Norilsk
Vor 65 Jahren machten die Häftlinge des Gorlag in Norilsk einen Aufstand. Es war der längste und größte Massenprotest in der Geschichte des GULAG. Am Norilsker Aufstand nahmen etwa 30000 Menschen teil.
Forderungen der Aufständischen
Ludmila Goldberg war 7 Jahre alt, als ihr Vater Semjon Sinowjewitsch Bomstein aus den Norilsker Lagern zurückkehrte:
Ludmila Goldberg
– Papa wurde am 22. Dezember 1949 verhaftet, – erzählt Ludmila Semjonowna, – Wegen der Teilnahme an konterrevolutionären Aktivitäten. Wir lebten damals in Tula, Vater arbeitete als Ingenieur für Hydrotechnik. Mama blieb allein mit zwei kleinen Kindern zurück. Ich war gerade einmal zwei Monate, Bruder Jurij 9 Jahre alt. Und sogleich wurden wir zu Kindern eines Volksfeindes, von einer Kindheit haben wir praktisch nichts zu sehen bekommen. Alles, was ich von dem weiß, was später war, stammt aus den Worten meiner Mutter oder den Erinnerungen meines Vaters. 1950 wurde er von einem Militärtribunal des NKWD im Tulsker Gebiet zu 25 Jahren Besserungs-Arbeitslager und zusätzlich 5 Jahren Entzug aller Rechte verurteilt. Im Grunde genommen sollte er sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbringen. Aber nach drei Jahren NorilLag, wo der Vater seine Haftzeit verbüßte, kam es zu Ereignissen, welche den weiteren Verlauf der Geschichte grundlegend änderten. Und Papa nahm daran aktiv teil.
Häftlinge auf dem Bau
Aus den Erinnerungen von Semjon Bomstein:
"Der 25. Mai 1953 ist mir im Gedächtnis geblieben. Aber die Grundvoraussetzungen dafür gab es schon früher. Anfang April wurde in meinem Revier ein Arbeiter durch einen Soldaten vom Wachturm aus erschossen. çàñòðåëåí ðàáîòíèê. Auf mein Geschrei lächelte er und ließ mich nicht an den Toten herantreten. In diesen Tagen wurde der Brigadearbeiter Leschka Boktuschkin, der die Frauenwache betreten hatte, ermordet. Ich hatte den Leiter der Wachmannschaft gebeten, ihn zu seiner Frau zu lassen. Doch der schoss ihn als Antwort zweimal in den Rücken. All das konnte keine Eigeninitiative gewesen sein, und es ist verständlich, dass eine derartige Anweisung von oben gekommen war. Der 25. Mai selbst war ein erstaunlicherweise ein sonniger Tag, und die Häftlinge, die von der ersten Schicht zurückgekommen waren, aßen an der Erdaufschüttung der Baracke ihr Mittagessen und sonnten sich. Etwa 50 m von der Baracke entfernt befand sich das zweite Tor mit einer Pforte, durch die niemand ging. Plötzlich erschien dort der Chef der 122 Begleitwachen und feuerte eine Salve in Richtung Baracke ab. Drei Mann wurden getötet. Das löste einen Wutausbruch aus, der sich hauptsächlich gegen die Spitzel richtete. Ich sah das angstverzerrte Gesicht eines jungen Burschen, der mit lautem Geheul von einer mit Äxten bewaffneten Meute verfolgt wurde. Die einzige Rettung vor der Menge war das Betreten der verbotenen Zone, aber sobald er sie erreicht hatte, wurde er erschossen. Mit diesen Ereignissen begann dann auch der "Dudelsack".
Wir konnten den Streik beenden und so die Erschießung vermeiden, aber viele Jungs erklärten: "Wir gehen bis in den Tod". Am Morgen des 1. Juli wurde an zahlreichen Stellen der Stacheldraht durchgeschnitten, Soldaten marschierten, wie schon am Vorabend, in die Lagerzone eröffneten das Feuer als Antwort auf den Vorstoß der Häftlingsmenge; auch von den Wachtürmen wurde mit Maschinengewehren geschossen.
