließlich nicht nur ermordet, in die Verbannung verschleppt und in Lager gesteckt. Die Erinnerung an sie wurde ausgelöscht. In vielen Familien gibt es große „Löcher“ im Stammbaum – Menschen und ganze Zweige des Familien-Baumes, bei denen man sich bemüht hatte, sich ihrer nicht mehr zu erinnern, weil das gefährlich war. Die Wiederherstellung der Erinnerung ist – eine moralische Aufgabe.

Doch wichtig ist auch noch etwas anderes. Wenn man von den Repressionen spricht, dann „spazieren“ die Zahlen in sehr großen Grenzbereichen. Eine Million dorthin, eine Million hierhin… Aber das waren doch alles lebendige Menschen, wir müssen sie mit ihren Namen wiederaufleben lassen und nicht mit Zahlen aus den Melderegistern. Nur wenn wir eine vollständige Namensliste der Repressionsopfer erstellen, können wir von Zahlen sprechen.

- Haben Sie Angst, wenn Sie eine derartige Arbeit verrichten? Die Situation im Land hat sich verändert, so eine Tätigkeit wird nicht gefördert.

- Ich fühle eine große Verantwortung gegenüber den Menschen, die umgekommen sind. Deswegen ist nur eines für mich schrecklich – die Angst, dass ich diese Arbeit vielleicht nicht mehr zu Ende bringen kann. Die Zahl der Repressionsopfer, die mit der Region Krasnojarsk im Zusammenhang stehen, beträgt etwa eine Million. In unserer Datenbank befinden sich 180 000 Personen, wir wissen, wer sie sind, was mit ihnen geschah, diese Informationen sind im Internet zugängig. Das ist das Ergebnis der Arbeit, die zu tun uns im Laufe von 30 Jahren gelungen ist. Wenn in diesem Tempo weitergearbeitet wird, dann benötigen wir noch 150 Jahre mehr.

Ein paar Fotos und ein Geigenkasten

- Womit hat ihr persönliches Interesse an diesem Thema begonnen? Selbstverständlich gab es in jeder Familie in der Region Krasnojarsk irgendeinen, der im Gefängnis saß. War das bei Ihnen auch der Fall?
- Anfangs studierte ich tatsächlich die Geschichte meiner eigenen Familie. Und viele andere beginnen ebenso. Es ist unmöglich gleichgültig zu bleiben, wenn es dich ganz persönlich berührt. Meine Großeltern wurden 1937 in Nowosibirsk erschossen. Meine Mutter kam im Alter von 6 Jahren in ein Kinderheim; sie hatte kaum noch Erinnerungen an die Eltern. Alles, was ihr von ihnen blieb, sind ein paar Fotos und Stoffeinlage eines Futterals, welches einst als Kinder-Geigenkasten diente.

Anfang der 80-er Jahre war ich häufig aus beruflichen Gründen in Nowosibirsk und begann, diese Geschichte auszugraben. Ich hatte Glück, ich fand ihre Personenakten im Staatsarchiv. Sie wohnten an der Chinesisch-Fernöstlichen Eisenbahnlinie. Nachdem die Japaner dort das Sagen übernommen hatten, fiel die Familie meiner Vorfahren auseinander. Der Urgroßvater kehrte mit seinen zwei Töchtern und einem Sohn in d8ie UdSSR zurück, während die Urgroßmutter mit einer Tochter nach Amerika auswanderte. Ich habe übrigens erst kürzlich erfahren, dass meine Großtante in Amerika einen Sohn hatte, mein Großonkel, der Komponist war und die Musik zu dem Zeichentrickfilm „Tom & Jerry“ schrieb.

- Was geschah mit ihren Großeltern?

- Meine Großeltern wurden als japanische Spione erschossen, denn sie lebten auf einem Territorium, das von Japan besetzt war. Aber das war ihre Heimat, Großvater wurde in der Mandschurei geboren, an der Bahnstation Zizikar, Großmutter wohnte in Charbin – sie stammte aus einer Lehrerfamilie. Das reichte aus, um sie zu vernichten.

1987 begann in der UdSSR die Geschichte mit einem Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen – eine Gruppe nichtgleichgültiger Menschen beschloss Unterschriften „für“ die Aufstellung eines Monuments zu sammeln. In der „Literatur-Zeitung“ wurde ein Aufruf veröffentlicht, und in allen großen Städten des Landes wurde ebenfalls die Arbeit zum Sammeln von Unterschriften aufgenommen. Ich schloss mich dieser Aktivität in Krasnojarsk an.

