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Das Schicksal der Russland-Deutschen nach dem 28. August 1941

Am 22. Juni 2017 waren es genau 76 Jahre seit dem tragischen Tag, an dem das faschistische Deutschland in die Sowjetunion einfiel. Für den Sieg musste ein viel zu großer Preis gezahlt werden. Allein in unserem Land kamen während des Großen Vaterländischen Krieges 50 Millionen Menschen ums Leben. In dieser Zahl sind noch nicht die Menschenleben derer berücksichtigt, die im Kriege verfolgt wurden, die zu den „Unseren“ gehörten, aber dann aufgrund bestimmter Umstände zu den „Anderen“ wurden. Ganze Völker wurden dafür bestraft, dass sie keine Russen waren. Die Geschichte unserer Region, unseres Bezirks, unserer Dörfer ist eng mit den Schicksalen von Menschen verbunden, die aus unterschiedlichen Gründen Repressionen ausgesetzt waren, unter ihnen auch Deutsche, die zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges aus dem Wolgagebiet verschleppt wurden.

«Alle Deutschen in unseren Rüstungs- und Chemiefabriken, Kraftwerken sowie auf unseren sind zu verhaften!» Mit dieser Notiz Stalins, die dem Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) vom 20. Juli 1937 (P51/324) beigelegt war, beginnt eigentlich auch die „deutsche Operation“ des NKWD. Der operative Befehl ¹ 00439 «über die Inhaftierung aller in Rüstungsbetrieben tätigen Deutschen sowie die Ausweisung eines Teils der Verhafteten außerhalb der Grenzen» wurde von Jeschow am 25. Juli 1937 erlassen, und noch am selben Tag Telegramme an alle NKWD-Behörden versendet. Aufgabe der zweiten Operation, aufgesplittet nach den verschiedenen nationalen „Linien“, bedeutete gleichzeitig auch die Liquidierung innerhalb der UdSSR der „Spionage- und Sabotage-Basis“ der Länder aus dem „kapitalistischen Umfeld“, und Gegenstand der Repressionsmaßnahmen waren ausländische Kolonien und andere Gemeinschaften. Die direkt oder indirekt mit dem Ausland verbunden waren. Die nächste Etappe in der Tragödie der Wolgadeutschen war die Ausführung der Anweisung im Hinblick auf die Umsiedlung der Deutschen im August 1941, in der vorgeschrieben war, wer, wann, wohin umgesiedelt werden sollte. Der Umsiedlung waren sämtliche Bewohner, die der Nationalität nach Deutsche waren und in Städten sowie Dörfern der ASSR der Wolgadeutschen, den Gebieten Saratow und Stalingrad lebten, ausgesetzt. Deutsche, die in den genannten Territorien leben, werden in Gebiete der Kasachischen SSR, Die Krasnojarsker Region, das Altai-Gebiet sowie in die Gebiete Omsk und Nowosibirsk ausgesiedelt.

Die Durchführung der Operation sah folgendes vor, dass 1. Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Kleineres Haushaltsinventar und Geld mitgenommen werden durften, 2. Den umzusiedelnden Personen ausreichend Zeit für das Zusammenstellen und Packen ihres Besitzes gegeben werden sollte, 3. Den Umzusiedelnden vorab mitzuteilen, dass sie einen Lebensmittelvorrat für mindestens einen Monat mitnehmen sollten.
Am 14. September 1941 trafen zwei der ersten Züge mit deutscher Bevölkerung in der Region Krasnojarsk ein. 2 270 Personen aus dem ersten Zug ließ man in Bolschaja Murta aussteigen.

Was musste das völlig unschuldige Volk durchmachen? Wie konnten sich die Menschen am neuen Wohnort zurechtfinden und ihr Leben einrichten? Auf diese Fragen können nur Augenzeugen antworten: Menschen, die all diese Höllenqualen miterlebt haben.

Ins Dorf Lakino, im Bolschemurtinsker Bezirk, wurden folgende Familien gebracht: Vogel, Laup, Forat, Duckwen, Pfaifer, Elengard (Elenhard), Neumann, Dechert. Die älteste Generation erlebte die Tragödie jener schrecklichen Jahre. Sie waren es auch, die ihre Erinnerungen mit mir teilten.

Über das Schicksal der Familie Duckwen — Johannes Grigorewitsch und seiner Frau Anna Petrowna sowie ihrer Kinder: Viktor, Peter, Alexander, Maria, Iwan, Emma und Irma – will ich auch berichten.

