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Ohne Briefmarken und Verzierungen

Wenn jeder in die Region Krasnojarsk deportierte Deutsche einen Baum gepflanzt hätte, wäre ein ganzer Wald gewachsen, wenn jeder einen Stein niedergelegt hätte – dann wäre ein ganzer Berg entstanden. Während des Krieges stieg die Bevölkerungszahl in der Region auf Kosten der Wolgadeutschen um mehr als 77000 Personen. Das Buch «Die Deutschen aus Jenisseisk. Familien-Geschichten», das von Studenten des Pädagogischen College in Jenisseisk geschrieben wurde, - bietet eine einzigartige Möglichkeit, sowohl diesen Wald zu durchstreifen, als auch am Fuße dieses Berges zu stehen.

Aus erster Hand

Viele der Verbannten, die sich mit ihrem Los abgefunden haben, sind selbst wie ein Baum angewachsen, indem sie ihre Wurzeln in die sibirische Erde geschlagen haben, und wem es bis heute beschieden ist, die Schwere der Kränkungen und des Nicht-Verzeihens in sich zu tragen, ist wie ein Stein, der nicht auf diesem Berg zurückgeblieben ist…

Wovon lebtn die Zwangsumsiedler in all diesen Jahren, welche Geschichten bewahrten sie in ihren Herzen oder gaben sie an ihre Nachfahren mit nur einem einzigen Ziel weiter – zu lehren, dass man das Leben schätzt, welche Erinnerungen waren sie bereit, mit der heutigen Generation zu teilen, die glücklicherweise keine Vorstellungen vom Krieg, von wahren Schwierigkeiten und Entbehrungen hat? Dies zu erfahren, indem diejenigen, die die Tragödie persönlich überlebt haben, zu befragen, - ist das wichtigste Ziel einer der folkloristisch-geschichtlich-ethnographischen Expeditionen der College-Studenten. Die Leitung dieses Forschungsprojekts hat die Lehrerin Irina Nikolajewna Moissejewa inne.

40 Geschichten – wahre, ungeglättete – bildeten die Grundlage für das erst kürzlich erschienen Buch. Die Zahl seiner Exemplare – einige Stück. Das scheint nicht sonderlich viel zu sein, aber einige von ihnen haben die Grenze Russlands bereits überschritten: die Familiengeschichten der Sondersiedler werden in Deutschland, den USA, Israel, Norwegen gelesen. Diese Ausgabe existiert auch in Sankt-Petersburg; sechs Bücher wurden nach Moskau geschickt ((ans Staatliche Museum für die Geschichte des GULAG, ans Sacharow-Zentrum und die Vereinigung der russischen Gedenkmuseen). Das Buch kann man auch mit freiem Zugang im Internet finden. Ob seine Bedeutung eher geschichtlich oder aber erzieherisch gemeint ist – das ist schwer zu bewerten. Es hat seinen Weg bereits vor der eigentlichen Präsentation genommen, weil es in sich die Erzählungen derer trägt, die damals gezwungen waren, ihr Leben noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

Wir waren nicht willkommen…

«Säge, Axt, Hackmesser und Spaten, die wir mitgebracht hatten, wurden innerhalb der Familie als unsere Versorger bezeichnet. Mit sieben Jahren hackten wir Brennholz (jeweils 50 Kubikmeter pro Sommer), bearbeiteten die Reviere, indem wir Erde und Sand vom Ufer mit Schubkarren heranschafften, Tabak anbauten, damit man ihn später gegen Brot und Lebensmittel eintauschen konnte. In einer langen Baracke lebten 20 Familien. Sie teilten, ohne Übertreibung, alles miteinander. Ein Rundfunkempfänger, ein Ofen, ein einziger Zuber zum Baden für alle… In unserer Familie gab es fünf Kinder. Den Vater haben sie in die Trudarmee geschickt, und Mama blieb mit uns allein zurück. Übrigens, hier ist sie – meine Mama», - sagt der Jenisseisker Jakob Alexandrowitsch Wolf, indem er auf das in einem Buchdeckel befindliche Foto weist und kaum seine Unruhe zurückhalten kann. Er kann sich noch sehr gut an jene schwere Kindheit erinnern. Als er erwachsen geworden war, bemühte er sich darum, seine umgesiedelten Verwandten zu finden: die Familie seiner Mutter, wie auch die Familien vieler Bürger deutscher Nationalität, waren im Lande in alle Winde verstreut worden…

