In der Siedlung Tugatsch im Sajan-Bezirk haben Ortsbewohner ein Museum der Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Repressionen eröffnet. Von 1938 bis 1953 befand sich hier das Tugatschinsker Besserungs- und Arbeitslager, wo in all den Jahren 12000 Menschen inhaftiert waren.
Tassen, Löffel, Suppenkellen, Uschanki (Pelzmützen mit Ohrenklappen; Anm. d. Übers.) und vieles mehr lagerte mehr als 60 Jahre auf den Dachböden der Siedlungsbewohner. Auf einigen Gegenständen befinden sich sogar Familiennamen und Initialen. Die Siedlungsbewohner, von denen ein Großteil Nachfahren jener Häftlinge sind, fassten den Beschluss, die Erinnerung an ihre Angehörigen, welche unschuldig in Lagern umkamen, zu verewigen, und unter freiem Himmel ein Museum mit der Bezeichnung «Streng geheim — Das Tuagtschinsker KrasLAG» zu eröffnen. Noch bis vor nicht allzu langer Zeit lagen die meisten Informationen über dieses Lager noch unter Verschluss.
Zusammen mit Gegenständen des Alltags und persönlichen Dingen sind im Museum ein Schema des Lagers selbst, Modelle von den Baracken, Briefe, Fotografien und Kopien von Personenakten der Gefangenen, Karten von den Örtlichkeiten jener Zeit ausgestellt; auf dem Territorium der Siedlung sind die Stellen gekennzeichnet, wo sich zu Stalins Zeiten das Lager-Krankenhaus, der von den Gefangenen gebaute Damm, das Pferde-Depot, der Friedhof, auf dem die Toten bestattet wurden, usw. befanden. Aber das Wichtigste sind die Erinnerungen der Kinder der einstigen Häftlinge. Sie haben sie aufgeschrieben und setzen diese Tätigkeit bis heute fort.
Rekonstruiertes Lager-Modell. Foto: Aleksej Babij
«Wir hatten solchen Hunger, dass wir manchmal in den Schweinetrögen etwas Essbares suchen mussten. Die Wachen misshandelten uns, es kam vor, dass sie auf einen feuerten, weil er angeblich versucht hatte, zu fliehen. Einmal versank ein Kind im Bruch-Eis, ein Gefangener wollte hinterherspringen, um es zu retten, aber der Wachmann ließ ihn nicht, und das Kind ertrank.
Anfangs beerdigten sie die Gefangenen in Einzelsärgen, aber die Menschen starben so oft, dass nicht rechtzeitig neue Särge hergestellt werden konnten; sie transportierten einen Toten mit dem Sarg ab, kippten ihn in eine Gemeinschaftsgrube und kehrten dann mit demselben Sarg zurück, um den nächsten Toten zu holen» — berichtete Gerassim Berssenjew, der im Tugatschinsker Lager 10 Jahre absaß.
Eine seiner Töchter, Lidia Slepez, lebt heute noch in Tugatsch und gibt zu, dass sie all die Jahre eine schwere Last in sich getragen hat, weil sie über den Erdboden geht, wo man ihren Vater, wie viele tausend andere, ins Leid schickte, obwohl die meisten von ihnen völlig unschuldig waren. Laut Archiv-Angaben befanden sich in der Tugatschinsker Lagerstelle vorwiegend Gefangene mit einem politischen Paragraphen.
Gerassim Aleksandrowitsch Berssenjew. Foto: Archiv der Familie Slepez.
«Ich wurde geboren, nachdem Papa schon freigelassen worden war, — erzählt Lidid Gerassimowna. — All meine Erinnerungen gründen sich auf seine Berichte. Natürlich hat er uns Kindern nicht alles erzählt. Aber auch das genügte schon, um zu erschaudern. Sie holten ihn als jungen Mann von 22 Jahren 1937 aus Ost-Kasachstan weg. Seine Frau und sein sechs Monate alter Sohn blieben zu Hause zurück. Weswegen die Verhaftung stattfand, ist völlig unverständlich. Er war als Fahrer beim Kolchos-Vorsitzenden angestellt, damals eine sehr angesehene Tätigkeit. Irgendjemand denunzierte diesen in schriftlicher Form, er wurde verhaftet. Und einige Zeit später holten sie auch den Vater – geradewegs vom Anhänger. Eine Troika des NKWD verurteilte ihn nach § 58 ñòàòüå (unter Stalin «Staatsverbrechen und konterrevolutionäre Tätigkeit»), brummten ihm «10 Jahre ohne Recht auf Briefwechsel» auf. Per Etappe verfrachteten sie in die Region Krasnojarsk. Seine Ehefrau hatte ebenfalls als Frau eines «Volksfeindes» zu leiden; man schickte sie fort, um Baugruben auszuheben, das Kind blieb bei den Großeltern; erst ein halbes Jahr später entließ man sie.