Am nächsten Tag ging kein einziger Häftling zum Abendappell hinaus. Die Gefangenen wurden schon nicht mehr zur Nachtschicht geführt. An den Baracken, und dann auch in der Arbeitszone, tauchten schwarze Fahnen auf. Wir verkündeten, dass wir nur mit einer Kommission aus Moskau sprechen würden, und am 7. Juni traf eine solche Delegation auch tatsächlich ein. Ein Tisch, bedeckt mit einer roten Tischdecke, wurde aufgestellt. Zunächst stand General Swerew, der Lagerleiter des GorLag, bei ihnen, aber wir verlangten seine Entfernung, und dieser Forderung wurde auch nachgekommen. Mehrere tausend Leute von uns waren zusammengekommen, und es war ganz natürlich, dass wir in so einer Situation keine Entscheidung treffen konnten. Man schlug uns ein Treffen in einem Raum mit ausgewählten Vertretern vor, die ihre Forderungen im Namen der Häftlinge vorbringen sollten. Ein paar Stunden später wurden zehn von uns Jungs geholt, um die Unterredung zu führen. Ich erinnere mich, dass jeder von uns sprach, Forderungen stellte, von denen ein Teil unverzüglich genehmigt wurde. Das Gespräch verlief freundlich, und auf unsere Frage, ob wir nach Abreise der Kommission Repressionen ausgesetzt würden, versprach man uns Schutz.
Am 8. Juni wurde die Arbeit wieder aufgenommen, alle hatten sich wieder beruhigt. Doch wir wussten nicht, dass es bereits den Befehl gab, in irgendeiner Erd-Hütte ein Gefängnis einzurichten, in das wir im Folgenden, am 1. Juli, dann auch hineingerieten. Wir begriffen die Heuchelei der Lagerleitung und gingen von dort an nicht mehr zur Arbeit. Niemand wurde ins Lager hineingelassen. Aus Krasnojarsk wurden Wachtrupps herbeigerufen. Lautsprecher wurden aufgestellt, mittels derer man uns zu überreden versuchte, die Lagerzone zu verlassen und uns hinter die Wache zu begeben. Einigen, deren Haftzeit sich dem Ende zuneigte, erlaubte man, das Lager zu verlassen. Einige stürzten zum Wachhaus. Die große Masse aber unterwarf sich den Provokationen nicht.
Am Abend des 1. Juli wurde an vielen Stellen der Stacheldraht durchgeschnitten, ebenso wie am Vorabend betraten Wachen die Lagerzone und eröffneten als Antwort auf den Vormarsch der Häftlingsmenge das Feuer, auch von den Wachtürmen wurde wieder mit Maschinengewehren geschossen.
Als wir die Zone verließen, sahen wir diese Toten. Ich und Pawel Filnew (ein Moskauer Chirurg) wurden als Anführer des "Dudelsacks" bezeichnet, aus der Masse herausgefischt und ins Gefängnis gebracht".
– Dann kam Papa mit einer Etappe ins Wladimirsker Gefängnis. Er kehrte erst 1956 wieder nach Hause zurück – als Mann mit bereits schwächlicher Gesundheit. Sein ganzes Leben versuchte der Vater zu erzählen, was er erlebt hatte, obwohl es für ihn nicht leicht war, sich an jene Ereignisse zu erinnern. Auch seine Nationalität – er war Jude – machte sich bemerkbar. Doch er war der Ansicht, dass seine Nachfahren über die ganze Ungerechtigkeit, die unserer Familie und tausenden anderen widerfahren war, Bescheid wissen sollten. Papa starb im Januar 1989 im Alter von 78 Jahren im Kreise der Familie. Ein Jahr später reist mein Bruder nach Israel aus, um dort seinen ständigen Wohnsitz einzunehmen. Ich lebte lange Zeit im Donezker Becken. Heute wohne ich in München.
NorilLag
Alla Makarowa widmete viele Jahre ihres Lebens der Erforschung des Norilkser Aufstandes. Von 1987–1993 war sie als rangälteste wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums zur Geschichte der Urbarmachung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets tätig. Anhand von im Archiv verwahrten Dokumenten gelang es ihr, einige Einzelheiten der Ereignisse zu rekonstruieren.