Auf jener Photographie sieht man noch eine weitere Frau, deren Familie man anfangs weit in den Norden ausgewiesen hatte. Ihre jüngste Tochter, Emma Alexandrowna Ibe, erinnert sich, wie man sie nach Familien sortierte, wie gutherzige Kalmücken sie vor dem Hungertod bewahrten, wie sie deutsche Lied sang und tanzte, als sie ganz klein war und die Hoffnung hegte, dass man ihr dafür irgendetwas zustecken würde; wie die deutschen Umsiedler einen ganzen Monat lang davon wach wurden, dass irgendjemand vor ihnen stand, um nachzuschauen, wo den Deutschen angeblich Hörner wachsen. Offenbar hatte sich ins Bewusstsein der Menschen ganz fest die Vorstellung vom faschistischen Soldaten eingegraben, dessen Montur unter anderem aus einem Helm mit „Hörnern“ bestand. Das Wort «Faschist», hörte natürlich überhaupt nicht auf, hinter den Rücken der verbannten Bewohner zu erklingen. .

Aufgezeichnet von jungen Menschen

Bei der Präsentation des Buches ging es in keiner Rede ohne Tränen ab. Und in den Häusern, in denen die Studenten mit dem Diktiergerät die Geschichten der alten Leute mit deutschen Familiennamen aufzeichneten, zwangen einen die Tränen häufig, das Gespräch für einige Zeit zu unterbrechen. Damit mussten nicht nur die Befragten mit ihren Emotionen zurechtkommen. «Es war sehr schwer zu ertragen, mit ansehen zu müssen, dass wir die Erinnerung dieser Menschen in Unrughe versetzten, als wir erfuhren, dass nach diesen schweren Gedanken an die Vergangenheit für jemanden die Anforderung eines Rettungswagens erforderlich wurde», - berichten die Studenten, die an der Expedition teilgenommen hatten. Man muss zugeben, dass solche «Gewalt-Märsche» in die Landesgeschichte sie freundlicher und disziplinierter machen, dass die Müdigkeit der getanen Arbeit ihnen Erfüllung, Zufriedenheit bringt. Es ist nämlich so, dass die Offenbarungen der Menschen, die so viele Erschwernisse durchgemacht haben, einen dazu zwingen, viele Dinge anders zu sehen. Es kommt uns, die wir auf heimatlicher Erde leben und in einer friedlichen Zeit leben, die Arbeit und ein Auskommen haben, für uns bereits einen Grund zur täglichen Freude darstellt. Die Neueinschätzung von Werten durch Menschen der jungen Generation – ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Expedition. Das von noch ganz jungen Autoren verfasste Buch wird dadurch nur noch gravierender.

Jedes Mal, wenn es zu einer Begegnung kam, der Gesprächspartner sich öffnete, wenn die Teilnehmer der Expedition anschließend die Informationen aus ihrem neu zusammengetragenen Material teilten, es mit der Leiterin beurteilten oder die Aufzeichnungen des Diktiergeräts bearbeiteten, indem sie sie zu Artikeln umschriebe, verstanden die jungen Leute, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Globales berührten, dass diese lebendigen Geschichten – nur eine kleine Illustration der schwierigen, missverständlichen Geschichte eines großen Landes sind.

Lernt zwischen den Zeilen zu lesen

«Ich erfuhr vom Krieg, als ich in der Küche Gespräche meines Großvaters und seiner Kameraden hörte, - sagte während der Präsentation des Buches der Leiter der Krasnojarsker Gesellschaft für Geschichtsaufklärung und Menschenrechte „Memorial“ - Aleksej Andrejewitsch Babij. – Es ist absolut schädlich, die Geschichte anhand von Lehrbüchern zu studieren». «Geschichte muss man in den Gesichtern lesen, - setzte später die Lehrerin an der Wjerchnepaschinsker Schule – Galina Pawlowna Suknasjan - seine Gedanken fort, - und dann werden wir, wie Astafjew sagte, die Wahrheit über das Soldatenleben und uns selber kennenlernen. Das, was in diesem Buch geschrieben steht, – entspricht absolut der Wahrheit, aber nicht weniger wichtig ist all das, was zwischen den Zeilen steht».

