Tausende Deutsche wurden 1941 aus dem Wolgagebiet in die Region Krasnojarsk deportiert. Studenten des pädagogischen Colleges in Jenisseisk sammelten Berichte von Umsiedlern im Büchlein «Die Deutschen von Jenisseisk. Familien-Geschichten», welches 2018 in Krasnojarsk herausgebracht wurde. «Prawmir» veröffentlicht das Interview mit Emma Genter, die gerade 5 Jahre alt war, als der Krieg ausbrach.
Emma Gottfriedowna (Arne) Genter wurde 1936 in der Ortschaft Wjerchnij Jeruslan,
Staropolsker Bezirk, Gebiet Saratow, geboren
«Die Großmutter erzählte, dass sie den Vater 1937 fortholten, ich habe ihn nie gesehen, nie gehört und weiß auch nicht, was für ein Mensch er war. Nichts ist erhalten geblieben: kein Stück Papier, kein Foto. Die Fotokarten und Briefe, die wir hatten, schlossen wir in einer kleinen Truhe, und als sie uns ankündigten, dass wir abfahren müssten, blieben all diese Dokumente, Briefe und Adressen dort zurück. Sie schreiben, dass sie den Vater an die Front holten, da war ich noch ganz klein, und es ist ein großes Unglück, dass ich den Vater nie sah und kennengelernt habe.
Da kamen wohl welche zu uns nach Hause, als Stalin den Befehl gegeben hatte, dass alle ausgesiedelt werden sollten, und sie gaben uns 24 Stunden Zeit, um unsere Sachen zu packen. Später kam ein Fuhrwerk, um uns abzuholen; so hat Mama es erzählt. Ich kann mich daran natürlich nicht erinnern. Und es war wohl so, dass wir einpackten, was ging, der Rest blieb zurück– das Vieh im Stall und alles im Haus, und natürlich das Haus selbst. Einige Dinge nahmen wir mit nach Sibirien.
Einen ganzen Monat waren wir unterwegs. Nur das Nötigste hatten wir bei uns. Ich weiß noch, dass wir eine Kamelhaardecke und eine Decke hatten, Mama hatte auch noch ihr Mäntelchen sowie ein paar selbstgenähte Kissenbezüge. Wir kamen hungrig und ohne Kleidung an, nur mit Gottes Hilfe überlebten wir.
Das ist alles, woran ich mich erinnern kann, aber es ist, als wäre es erst gestern gewesen. Wir kamen mit einem Fuhrwerk angefahren, fuhren bis zur Bucht, und dann noch mit einem Schiff bis hierher. Sie kamen zur Bucht, gerade als das Fuhrwerk eingetroffen war, ließen uns umsteigen und brachten uns in die Ortschaft Kemskoje im Kasatschinsker Bezirk. Wir fuhren durchs ganze Dorf, irgendein Mann, der mit uns war, war einer von hier. Jemand hatte die Leute vorgewarnt, sie nahmen uns nicht auf. Deutsche sind das, die haben Schwänze und Hörner.
Dann das vierte Haus, ein kleines Mädchen öffnete das Fensterchen, schaute heraus und meinte: «Mama, sie sehen alle so hübsch aus. Komm, Mama, wir lassen sie rein». Sie öffneten die Tür, das Tor, und ließen uns hinein.
Danach wohnten wir in einem anderen Haus, dort waren wir insgesamt fünf Familien. In der Mitte des Zimmers gab es einen Ofen, und wir bauten uns selber Pritschen aus Holzstangen, denn Betten oder sonstige Möbel gab es nicht. Später zogen wir so viele Male in andere Wohnungen, immer wieder jagten sie uns hin und her.
Wo wir auch überall lebten und wie wir wohnten. In einer Erd-Hütte verbrachten wir zwei Winter, nirgends konnten wir hin, sie jagten uns von einer Ecke in die andere. Wir überwinterten dort, wie ich mich erinnere, und es herrschte eine entsetzliche Kälte…
Hier wuchs ich auf und ging sogar ein Jahr in Kemskoj in den Kindergarten. An den Kindergarten kann ich mich auch noch erinnern, als wäre es gestern gewesen. Wir hatten ein einziges Zimmer, es gab nicht genügend Bettchen, zu zweit schliefen wir in einer Koje. Neben mir lag ein kleines Mädchen, ebenfalls Deutsche, das mich jedes Mal verprügelte.