– Zu der Zeit gab es im Land praktisch keinerlei Informationen über den Aufstand. Selbst in den streng geheimen Berichten über den Betrieb des Norilsker Kombinats für das Jahr 1953 wurde darüber nur dunkel und unklar geschrieben. Daher kommen die Mythen und die Ungenauigkeiten, – berichtet Alla Makarowa. – Vor allen Dingen muss man unterstreichen, dass der Aufstand nicht im NorilLag stattfand, sondern im Gorla (Staatliches Sonderregime-Lager, eben das Sonderlager ¹2). Es wurde 1948 in Norilsk eingerichtet, und die Haftbedingungen dort waren weitaus strenger als im NorilLag. Und weiter: es handelte sich eigentlich nicht um einen Aufstand, sondern vielmehr um einen Streik. Die Häftlinge nahmen keine Waffen in die Hände, sie überfielen die Lagerwachen nicht und versuchten auch nicht zu fliehen.
Alla Makarowa
Anfang 1953, erzählt Makarowa, änderte sich der Häftlingsbestand ganz erheblich: Soldaten und Offiziere gerieten hinter Stacheldraht – Teilnehmer des Krieges, welche in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren. Diese Menschen unterschieden sich von den Lagerinsassen der 1930er Jahre. Und am Vorabend des Aufstands traf im Lager auch noch eine sogenannte Karaganda-Häftlingsetappe ein – 1200 Gefangene aus den Sonderregime-Lagern in Karaganda, wo unlängst Unruhen stattgefunden hatten. Nach Stalins Tod erwarteten viele Häftlinge eine Veränderung zum Besseren, machten sich sogar Hoffnung auf eine Amnestie. Doch die Amnestie fand auf die sogenannten Politischen keine Anwendung. Für sie wurden die Haftbedingungen nur noch grausame.
Aus den Erinnerungen des ehemaligen GorLag-Häftlings Lew Netto:
"1948 verurteilte mich die Sitzung einer "Troika" zu 25 Jahren Freiheitsentzug plus 5 Jahren Entzug aller Rechte. Dann kamen die Lager: Krasnojark, Norilsker Häftlingsetappe. Unterwegs und auch, als wir bereits im Lager eingetroffen waren, versuchten meine Kameraden und ich mehrmals zu fliehen. Aber wir hatten keinen Erfolg. Fluchtversuche aus Norilsk gab es nur selten, und sie waren fast immer zum Scheitern verurteilt. Im Frühjahr 1950 schickten sie mich auf Etappe zur 5. Lager-Außenstelle des GorLag, welches die Arbeitskräfte für die Ziegelei sicherstellte. In der Lagerzone lernte ich die zukünftigen Teilnehmer am Norilsker Aufstand kennen.
Ich erinnere mich, wie wir einander am 5. März 1953 die wichtigste Nachricht übermittelten: "Der Satan ist tot!" Die Gesichter der Gefangenen erhellten sich. Wir malten uns die nahe Zukunft des Landes aus und dachten natürlich an die Möglichkeit, nach Hause zurückkehren zu können. Doch die Amnestie fand auf die Politischen keine Anwendung. Im Frühjahr 1953 begann in den Sonderlagern eine zügellose Willkür. Die Begleitsoldaten und Wachen auf den Türmen erhielten sogar für ihre beispiellose Grausamkeit Urlaub: Salven aus Maschinengewehren löschten immer wieder das Leben von Gefangenen aus, und das in allen Lagerabteilungen. Im GorLag wütete der reinste Terror. Es gab Provokationen, Versuche, nationale Gruppen zu entzweien: Kaukasier gegen Kasachen, Russen gegen Ukrainer und so weiter.
Am 25. Mai 1953 stand ich, wie gewohnt, an der Drechselbank. Unerwartet wurde die Arbeit durch Sirenengeheul unterbrochen. Es signalisierte normalerweise das Ende des Arbeitstages. Aber bis zum Ende der Schicht war es noch lange hin. Ich rannte auf die Straße, sah, dass eine ganze Gruppe Gefangener sich dort aufhielt. Ich fragte: "Was ist passiert?" Man antwortete mir, dass es in der Wohnzone der 5. Lager-Außenstelle wieder eine Provokation gegeben habe – Beschuss ohne Grund, und es hatte Opfer gegeben. Deswegen wurde der Beschluss gefasst, die Arbeit einzustellen. So begann vor meinen Augen der Streik der politischen Gefangenen. Nach ein paar Tagen Verhandlungen mit der Lagerverwaltung wurde entschieden, dass die Gefangenen mit einer Moskauer Kommission zusammentreffen sollten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie etwa 15 Meter von der Wache entfernt ein großer Tisch aufgestellt wurde. Von einer Seite traten Generäle, Oberste und andere Offiziere heran, von der anderen – unsere Jungs. Irgendein Vorgesetzter aus Moskau erklärte mit lauter Stimme, dass Lawrentij Pawlowitsch ihn höchstpersönlich entsandt hätte, um festzustellen, was hier los sei. Das Streikkomitee verkündete die Forderungen der Gefangenen. Sie wurden ruhig aufgenommen. Die Kommission erlaubte das Entfernen der Gitter und Schlösser von den Baracken, sowie der Häftlingsnummern von der Kleidung, außerdem gestattete sie Briefwechsel ohne die vorherigen Einschränkungen und sogar ein Wiedersehen mit den Angehörigen.