1941, als alle Bewohner der Ortschaft Friedenheim, im Lisanderheimer Bezirk, Gebiet Saratow, ihre Familien, umgesiedelt werden sollten, brachte man sie zum Bahnhof, wo sie eine ganze Woche auf den Zug warteten. Nachdem der Zug eingetroffen war, verlud man sie in Vieh-Waggons - sogenannte „Kälber“-Waggons. Es herrschte Enge, es war stickig und alle waren zusammengepfercht: Männer, Frauen, alte Leute, Kinder.

— Der Kinderwagen mit dem sechs Monate alten Schwesterchen (Emma) stand im Durchgang, durch den unaufhörlich Menschen kamen», — erinnert sich Irma Iwanowna. — Wir waren lange unterwegs, hungerten. An den Bahnstationen wurde die Lokomotive auf ein Abstellgleis geleitet, um die Militärzüge vorbeizulassen. Manchmal hielt der Zug mitten auf freiem Feld und alle begriffen – hier werden jetzt die Toten begraben. Die Männer schwiegen missmutig, die Frauen schluchzten leise, selbst die Kinder verstanden, dass sie nicht laut reden durften. Die Menschen wurden müde und litten, doch sie murrten nicht, denn sie wussten – es herrschte Krieg...

Der Zug mit den Umsiedlern traf in der Stadt Krasnojarsk ein, von wo man sie mit einem Schiff bis zum Dorf Juksejewo brachte und dann mit Leiterwagen in s Dorf Tigino; dort lebten sie einige Tage in den Räumen des Klubhauses (hier, in diesem Klub, wurde in der Familie Dechert Tochter Lalja geboren), anschließend gerieten sie nach dem Verteilungsschlüssel nach Lakino. Familie Dukwen hatte zwei Fahrräder mitgebracht, ein paar Bahnen Stoff sowie einen Sack mit Graupenmehl – das war damals ihr ganzer Reichtum, den sie im weiteren Verlauf gegen Essen eintauschten, so dass sie in er allerersten Zeit nicht Hungers sterben mussten.

Im Dorf trafen sie gegen Abend des 28. September ein. Die Familien wurden auf die Häuser von Kolchosbauern verteilt; einige Bewohner wollten den Umsiedlern keinen Zutritt gewähren, weil sie der Ansicht waren, sie seien Volksfeinde. Auf der ortsansässigen Bevölkerung lag nun eine doppelte Belastung hinsichtlich der Sicherstellung von Lebensmitteln, daher nahmen Scherereien, Unzufriedenheit und Widerstand gegen die Ankömmlinge zu. Trotzdem benahmen sie sich recht geduldig gegenüber den Deutschen, denn sie hatten verstanden, dass die Verbannten keinerlei Schuld traf.

Familie Dukwen wurde in einer Erd-Hütte in der Komsomolskaja-Straße untergebracht (später wurde hier ein Haus gebaut, in dem die Familie Isossimych wohnte), danach auf Andringen des Kolchos-Vorsitzenden im Haus von Warwara Martonik in der A. Matrossow-Straße, wo sie bis zum März blieb. Danach ließen sie sich für lange Zeit in einem anderen Haus in der Internationalnaja-Straße nieder (im Anbau der alten Schule), welches die Kolchose ihnen zugewiesen hatte. Die Mutter — Anna Petrowna — arbeitete auf der Farm als Wärterin. «Um nicht vor lauter Hunger zu sterben, nahm Mama heimlich Mehl mit, mit dem die Kühe gefüttert wurden, und das gab sie uns zu essen — ihren acht Kindern», — erinnert sich Emma Iwanowna.

Im selben Jahren holten sie den Vater in die „Trudarmee“. «Trudarmee» bedeutet in der wörtlichen Übersetzung «Arbeitsarmee». In Wirklichkeit handelte es sich dabei um Zwangsarbeiterlager, die mit hohen Stacheldrahtzäunen und bewaffneten Wachen umgeben waren. Die Bedingungen, unter denen die Zwangsarbeiter dort lebten und ihre Arbeit verrichteten, standen an Grausamkeit in nichts der Lebensweise in den Strafkolonien nach. Auf dem Weg zur Arbeit wurden sie von einem Soldaten-Konvoi begleitet, der den Befehl hatte, bei dem geringsten Verdacht von seiner Schusswaffe Gebrauch zu machen. Im Lager selbst herrschte die Willkür der Lagerleitung. Das Wort «Fritz» in der Bedeutung «Feind» oder «Faschist» gehörte nicht nur bei den wenig gebildeten Untergeordneten zum alltäglichen Usus, auch beim leitenden Personal am Arbeitsplatz war es gang und gebe. Im Elend, der Erniedrigung, der Enge des Lagers starb eine große Anzahl der Arbeitsarmisten aufgrund von Hunger und Verzweiflung, Kälte und der alle menschlichen Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit. Die Trudarmee-Lager wurden erst Jahre nach dem Krieg abgeschafft. Der Vater kehrte 1945 aus der Arbeitsarmee zurück. Er fand eine Arbeit als Vieh-Hüter auf der Farm, wo er bis 1962 tätig war. 1962 begaben sie sich nach Kirgisien, wo sie auch starben.