So kam es, dass diese Vorgehensweise im ganzen Landå einen Prozess der Konsolidierung von Menschen ins Rollen brachte und die Hauptrolle bei der Entstehung unserer Organisation spielte. Anfangs nannte sie sich „Menschen-Schicksale“. Im Oktober 1988 wurden wir zum „Memorial“. Heute verfügen wir über Angaben zu 180000 Menschen in unserer Datenbank sowie 14 Bände des Buches der Erinnerung. Wir sind das Verbindungsglied bei der Suche nach Angehörigen, die Leute schreiben uns aus der ganzen Welt.

- Warum haben sie Bände des Buches der Erinnerung einmal ins Bürgermeisteramt der Stadt Krasnojarsk gebracht. Waren Sie davon überzeugt, dass Sie damit jene ausbremsen könnten, die sich versammelt hatten, um ein Stalin-Denkmal zu errichten?

- In Wirklichkeit erinnert diese Geschichte an eine schlechte Seifenoper – in Krasnojarsk wird in gewissen Abständen immer wieder versucht, ein Denkmal zu Ehren Stalins zu errichten, und wir leisten dagegen ebenso häufig erneuten Widerstand. Diesmal sammelten die Kommunisten eine bestimmte Anzahl Unterschriften für die Errichtung, und wir beschlossen, dem Bürgermeister unsere Unterschriften vorzulegen – im Buch der Erinnerung – zehntausende Familiennamen von Menschen, die dagegen gestimmt hätten… wenn sie noch am Leben gewesen wären.

- Sie wurden erschossen, in Lager und in die Verbannung getrieben, aber ihre Stimmen sollten trotzdem mitgezählt werden. In der Bürgermeisterei verhielt man sich gut gegenüber der Aktion; man nahm unser „Pud schweres“ Gesuch entgegen, und ich denke, dass es gleichzeitig auch eine entscheidende Rolle dabei spielte, dass das Denkmal damals nicht aufgestellt wurde.

Wenn Sie mit denen in einen Dialog treten würden, die versucht haben, ein Stalin-Denkmal zu errichten, was würden Sie ihnen als wichtigstes Anliegen sagen? Nehmen wir einmal an, dass sie nicht mehr als eine Minute Zeit hätten, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.

- Es ist zwecklos, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen, aber wenn man in aller Eile das wichtigste sagen soll, dann ist es – dass es den Stalin, den Sie verehren, gar nicht gegeben hat. Es ist ein Mythos, das Produkt einer jahrelangen Gehirnwäsche, Stalin ist eine Gestalt aus der Mythologie. Er war ein Meister der Public Relations.

Er verstand es äußerst geschickt, sich fremde Verdienste zu eigen zu machen und seine Schuld auf andere abzuwälzen. Er gab Jeschow persönlich eine Anweisung, und später stellte sich dann heraus, dass Jeschow ein Volksfeind war, den sie dann erschossen. In diesem Rummel um die Verewigung des Namens des Führers muss ich immer an den Kleinen Zaches denken. Es ist noch kein Mensch gefunden worden, dem es gelungen wäre, aus seinem toten Kopf ein Härchen herauszuziehen. Der Kopf ist tot, aber das Härchen darauf wächst noch.

Das Minimum für die Erschießungen erhöhen

- Was erschreckt Sie am meisten, wenn Sie jeden Tag auf die tragischen Schicksale von Menschen stoßen?

- Der Mechanismus, mit dem die Maschinerie der Verurteilungen arbeitete. Denn viele glauben heute noch, dass die Verurteilungen nach sowjetischen Gesetzen erfolgten. Aber alles, was damals geschah, entsprach nicht der Gesetzgebung. Es ga keine Gerichte, die Tschekisten verwiesen noch nicht einmal auf das Strafgesetzbuch, sondern benutzten alle möglichen Abkürzungen.

Alles war ungesetzlich, von der Begründung für die Verhaftung bis hin zu Vollstreckung des Urteils. Der Ermittlungsrichter unterschrieb die Anklageschrift, danach las niemand mehr die Akte, und sie wurde entweder nach Moskau zur Unterschrift durch Jeschow oder zur Überprüfung vor Ort durch eine „Troika“ geschickt. Und dort gibt es zwei Varianten: Erschießung oder 10 Jahre Gefängnis.