Tische gab es nicht, sie ließen uns im Kreis auf dem Boden sitzen, gaben uns ein
kleines Aluminium-Tässchen, zwei Kartöffelchen, und das war unser ganzes essen.
Aber im Sommer bekamen wir auch Kohl und Möhren, im Sommer kochten sie uns Suppe,
aber an Fleisch kann ich mich nicht erinnern, auch Brot gab es nur wenig, ein
kleines Stückchen, aber immerhin.
Kein Spielzeug, gar nichts hatten wir. Und wie gern hätten wir wenigstens eine
Puppe besessen; jeden alten Lumpen verwandelte ich in ein kleines Püppchen,
schnürte es zusammen, damit es zumindest einen Kopf bekam.
Es gab wenig Gutes: ich war bereits 11 Jahre alt, als sie uns mit Erde und Steinen bewarfen. Da lebten wir also in Kemskoje, drei Schwestern ohne Eltern; wie Hunde benahmen sie sich und standen überall auf der Straße.
Wir gingen dort nur so entlang, und schon warfen sie mit Sand und Steinen nach uns. Aber es gab auch einige sehr gute Menschen. Innerhalb aller Nationalitäten gibt es unterschiedliche Menschen, sowohl gute, als auch schlechte.
«Wir kamen alle hierher, konnten nicht zur Schule gehen, hatten nichts zum Anziehen, und so blieben wir Analphabeten. Ich beendete vier Schulklassen, danach hätte ich nach Dudowka gehen müssen, aber ich besaß keine Kleidung. Zur Schule ging ich damals in einem Rock, der aus einem Sack gemacht war, mit einem einzigen Knopf, und einem ganz alten Schal, der über Kreuz gewickelt war, ich war barfuß.
Speilsachen besaßen wir nicht, wir begaben uns zu den Müllhaufen und suchten darin irgendwelche Lumpen oder Glasscherben, und damit spielten wir dann. In der Schule lernte ich gut, ich schämte mich dorthin zu gehen, ich saß extra auf der letzten Bank, damit mich keiner sah. Russisch und Mathematik mochte ich schrecklich gern. Ich erinnere mich, dass ich im Russischen einen einzigen Fehler in der Wortverbindung «auf dem schmalen Weg», ich schrieb „aa“. Die Lehrerin rief mich an die Tafel und sagt: «Wie lautet die Verkleinerung vom schmal? Ich sage: «Schmaler». Und sie erwidert: «Warum schreibst du dann schmaaler?» Das habe ich mir mein Leben lang gemerkt.
Kinder im Kinderheim im Kasatschinsker Bezirk.
Quelle: Krasnojarsk — Berlin. 1941—1945, 2009 / krskstate.ru
Als ich in der 4. Klasse war, wurde Mama krank, und niemand war da, der die Kartoffeln ausgraben konnte; also blieb ich zu Hause, um es zu machen. Der Kommandant kam aus Dudowka, ich wurde zum Dorfrat bestellt und dort gefragt: «Warum gehst du nicht in die Schule?». Ich sage: «Ich fühle mich nicht gut». Aber in der Schule wurde ich trotzdem für alle als gutes Beispiel hingestellt, und ich wollte so gern lernen, weil ich es interessant fand. Na schön, zwei Wochen ließ ich ausfallen, und dann ging ich erneut zur Schule, und so holte sie (die Lehrerin) mich jeden Tag an die Tafel und zeigte mich als gutes Beispiel für alle vor. «Da könnt ihr mal sehen: sie hat so viel versäumt und weiß trotzdem alles» – meinte sie. Aber ich lernte zu Hause alles, das musste ich.
Ich weiß noch, wie sie uns alle zum Dorfrat bestellten, alle standen, eine Schweigeminute setzte ein, man las uns Gebete vor. Ich weinte, denn sie hatten meinen Vater 1937 abgeholt, und 1997wurde er wegen seiner Unschuld rehabilitiert. Er schrieb der Mama immer, dass sie die Kinder gut behüten sollte, dass er unschuldig wäre und man ihn entlassen würde. Später, als mein ältester Bruder aus der Arbeitsarmee nach Hause kam, stellte er Nachforschungen an, um den Vater zu finden, aber es kam keine Antwort.