Doch die Waffenruhe währte nicht lange. Aus der Lagerzone, in der der Streik angefangen hatte, wurde eine Gruppe von Häftlingen in die Tundra gebracht. Es stellte sich heraus, dass man beschlossen hatte, auf diese Weise die Aktivisten loszuwerden. Obwohl die Moskauer Kommission versichert hatte, dass es keinerlei Strafverfolgungen wegen der Teilnahme am Streik geben würde. Die friedliche Zeit war beendet. Am 1. Juli 1953 hörte man in der fünften Lagerzone Pistolen- und Gewehrsalven. Es gab zahlreiche Tote und Verwundete.
Ja, das war ein Aufstand. Aber es war ein unbewaffneter Aufstand, keine Meuterei von Arbeitssklaven, die nach Freiheit begehrten, und es war auch keine spontane Aktion. Es war ein Aufbegehren menschlicher Seelen".
Lew Netto mit anderen Gefangenen des GorLag
Der Aufstand dauerte von Mai bis August 1953.
Am 27. Juni ließ ein Papierdrachen über Norilsk das erste Flugblatt über Norilsk herabfallen, in dem es hieß: "Sie erschießen uns und lassen uns aushungern. Wir bitten die Sowjetbürger, der Regierung über die Willkür gegenüber den Häftlingen in Norilsk Mitteilung zu machen. Die Gefangenen des GorLag".
Aus den Erinnerungen des Teilnehmers an dem Aufstand – Ostap Tschernowoj:
"Irgendjemand hatte die Idee, ein Flugblatt zu schreiben. Wir ließen es als Drachen in den Himmel aufsteigen. Man sagt, dass unsere Botschaften bis nach Igarka flogen. Ich erinnere mich, dass ich schrieb: "Übermittel nach Moskau, dass man uns misshandelt!"
Forderungen der Aufständischen
4. August. In der Nacht wurde das Lager von Dreierketten Soldaten und zivilangestellten Bürgern von Norilsk umstellt. Über Lautsprecher wurde verlangt, dass sie das Lager verließen. Die Häftlinge entschieden, dass das eine „psychische Attacke“ wäre. Anschließend näherten sich den Toren von zwei Seiten mit Maschinengewehren ausgestatte Fahrzeuge. Mit voller Fahrt brausten sie ins Lager und eröffneten das Feuer.
"Das war ein echter Kampf. Alle, die sich zu dem Zeitpunkt im Klubhaus befanden, wurden erschossen. Etwa fünfzig Menschen wurden erschossen, ungefähr hundert – verwundet. Bei der Festnahme wurden alle grausam misshandelt, sogar die Verletzten. Mein Kamerad war dort nach der Erschießungsaktion. Er sagte, dass er fast bis zu den Knien im Blut gestanden habe. Auf unsere Baracke wurden nur wenige Salven abgefeuert, ich konnte mich unter die Pritsche verkriechen“, – erinnert sich Tschernobai.
Am 27. August wurden die aktivsten Teilnehmer des Aufstands von Dudinka nach Krasnojarsk geschickt, ins innere Gefängnis des MWD. Die übrigen wurden später in verschiedene Lager abtransportiert: ins Gebiet Magadan, nach Kengir, Mordwinien, Irkutsk, Wladimir, Kurgan.
Obwohl die Mehrheit der ehemaligen Häftlinge und Teilnehmer des Aufstands später rehabilitiert wurden, teilweise auch posthum, können Angehörige vieler damaliger Gefangener bis heute keinerlei Informationen über das Schicksal ihrer Familienmitglieder erhalten. Die Nichte von Iwan Jegorowitsch Worobjew, einem der Organisatoren des Aufstands, Nina Aleksandrowna Ryschenkowa, ist bis heute bemüht, Zugang zu Dokumenten über das Schicksal ihres Onkels zu bekommen und seine Rehabilitation zu erwirken.