Auf die Regionen wurden bestimmte Mindestlimits erlassen. Nach dem ersten Limit mussten in der Region Krasnojarsk 750 Personen erschossen, 1 500 ins Lger geschickt werden. Wo nahmen sie diese Leute her? Bis heute galt, dass dies durch Denunzierungen geschah. In Wirklichkeit ereilte das Schicksal nicht sonderlich viele auf diesem Weg. Man machte es folgendermaßen: Beispielsweise war jemand als ehemaliger „Entrechteter“ registriert oder als einer, der von der Chinesisch-Fernöstlichen Eisenbahn gekommen war. Man nahm ihn fest und fragte ihn zuallererst, wen er kenne, mit wem er Umgang habe. Er ließ seinen Bekanntenkreis verlauten, man verhaftete die Menschen und befragte auch sie, wen sie kennen würden und mit wem sie Umgang hätten.

Und aus diesen Leuten bastelten sie sich dann eine antisowjetische Organisation zusammen und verhafteten sie allesamt. Alles verlief explosionsartig und war nun schon nicht mehr aufzuhalten. Auf Befehl Jeschows wurde die Möglichkeit erteilt, die Limits heraufzusetzen. Beim ersten Mal erhöhten die regionalen Tschekisten das Minimum auf 6 000 Personen, dann ein weiteres Mal um die gleiche Anzahl. Auf diese Weise wurden allein nach den „Protokollen der Troikas“ in der Region Krasnojarsk 12 000 Menschen erschossen. Es gab Tage, an denen jeweils 300-400Personen erschossen wurden.

- Aber wozu?! Um Erhöhung der Limits zu bitten!

- Um sich einzuschmeicheln. Die Kolchose produziert Getreide, das NKWD - Verhaftungen. So verdiente man sich einen höheren Dienstgrad, einen Reise-Gutschein nach Sotschi und andere Vergünstigungen. Brauchst du eine Wohnung – dann erschieß 200 Polen. Und der Tschekist pflügt die Erde um und macht sich auf die Suche nach diesen Polen. Die nationalen Operationen sind überhaupt die sinnlosesten, denn der Mensch macht sich allein deswegen schuldig, weil er eine „kriminelle“ Nationalität besitzt: er ist Pole, Deutscher, Lette, Este…

Die Maschinerie arbeitete exakt und verfügte faktisch über keinen Hinterausgang. Dasselbe war bei der Entkulakisierung der Fall. Die Grundlagen dafür sind lachhaft. Zwei Familien fielen beispielsweise der Enteignung anheim, weil sie Arbeiter eingestellt hatten. Dabei hatten sich die Nachbarn lediglich gegenseitig bei der Kornernte geholfen.

- Regte sich denn bei den Vollstreckern gar nicht das Gewissen, wurden sie nicht von Alpträumen gequält?

- Im Großen und Ganzen hatten sie keine Wahl. Wenn sie sich weigern den Befehl auszuführen, werden sie selber erschossen und eingesperrt. In Omsk gab es einen Fall, dass der Leiter des NKWD auf einer Sitzung bei Jeschow davon zu sprechen anfing, dass die Zahlen für die Erschießungen überhöht wären, denn es gäbe bei uns nicht so viele Menschen. Er wurde selber verhaftet, weil er Zweifel gehegt hatte. Aber es kam auch vor, dass NKWD-Leute erschossen wurden. Manchmal ist der Tod besser, als das Mitmachen.

- Gibt es ein konkretes Beispiel, nachdem ein Tschekist seinem Leben selber ein Ende setzte?

- In der Region Krasnojarsk ist mir kein konkretes Beispiel bekannt. Aber Aleksej Tepljakow, Erforscher der Staatssicherheitsorgane schreibt zum Beispiel:

„Der stellvertretende Leiter der Blagoweschensker Bezirksfiliale der NKWD-Behörden im Altaikreis, Seifulin, der, nach den Worten eines Kollegen, „mit den damals angeordneten Verhaftungen und Ermittlungsmethoden nicht einverstanden war, erschoss sich im Frühjahr 1938“.

- Wie sieht das typische Porträt eines NKWD-Mitarbeiters aus?