Doch bald kam ein Schreiben, dass der Vater am 21. Oktober 1937 verstorben war, zu der Zeit waren wir gerade auf dem Weg hierher.
Bis 1956 mussten wir uns regelmäßig melden. Ich begann zu arbeiten, und dann kam dieser Kommandant; er hatte diesen Besuch, diese Fahrt, zu diesen Verbannten äußerst ungern gemacht - sie sollten sich registrieren lassen. Er lässt mich holen und sagt: «Ich gebe dir 10 Leute, alle 10 Tage gehst du zu ihnen und sammelst ihre Unterschrift, damit sie nicht irgendwohin flüchten». Ich fing an zu weinen: ich kenne niemanden, das sind doch auch alles Verbannte, neue Leute. Na ja, ich machte mich auf, um diese Menschen im Dorf zu suchen, was sollte ich denn machen?
Wir durften nirgends hingehen, nicht einmal ins Nachbardorf. Selbst zum Laden mussten wir uns schleichen – wir hatten Angst. Mamas Schwester lebte in Beloretschka, 8 Kilometer von Kemskoje entfernt; dort ging Mama nachts hin, obwohl sie in aller Strenge angemerkt hatten, dass niemand irgendwo hin gehen sollte.
Nein-nein, Deutsch sprach ich nicht. Ich weiß noch, wie unsere Leute aufs Feld gingen, um Stärke zu sammeln. Ich weinte die ganze Zeit, weil ich mit ihnen gehen wollte; damals war ich 6-7 Jahre alt. Na ja, schließlich nahmen sie mich mit. Ich kam nicht bis Tabor; ich weinte und wollte nach Hause. Das war im Frühjahr. Und da sagten sie zu mir: «Geh auf diesem Weg wieder nach Hause zurück, aber verlauf dich nicht! Und nun geh!». Und dann ging ich los.
Der Jenissej, Region Krasnojarsk
Weiß der Himmel, wo ich vom Weg abkam und mich verlief. Die Sonne ging bereits unter, und ich setzte mich auf einen Baumstammíà, fing an zu weinen und sage zu mir selbst: «Gleich werden die Wölfe kommen und mich zerreißen». Und ich erinnerte mich an die Großmutter: sie hatte gesagt, dass ich, egal wo ich auch wäre, in Not oder schlechter Verfassung zu Gott beten sollte.
Ich kniete nieder und flehte: «Lieber Gott, du siehst doch, dass ich ganz allein bin, gleich werden die wilden Tiere mich zerfleischen; hilf mir, einen Ausweg zu finden». Ich betete so gut ich konnte. Und wie aus dem Nichts kam ein Fuhrwerk angefahren. Ich stellte mich vor den Baum, und sie fragten: «Wo gehörst du denn hin?». Wie sollte ich antworten? Ich konnte doch kein Russisch. Aber ich erinnerte mich an das Wort, wie die Oma immer „Emskoje“ anstatt „Kemskoje“ sagte, und so rief ich ihnen „Emskoje, Emskoje“ zu.
Sie verstanden, dass Kemskoje gemeint war, ließen mich aufsteigen und fuhren los. Wir kamen bis zur Brücke – und da stießen wir auf die meinen. Ich begann sofort zu weinen und schrie, dass ich zu ihnen wollte. Sie hielten an und ließen mich aussteigen. Wir gingen nach Hause, ich brüllte die ganze Nacht, und Mama blieb bei mir und stellte Fragen: «Warum weinst du? Wo warst du? Was ist mit dir?». Alle hatten Angst zu sagen, dass sich mich allein hatten gehen lassen, dass Mama sie schrecklich ausschimpfen würde. Und so sagten sie nichts.
Ich kenne keinerlei Traditionen. Ich weiß, dass meine Vorfahren meine Gottesbücher mitgenommen hatten und dass man sie bei uns vererbt. Und wir haben unser ganzes Leben lang zu Gott gebetet.