Viktor Johannesowitsch Dukwen geriet im Alter von 9 Jahren mit seiner Familie ins Dorf Lakino. 1948 begann sein Arbeitsleben; bis 1954 arbeitete er im Dorf Bartat an der Maschinen- und Traktoren-Station. 1954 heiratete er Erna Reinholdowna Dechert. 1952 wurde er Mitglied der Kolchose «Bolschewik» (derzeit gehört er zur landwirtschaftlichen Produktionskooperative «Jubileinij»), dort arbeitete er bis zu seiner Rente im Jahre 1993. Sein ganzes Leben war er Mechanisator gewesen, hatte den Boden gepflügt, gesät und die Ernte eingebracht. Viktor Johannesowitsch wurde für seine glänzende Arbeit mit dem Orden des Roten Arbeitsbanners, zahlreichen Medaillen (u.a. einer silbernen und einer goldenen von der Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft) sowie Ehrenurkunden ausgezeichnet; Sieger des sozialistischen Wettbewerbs der Mähdrescherfahrer und Traktoristen in den Jahren 1973, 1974, 1975, 1982; Bestarbeiter des neunten und elften Fünfjahreszeitraums; «Gardist der Ernte» 1973, 1977, 1978. Im Jahre 2009 wurde er auf dem Friedhof des Dorfes Lakino begraben.

Irma Johannesowna Faist (Dukwen) kam im Alter von acht Jahren zur Schule; wie alle Kinder zu der Zeit half sie der Mutter im Haushalt und bei der Arbeit. Sie absolvierte vier Schulklassen und begann im Alter von 15 Jahren ihr selbständiges Arbeitsleben. Von 1948 bis 1962 arbeitete sie als Melkerin in der Kolchose «Bolschewik». Anschließend als Kälberhirtin bis zum Rentenalter; sie gehörte zu den verdienten Kolchosbäuerinnen. Für ihre glanzvollen Arbeitsleistungen erhielt sie den Lenin-Orden, Medaillen, das Ehrenabzeichen «Siegerin im sozialistischen Wettbewerb» in den Jahren 1974, 1975, 1977, 1978, 1980; man verlieh ihr den Orden «Ehren-Abzeichen», zahlreiche Medaillen, darunter die silberne und die bronzene von der «Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft». In der Bezirkszeitung wurde häufig über sie geschrieben. Stets schwieg sie bescheiden zu Schwiergkeiten am Arbeitsplatz und Zuhause; schwer war es gewesen, die sechs Kinder großzuziehen (sie ist im Besitz der «Mutterschaftsmedaille»). Irma Johannesowna nahm aktiv am gesellschaftlichen Leben der Ortschaft teil, wurde mehrfach zur Deputierten des Dorfrats gewählt. Sie liegt auf dem Friedhof des Dorfes Lakino begraben.

Und ich möchte noch von einem anderen bemerkenswerten Menschen erzählen, der bis heute in unserem Dorf unter uns wohnt – Emma Johannesowna Gawrilowa (Dukwen). Sie ist eine gewissenhafte, ungewöhnliche Arbeiterin und zudem eine äußerst bescheidene Frau. Sie hat nie danach gestrebt, sich in irgendetwas von den anderen Dorfbewohnern zu unterscheiden, ihre Nase nie in fremde Angelegenheiten gesteckt, anderen Vorschriften gemacht, wie sie ihr Leben zu führen hätten; sie hat lediglich durch ihre Arbeitsfähigkeit, ihre gute Seele und ihre gleiche Einstellung gegenüber allen von sich Reden gemacht. Ihr Arbeitsleben begann im Alter von 14 Jahren als Vogelwartin, Schweinepflegerin; mit 15 begann sie als Melkerin zu arbeiten. Jede Melkerin hatte damals dreimal täglich14 Kühe mit der Hand zu melken. Zu den Pflichten einer Melkerin gehörte das Waschen und Säubern der Kühe (es gab spezielle Scheren mit Haken zum Scheren des eingerollten, verschmutzten Fells). Die Kühe wurden von den Melkerinnen auch gefüttert und getränkt (das Wasser wurde mit Pferden in Fässern herangeschafft, und dann wurde es eimerweise entnommen und zur Tränke geschleppt), auch das Stallausmisten übernahmen die Melkerinnen. 1961 kam dann die elektrische Melkmaschine, und sie brachte als erste einen Milchertrag von 3500 Litern von jeder gemolkenen Kuh.