- Ein Mann mit wenig Bildung, zu Abenteuern geneigt, grob, der fremdes Leben nicht achtet (und oft auch sein eigenes) und sich einer besonderen Kate zugehörig sieht. Was die Repressionsopfer selbst betrifft, so ist ihr charakteristisches Merkmal – ein fehlendes Rachegefühl.

- Warum? Wollten sie ihren Peinigern wirklich nichts Böses?

- Ich denke, einer der Gründe dafür ist, dass unserem Volk konsequent, stufenweise und ganz geplant die Freiheit abgewöhnt wurde. Und um ihren Preis zu kennen, muss man frei sein. Ich erinnere mich, wie ich zu einer alten Frau kam und sie zu mir sagte: „Ich bin sogar dankbar dafür, dass sie mich eingesperrt haben, denn in Freiheit haben sie mir nur 500 g Brot gegeben. Aber im Lager, da hast du, wenn du dich angestrengt hast, 700 g bekommen. Das ist doch besser – oder etwa nicht?“.

Da haben wir das Ergebnis: der Mensch sieht die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Freiheit und Unfreiheit nicht mehr,

- Ist Ihnen denn eine Geschichte bekannt, in der es in ein- und derselben Familie sowohl Repressionsopfer als auch einen Henker gab? Viele sprechen heute vopn solchen Fällen.

- Ich kenne eine andere Geschichte, die sich in einer Siedlung ereignete, in der es seinerzeit ein Lager gab. Als man es schloss und die Häftlinge in die Freiheit entließ, konnten viele, vor allem die Deutschen, nirgend hinfahren, und so blieben sie dort. Die Wachen und Mitarbeiter der Lagerzone blieben zumeist auch dort, bauten sich kleine Häuschen und richteten sich für ihr weiteres Leben ein.

Sie heirateten auch untereinander. Und so heiratete ein Mädchen, dessen Vater Leiter des Strafisolators gewesen war, den Sohn eines ehemaligen Häftlings. Und zu unserer Zeit haben sie auf eigene Kosten in der Siedlung ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen errichtet. Die Frau hat damit das Andenken an den Vater ihres Ehemannes geehrt und sich vielleicht zugleich für ihren eigenen Vater entschuldigt. So verflocht sich dort also alles miteinander. Das Leben war noch viel schwieriger, als man es äußerlich sehen konnte.

- Was empfehlen Sie den Menschen, die die Wahrheit über ihre verfolgten Verwandten erfahren wollen? An wen sollen sie sich wenden? Welche einzelnen Schritte müssen sie tun?

- Für den Anfang muss man klären, wie die Person eigentlich verfolgt wurde. Ohne uns hier in Feinheiten zu ergehen, sagen wir, dass man die Opfer der politischen Repressionen in zwei Gruppen einteilen kann – diejenigen, die aufgrund politischer Motive verhaftet wurden und Sondersiedler.

Die Archiv-Ermittlungsakte über den Verhafteten wird in der Bezirksverwaltung des FSB der Region verwahrt, in der er festgenommen wurde. Hat man ihn seinerzeit beispielsweise im Orlowsker Gebiet verhaftet, dann befindet sie sich bei der Bezirksverwaltung des FSB im Orlowsker Gebiet. In einigen Regionen übergab man die Akten an die Staatsarchive, aber beim FSB wissen sie, wo man die Anfrage einreichen muss.

Sofern man den Verhafteten in ein Lager geschickt hat, aber Sie wissen nicht, in welches, kann man sich an folgende Anschrift wenden: 117469 Moskau, Nowotscheremuschkinsker Straße 67. Das ist das Haupt-Informationszentrum des MWD. Falls Sie es ungefähr wissen (z.B. in der Region Krasnojarsk), muss die Anfrage an die Behörde für innere Angelegenheiten in der betreffenden Region gesendet werden.

Hierhin sind auch Anfragen über Sondersiedler zu richten. Außerdem gibt es genauere Anweisungen auf der Seite "Ëè÷íîå äåëî êàæäîãî" („Die persönliche Akte eines jeden“; Anm. d. Übers.).

Text: Swetlana Chustik

Fotos: Ilja Naimuschin sowie aus dem Archivder Krasnojarsker „Memorial“-Organisation
© Pravmir.Ru 30.10.2017


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