Als wir nach Kemskoje kamen, wurde sogleich die Kirche auseinandergenommen, um
eine Garage daraus zu machen. Wir hatten eine Nachbarin, Tante Katja; ich fragte
sie: «Tante Katja, wo ist denn dein Mann?». Sie sagte, dass, noch bevor sie
hierher verschleppt wurden, alle geholt und den Kolchosvorsitzenden gefragt
hätten: «Wer klettert auf den Kirchturm hinauf und bringt das Kreuz herunter?
Derjenige bekommt eine Kuh aus der Kolchose geschenkt». Ihr Mann meldete sich
auch. Er kletterte hinauf, immer höher, immer näher kam er dem Kreuz, Aber er
schaffte es nicht: er rutschte ab, stürzte herunter und war sofort tot. Noch ein
paar weitere Männer versuchten, dass Kreuz zu zerstören, aber auch sie stürzten
in den Tod.
Im Nachhinein
Quelle: Krasnojarsk — Berlin. 1941—1945, 2009 / krskstate.ru
1947, im April, kehrte mein Bruder aus der Arbeitsarmee zurück. Sie hatte ihn gleich nach unserer Ankunft eingezogen. Im Herbst war er erst 15 Jahre alt geworden, sie schickten ihn zurück. Später, wieder im Frühjahr, mobilisierten sie ihn ins Gebiet Swerdlowsk, im Herbst, im September, wäre er erst 16 Jahr alt geworden – ein Kind noch. Er verblieb in der Arbeitsarmee bis 1947.
Als er nach Hause zurückkam, ging er zur Arbeit, und man gab ihm eine Ein-Zimmer-Wohnung, ein normales Zimmer; dort lebten wir ebenfalls etwa zwei Jahre, dann wurde uns ein Einzelhäuschen zugeteilt, in dem drei Familien lebten. 1950 zogen wir wieder um, und mein Bruder heiratete. 1953 zogen wir nach Tabr. Und Leute, die wir bereits aus Kemskoje kannten, begannen dort Häuser zu bauen, um nicht so weit laufen zu müssen.
1960 fingen die Menschen an ab zu reisen, der eine hierhin, der andere dorthin, manche kehrten aber auch wieder zurück; aber unsere Mama wollte bleiben. In das Dorf, in dem wir gelebt hatten, ließ man uns nicht. Die Menschen begaben sich ins Dorf Kana, nur Mama kannte dieses Territorium hinreichend gut. Die Mädchen dort heirateten nicht. Dort gab es so viel Lehm, aber keinen vernünftigen Boden und Wasser. In unser Dorf wären wir zurück gegangen, aber nicht dorthin. 1963 zogen wir dann nach Mokruschinskoje.
Ich weiß nicht, wozu es nütze war, aber hier löffelten wir unsere Strafe aus. Es waren furchtbar schwere und schwierige Jahre bis 1956. Dann kam Chruschtschow an die Macht, und er erteilte den Befehl «die Hofwirtschaft zu belassen», aber nur eine einzige Kuh und zwei Schafe…
Das Leben ist vorübergegangen. Und wem soll man was übelnehmen? Wie wir lebten, so haben wir gelebt, aber wir haben alle Wermutstropfen ausgelöffelt. Wir sind wieder auf die Beine gekommen. Wenn man es so betrachtet: was unsere Vorfahren durchgemacht haben, ist entsetzlich. Mama hat ihr Leben erzählt, sie hatte irgendwie einen starken Charakter, aber ich bin noch ein Mädchen, ich saß und vergoss bittere Tränen. «Wie konntet ihr nur überleben?» – fragte ich sie.
Auch mein eigenes Leben ist vergangen. Ich bin Sibirerin geworden, bin hier bereits aufgewachsen. Viele Deutsche haben sich auf den Weg nach Deutschland gemacht, aber ich wollte und will nirgends hingehen, und die Mama wollte das auch nicht. Hier bin ich zuhause, bei mir herrschen Sauberkeit und Ordnung.
Aufgezeichnet von Jekaterina Wlassowa, Ortschaft Dudowka, Kasatschinsker Bezirk, 2017.
Das orthodoxe Christentum und die Welt, 11.06.2018