1962 heiratete sie Wassilij Arsenewitsch Gawrilow. «Er selber stammte aus dem Dorf Michailowka (Chanschik), die Burschen kamen immer zum Tanzen nach Lakino, und dort lernten sie sich dann auch kennen. Nur ein einziges Mal brachte er sie nach Hause, und sehr schnell darauf kamen Heiratsvermittler; die Vermittlung fand in der Nacht statt, denn tagsüber arbeiteten ja alle. », — erzählt Emma Iwanowna. — Die Komsomolzen-Hochzeit fand 1962 statt. 11 Pferde wurden herausgeputzt, mit denen sie zur Hochzeit gebracht wurden. Man schoss aus Gewehren. Die Mitgift bestand aus einer Truhe und einem Huhn. Auf der Festtafel standen, wie bei allen, Aspik, Rührei, Kohl èund gedämpfte Kartoffeln.», — erinnert sich Emma Iwanowna. — 54 Jahre lebte sie mit ihrem Mann zusammen. Die beiden zogen fünf Kinder groß.

Später, als ihre Gesundheit es nicht mehr zuließ, dass sie auf der Farm arbeitete, war sie im Kindergarten tätig, danach àls Technikerin im Laden. Sie gehört zu den verdienten Blutspendern. Ihr Arbeitsbuch ist voll von Belobigungen und Dankesbezeugungen. 2014 trug sie ihren Mann zu Grabe, 2011 starb ihr mittlerer Sohn. Inzwischen ist sie in Rente, führt ein bescheidenes Leben, ist aber immer noch ein lebensfroher, gastfreundlicher Mensch geblieben, neben dem sich Kinder und Enkel warm und wohl fühlen. Nur die Gesundheit lässt sie im Stick, aber sie ist nicht allein, ihre Töchter, Söhne, àþò å¸ äî÷åðè, ñûíîâüÿ, Schwiegertöchter, Schwiegersohne und Enkel vergessen sie nicht.

Alle Deutschen, die von den Mahlsteinen des Dekrets von 1941 betroffen waren, haben einen kompliziertes und schwieriges Schicksal. Die Heimat, genauer gesagt die Staatslenker, sind mit ihnen und ihren Angehörigen grausam und ungerecht umgegangen, aber sie haben Stand gehalten, ihren Platz am neuen Wohnortunter neuen Bedingungen gefunden. Und was ganz wichtig ist — sie sind nicht in Erbitterung geraten, haben den Glauben an das Gute und an die Gerechtigkeit nicht verloren.

Die Umsiedler lebten sich im rauen sibirischen Territorium ein. Sie gründeten Familien, bauten Häuser, zogen Kinder groß und unterrichteten sie. Und für ihre schwere Arbeit erhielten sie Auszeichnungen. Manche erhielten Orden und Medaillen oder den Ehrentitel „Held der Arbeit“, hauptsächlich wurde ihre Arbeit jedoch mit Urkunden geehrt, die bis heute in den Familien-Archiven erhalten geblieben sind. Familie Dukwen bildet keine Ausnahme — sie ist nicht in ihre historische Heimat zurückgekehrt, sondern blieb, um hier zu leben und zu arbeiten.

Hier konnten wir im Laufe der Zeit die Politik der Sowjetmacht neu bewerten. Aber damals nahm die Mehrheit der Bürger der UdSSR das Dekret vom 28. August 1941 als Muss auf. Man muss die Leute verstehen: im Lande hatte der Krieg begonnen, die Mütter schickten ihre Söhne an die Front, überall herrschten Hunger und Angst um das Leben der Lieben undsein eigenes…

R.A. Sadowskaja, Lakinsker Dorf-Bibliothek


Das Foto zeigt die Familie Dukwen

NEUE ZEIT (Bolschaja Murta) , ¹ 47, 25.11.2017.


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