– Als meine Mama, die Schwester von Iwan Jegorowitsch, starb, konnte sie einfach nicht glauben, dass ihr Bruder irgendeine Schuld auf sich geladen haben sollte; sie bat mich, Dokumente zu finden und zu beweisen, dass er kein Vaterlandsverräter war, - erzählt Nina Ryschenkowa. Nach dem Krieg hatte man ihn beschuldigt, dass er ein Vaterlandsverräter wäre und für die Polizei gearbeitet hätte. Obwohl es tatsächlich Zeugnisse darüber gibt, dass der Onkel Partisan war. Iwan Jegorowitsch wurde im Juli 1948 in Pskow verhaftet. Und bereits im Juli 1949 wurde er zu 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Man legte ihm den Dienst bei der deutschen Polizei, Spionage-Tätigkeit und illegalen Waffenbesitz zur Last. Ich bin überzeugt, dass man ihn zu Unrecht beschuldigt hat. Aber da sie nur Angehörigen Zutritt zu den Archiven gewähren, bin ich gezwungen, auf dem Gerichtsweg zu beweisen, dass er mein Onkel war. Bislang ist mir das nicht gelungen. Allerdings hat ein Erforscher der Biographie meines Onkels, der Historiker Gennadij Michailowitsch Chitrow, interessante Fakten entdeckt.
Gennadij Chitrow
– Ich habe festgestellt, dass Iwan Jegorowitsch Worobjew 1943 Kommandeur eines Partisanentrupps war, der einen Angriff auf eine deutsche LKW-Kolonne organisierte, – erzählt Gennadij Chitrow. – Darauf folgte die Abrechnung. Das Dorf Lanjowa Gora wurde von Angehörigen der Strafkommandos abgebrannt und all seine Einwohner erschossen. Ob man einen Partisanen als Schuldigen für diese Tragödie bezeichnen kann ist eine nicht eindeutige Frage. Anfang Oktober 1943 wurde ein Befehl vorbereitet, nach dem alle Bewohner von Dörfern, die zwischen der Front und der „Panther“-Verteidigungslinie gelegen waren in den Westen zwangsverbracht und alle Ortschaften vernichtet werden sollten. In diesem Sinne wurde dem Schicksal von Lanjowa Gora vorgegriffen. Nach der Auflösung der Partisanen-Einheiten zwischen April 1944 und März 1946 diente Worobjew in der Roten Armee; er bekam die Medaillen "Partisan des vaterländischen Krieges 2. Klasse", "Für die Verteidigung Leningrads", "Für den Sieg über Deutschland" verliehen. Er hätte ein zweifacher Held sein können: im Kampf gegen Hitlers Invasion, ebenso wie im Kampf mit dem Stalins GULAG. Doch die Gebietsstaatsanwaltschaft in Pskow verweigerte Worobjew 1996 die Rehabilitation.
– Ich bin der Ansicht, dass Iwan Jegorowitsch zu Unrecht beschuldigt wurde, – meint Ryschenkowa. – 1941 war er 17 Jahre alt. Ich hoffe, dass sich für mich die Möglichkeit ergibt, in den Archiven weiterzuarbeiten und wenigstens indirekte Zeugnisse zu finden, die bestätigen, dass der Onkel ein Held war und kein Verräter. Das ist notwendig, um daran zu erinnern, um unseren Kindern und Enkeln davon zu erzählen.
Am 23. Oktober 1953 wurde Iwan Jegorowitsch Worobjew verhaftet und, zusammen mit anderen Untersuchungsgefangenen in Sachen des Norilsker Aufstandes, im Krasnojarsker Gefängnis untergebracht. Am 24. Juli 1954 wurde er vom Krasnojarsker Regionsgericht zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Man brachte ihn ins Aleksandrowkser Zentralgefängnis, wo er Ende 1954 an Bauchwassersucht starb.