Die Direktorin des Pädagogischen College in Jenisseisk, Jelena Wladimirowna Pogorelskaja, zog eine Bilanz der Begegnung und sagte, dass es bislang noch Studenten gebe, die auf diesen Expeditionen ganze Arbeit leisten, dass die Projektleitung sehr angetan von der Idee der Wahrung der historischen Erinnerung der Bevölkerung ist, dass das Buch ergänzt, neu aufgelegt werden, schlicht und ergreifend - weiterleben könnte. Es ist möglich, dass weitere Kontakte zu Vertretern derer, die die Deportation mitgemacht haben, in neuen Projekten, Sammelwerken, Filmen zum Ausdruck kommen wird. Aber einstweilen haben Gäste des Colleges, von denen die Mehrheit Nachfahren von Umsiedlern sind, es beim Durchblättern des Buches nicht eilig, auseinanderzugehen: sie möchten sich unglaublich gern gegenseitig unterstützen, miteinander sein und jedem, der an der Herausgabe des Sammelwerks beteiligt war, «danke» für die ungeheuer umfangreiche Arbeit sagen – ein Buch, auf dessen Seiten es Geschichte ohne Briefmarken und Verzierungen zu lesen gibt.

Oksana WLASSOWA
Fotos: von der Autorin

 

Tipp

Bei den folkloristisch-geschichtlich-ethnographischen Expeditionen gab es folgende Tradition: an ihrem ersten und letzten Tag einen kleinen Essay zu schreiben. In Fragmenten dieser Gedanken – die persönliche Beziehung der Studenten zu der durchgeführten Arbeit.

Jekaterina Wlassowa: «Vor der Expedition wusste ich fast gar nichts über die Repressionen. Aber jetzt habe ich begriffen und Kenntnisse erworben, wenigstens von einer der Episoden der Repressionen in den 1930er bis 1950er Jahren – der Deportation der Wolgadeutschen. Manches erwies sich als leicht, manches ging sehr langsam. Schwierig gestaltete sich die Bearbeitung der Interviews, das gesamte Material zu einer Einheit zusammenzufassen».

Kristina Fomina: «Als ich die Informationen bearbeitete, versuchte ich, nichts von dem Aufgenommenen auszulassen, kein einziges interessantes Detail. Es gab Momente, in denen die Befragten mir leid taten, als sie von ihrer unglücklichen Kindheit berichteten. Und selbst ich musste weinen. Als ich das Interview aufzeichnete, stellte ich es mir schrecklich vor, an ihrer Stelle zu sein. So etwas darf sich niemals wiederholen».

Tatjana Jefremowa: «Anfangs beobachtete ich Irina Nikolajewna – womit sie den Dialog begann, wie sie an das Hauptthema heranging, wie sie auf Fragen reagiert. … Später, als ich schon ein wenig mutiger war, schlüpfte ich selber in die Rolle der Korrespondentin, und es gefiel mir. Es war für mich eine Freude, als ich die notwendigen Informationen fand, als die Menschen mit mir Kontakt aufnahmen. Mitunter war es sehr schmerzlich und sie taten mir leid. In jedem Interview – eine Tragödie, und nicht nur eine. Bis heute suchen die Leute nach ihren Brüdern, ihren Eltern».

Darja Samuilowa: «Auf der Expedition erhielten wir die Kenntnisse, die man sonst nirgendwo bekommt. Das ist Geschichte aus erster Hand. Natürlich ist jedes Interview subjektiv. Aber könnte denn irgendjemand anderes mehr, detaillierter und wahrheitsgetreuer über jene Zeiten berichten, als sie? Wir hatten sehr viel Glück, dass es uns gelungen ist, ihnen zu begegnen und ihre Erinnerungen aufzuzeichnen».

Einlassung

Das Buch «Die Deutschen aus Jenisseisk. Familien-Geschichten» beinhaltet 40 Interviews
Im Oktober 1941 trafen ungefähr tausend aus dem Wolgagebiet deportierte Deutsche ein
Während des Krieges stieg die Bevölkerungszahl durch die Wolgadeutschen um 77359 Personen

„Jenisseisker Wahrheit“, 07.06.2018


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