In dieser Woche gedachten die Einwohner Russlands der Opfer der politischen Repressionenñèé. Sie ehrten das Andenken an jene, die ungesetzlich verhaftet und erschossen, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die Verbannung geschickt wurden. In der Region Krasnojarsk beträgt ihre Zahl über 50000.
Den Brief an sein vierjähriges Töchterchen schrieb Jewgenij Aleksejewitsch Ljadowskij aus der Verbannung. Er wurde zweimal verhaftet: angeblich wegen Spionage zugunsten Polens. Seine ganze Schuld – der polnische Nachname und der Geburtsort, mehr nichtåå. Von Beruf war Jewgenij Aleksejewitsch Buchhalter.
Das erste Mal beschuldigten sie ihn 1939 – bereits unter der Abschwächung des „Großen Terrors“ – und schickten ihn in den Ural, ins Iwdellag. Dort begegnete er seiner zukünftigen Ehefrau, dort wurde auch Ljubow Jewgenjewna geboren. 1949 wird er ein zweites Mal wegen der gleichen Anklage verhaftet. Sie schicken ihn in den Motyginsker Bezirk. Die Verbannung dauerte bis 1957.
„Ich erinnere mich, dass sie mich weckten, zum Vater brachten, damit ich mich von ihm verabschieden konnte. Ich weiß auch noch, dass in unserem Zimmer Leute in hüftlangen Uniform-Oberteilen standen, dass eine Durchsuchung stattfand. Der Vater verabschiedete sich von mir, und dann brachten sie ihn fort. Und dann habe ich ihn viele Jahre nicht mehr gesehen.
Ich war noch zu klein, als Vater starb, 12 Jahre war ich damals alt, das war 1958. Und die Menschen hatten Angst irgendetwas zu erzählen“, – berichtet Ljubow Ljadowskaja.
Einige Jahre nach Stalins Tod im Jahre 1953 fing man damit an, die Repressionsopfer zu rehabilitieren. Alle Beschuldigungen gegen Jewgenij Aleksejewitsch Ljadowskij wurden 1958 aufgehoben.
An ihren Vater kann sich Henrietta Aleksandrowna Drjannich praktisch nicht erinnern. Als sie ihn fortbrachten, war sie ein Jahr alt. Und er kehrte nicht zurück.
In Krasnojarsk unterhielt Aleksander Georgiewitsch seine eigene Schmiede, in der fünf Personen beschäftigt waren. 1928 entließ er sie und schenkte die Schmiede dem Staat. Doch seine wohlhabende Vergangenheit wurde ihm neun Jahre später zum Verhängnis. Man verhaftete ihn und erschoss ihn innerhalb von zwei Monaten. Eine Tante holte die kleine Henrietta zu sich und zog sich groß.
„Ich saß auf der Fensterbank und wartete auf Papa. Wir wohnten in Nikolajewka. Mama (ich nannte sie Mama, fragte: „Warum sitzt du hier?" Ich antwortete, dass ich auf Papa wartete, der doch gleich herkommen müsste. Doch er kam nicht.
1959 wurde er rehabilitiert, ich erhielt seine Sterbeurkunde und die Rehabilitationsbescheinigung. Und 1995, als die Archive geöffnet wurden, erkannten sie uns als illegal Verfolgte an“, erinnert sich Henrietta Drjannich.
Henrietta Aleksandrowna ist im Besitz zweier Sterbeurkunden ihres Vaters. Die erste erhielt sie in den 1950er Jahren. Darin ist als Todesursache eine Bauchfellentzündung angegeben. In der zweiten, die sie in den 1990er Jahren bekam, lautet die Todesursache – Erschießung.
Nachforschungen über „Antisowjetische“ setzten bereits 1988 ein. Sie dauern bis heute an. Die Arbeit am „Buch der Erinnerungen“ begann Aleksej Babij mit der Suche nach Informationen über das Schicksal seiner Verwandten.
«Du fühlst, was du da tust. Erstens ist es etwas Nützliches, zweitens ist es interessant. Weil man da auf solche Sujets stößt, besonders jetzt, wo es um die Kulaken-Thematik geht. Kein Schriftsteller kann sich so etwas ausdenken“, - erklärt der Leiter der Krasnojarkser „Memorial“-Filiale Aleksej Babij.
Insgesamt gibt es in unserer Region mehr als 50000 solcher „Sujets“. Aber die Zahl der Verhafteten, die aus anderen Städten des Landes in unsere Verbannten-Region geschickt wurden, beträgt über eine Million. Dabei verschonte die Repressionsmaschinerie niemanden – weder Jung noch Alt, weder Männer noch Frauen.
Neben solchen festen Formulierungen wie konterrevolutionäre Tätigkeit konnte man wegen Bekanntschaft mit Ausländern oder Verweigerung der Wehrpflicht erschossen werden. Den Höhepunkt der Erschießungen bilden die Jahre 1937-38. Der sogenannte „Große Terror“. In diesem Zeitraum wurden 681692 Todesurteile verhängt.
„In letzter Zeit sprechen viele bei uns gern von Moral, Ethik, Wurzeln, traditionellen Werten: das sind alles wunderbare Worte.
Ich möchte dazu sagen, dass, wenn wir diese schreckliche Vergangenheit nicht endgültig erforschen und ans Tageslicht bringen, wenn wir es nicht schaffen, uns der unschuldig Verurteilten, Ermordete und Gequälten zu erinnern, wird es bei uns überhaupt keine Morak geben. Unsere Moral basiert auf folgendem – der Anerkenntnis dieser schrecklichen Vergangenheit und der Unabänderlichkeit sie zu durchleben“, meint Irina Prochorowa.
Die Anerkenntnis kommt in den „Büchern der Erinnerung“, Aktionen, Bewegungen zum Ausdruck. Beispielsweise die „Rückkehr der Namen“ oder „Tafeln der letzten Anschrift“. Letzterer schloss sich Krasnojarsk in diesem Jahr an.
An zwei Häusern haben Aktivisten Gedenktafeln mit den Namen jener angebracht,
die in den 1930er Jahren aus diesen Häusern abgeholt wurden und nicht mehr
dorthin zurückkehrten.
JELISAWETA KUROTSCHKINA