Bis heute ist nichts genaueres über die Zahl der Opfer des Aufstandes bekannt:
– Heute sind die Zahlen einer offiziellen Akte bekannt, die in der 3.Lagerabteilung nach der "Niederschlagung" angelegt wurde: getötet wurden 57 Personen, verwundet 98; außerdem liegen Verlustzahlen vor, die nach der Inventarisierung der 5. Lageraußenstelle ermittelt wurden: 58 Tote, 128 Verwundete. Doch es gab auch Opfer, die am Vorabend des Streiks erschossen wurden. Im Friedhofsbuch, in das gewöhnlich alle Bestatteten namentlich eingetragen werden, gibt es eine Zeile, die sich auf das Jahr 1953 bezieht und in der von 150 in einem Massengrab bestatteten namelosen Toten die Rede ist, – berichtet Alla Markowa. – Allerdings ist es mir gelungen, Einblick in ein medizinisches Privatarchiv zu bekommen, das in Krasnojarsk verwahrt und nirgends veröffentlicht wurde. Es handelte sich um eine Liste von Häftlingen und Verbannten der Stadt Norilsk, welche 1953 in Norilsk zu Tode kamen. Wenn man also nach diesen Angaben urteilt, kamen 1953 in den Norilkser Lagern 648 Personen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ums Leben. Mehr als 240 starben aus unterschiedlichen Gründen – Tuberkulose, arbeitsbedingten Unfällen. Die übrigen – durch Schusswaffen. Es ist also gut möglich, dass es noch viel mehr Opfer gab.
Kreuz auf dem Friedhof in Norilsk, auf dem Häftlinge begraben sind
– Ohne die Lager hätte der Sozialismus nicht aufgebaut werden können, – sagt der Vorsitzende der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation Aleksej Babij. – Die Wirtschaft des Landes war äußerst ineffektiv, und sie konnte nur durch kostenlose Sklavenarbeit gerettet werden. Aber die UdSSR verfügte zu der damaligen Zeit nicht über eine ausreichende Zahl von Kriegsgefangenen, um sie in Sklaven umzuwandeln. Und so suchten sie sich die Sklaven unter ihren eigenen Bürgern! Alles geschah auf eine ganz einfache Art und Weise: die Lagerleiter schickten Meldungen über die dringend benötigte Anzahl von Arbeitskräften, er Bedarf für den gesamten GULAG wurde zusammengezählt und anschließend die Anzahl proportional zur Bevölkerung in den Gebieten und Republiken aufgeteilt; danach sandte man die Daten an das jeweilige Gebiets-NKWD. Jene nahmen dann die Zuteilung für die Bezirks-NKWDs vor, und schon machten sich die ruhmreichen Tschekisten daran, so viele "Volksfeinde" zu jagen, wie für den Plan erforderlich waren. Die Sache ging so weit, dass der Lagerleiter einen Antrag für einen Ingenieur für Metallurgie stellte, das NKWD machte einen ausfindig, „heftete“ ihm eine Strafakte an – und schickte ihn zum Lager-Kunden. Praktische alle Großbaustellen der Region Krasnojarsk wurden auf den Knochen von Gefangenen errichtet: sowohl die ruhmlos eingestellte Baustelle 503 (Bahnlinie "Salechard – Igarka"), als auch das noch in vollem Betrieb befindliche Norilsker Bergbau- und Metallurgie-Kombinat, das Sorsker Molybdän-Kombinat, die Gold-, Holz- und Uran-Industrie. ... Und schauen Sie mal auf die rechte Uferseite von Krasnojarsk: die Buntmetall-Fabrik, die Krasnojarsker Maschinenbau-Fabrik, das Zellulose- und Papier-Kombinat, der Hafen – all das wurde von "unbezahlten" Arbeitskräften aufgebaut. Unter derartigen Bedingungen lebend, wagten es die Häftlinge nur selten, zu offenen Formen des Protests zu greifen. Flucht, offene Sabotage, Selbstmord – damit konnten die verzweifelten Menschen den Lagerterror der Verwaltung beantworten.
Der Aufstand im Gorlag, meint Babij, besaß eine immense Bedeutung für die Zukunft des Landes. Die Renitenz und der Mut der Aufständischen brachten dem GULAG-System den Zusammenbruch, wenngleich es bei weitem nicht allen Teilnehmern dieser Ereignisse gelang, diesen Augenblick noch zu erleben.
Swetlana Chustik
Sibirien. Tatsachen, 25.05.2018
Sibirien. Tatsachen, 25.05.2018