Papa saß die gesamte Haftzeit ab, allerdings bekam er zum Schluss keine Wachbegleitung mehr, und er verließ die Lagerzone. Die schlimmsten Erinnerungen sind die an den Hunger, die uneingeschränkte Macht der Wachen und auch der Rückfälligen, die ebenfalls ins Lager gerieten. Einmal sah Papa zufällig, wie sie den Lebensmittelkiosk plünderten. Sie drohten ihm und sagten, dass er schweigen solle, sonst würden sie ihn umbringen. Er schwieg, doch die Lagerleitung erfuhr von dem Vorfall, und sie sperrten ihn als Beteiligten für einen Monat in die Baracke mit besonderer Haftordnung. Dort bekam er pro Tag einen Krug Wasser und 200 Gramm Brot. Er kam dort mit einem Gewicht von 38 kg heraus. Die Gefangenen arbeiteten bis zur Auszehrung und völligen Erschöpfung – sie fällten Bäume, standen den ganzen Tag bis zu den Knien im kalten Wasser. Die Füße in den Stiefeln wurden vom Wasser und dem hineinrieselnden Sand bis aufs Blut wundgerieben. Die Baumstämme mussten sie in den Fluss Kan hinabrollen und dann manuell abflößen.
Unterkunft aus KrasLag-Zeiten. Heute befindet sich dort eine
rekonstruierte Baracke.
Nachdem Papa in die Freiheit entlassen worden war, kehrte er nicht nach Hause zurück. Er hatte eine Frau kennengelernt, meine Mama, und die beiden blieben zusammen dort. Sie war allein mit drei Kindern zurückgeblieben Ihr Mann war Wachmann im Lager gewesen und dann, ganz zu Beginn des Krieges, an der Front gefallen. Papa hatte Mitleid, dass die Kinder allein waren, und er wurde für sie ein wahrer Vater. Er dachte noch nicht einmal daran, dass es die Kinder eines ehemaligen Wachmanns waren: alle waren damals Unfreie, Hörige – die Einen saßen in Haft, die anderen brauchten Arbeit. Das war seine Meinung.
Die beiden bekamen noch drei weitere Kinder, eines davon war ich. Einmal fragte ich den Vater, weshalb er nicht zu seiner Familie zurückgekehrt sei; und er gab zu, dass er sich sehr gekränkt gefühlt hatte: in den 10 Jahren war nicht ein einziger seiner Verwandten gekommen, während andere Besuch bekommen hatten. Aber als er bereits mit Mama zusammenlebte, fuhr Papa zu Besuch zu seiner ersten Familie und sah seinen Sohn. Der wollte sogar mit ihm nach Sibirien kommen, aber der Vater redete ihm das aus; er sagte, dass er die Mutter nicht im Stich lassen dürfe, die ihn doch ganz allein großgezogen hätte. Und der Junge blieb. Bemerkenswert, aber in unserer Familie gab es keine Eifersucht untereinander. Später, als wir größer waren, fuhren wir zu Besuch zum Bruder, und seine Kinder kamen zu uns.
Lidia Slepez mit ihren Enkelkindern. Foto aus dem Archiv der Familie Slepez.
Papa wurde 1963 rehabilitiert. Sie rekonstruierten seine Arbeitsjahre, auch die 10 Jahre im Lager fanden Berücksichtigung. Das Einzige, was er nicht mehr schaffte, war der Erhalt einer Entschädigung. Er erlebte sie nicht mehr. Er starb mit 66 Jahren an einem schweren Infarkt. Er war ein sehr gutmütiger Mensch gewesen, der sich immer alles sehr zu Herzen genommen hatte. Sobald er aus der Lagerzeit berichtete begann er zu weinen.
Wir haben es unser ganzes Leben als schmerzlich empfunden, dass der Vater wegen nichts so leiden musste. Aber als die Eröffnung des Museums stattfand, wurde uns leichter ums Herz. Wir trugen doch die ganze Schwere dieser Ungerechtigkeit in uns. Ich erinnere mich, wie der Bruder erzählte, dass sie ihn als kleinen Jungen schlugen und verprügelten, weil er der Sohn eines Volksfeindes war, und er musste sich wehren und zurückschlagen.
Die Idee für die Schaffung eines Museums kommt von den Kindern von Häftlingen, die nach § 58 verurteilt wurden, und von denen, die sich dafür interessieren, dass die Geschichte ihres Ortes bewahrt bleibt. Die Finanzierung des Projekts wurde Dank des Wettbewerbs «Kulturelles Mosaik der kleinen Städte und Ortschaften» sichergestellt — die Anmeldung dazu wurde von den Ortsbewohnern selbst eingereicht.
Die Umschläge wurden auf dem Dachboden der KrasLag-Unterkunft gefunden Foto:
Aleksej Babij
— Das Territorium der Siedlung Tugatsch ist eine historische Kostbatkeit, denn hier sind Gebäude erhalten geblieben, die durch die Hände von Gefangenen entstanden, ein Häftlingsfriedhof, wie es ihn praktisch auf keinem anderen Areal eines ehemaligen GULAG-Lagers gibt, — sagt die Mitarbeiterin des Sajaner Heimatkunde-Museums Jelena Koslowa. — Nach der Schließung des Lagers blieben in Tugatsch sowohl einstige Gefangene, als auch Mitarbeiter des Lagers und der Wachmannschaften wohnen. Und heute leben hier ihre Kinder und Enkel. Das Museum ist unter anderem dazu gedacht, die einen mit den anderen zu vereinen und zu versöhnen. Für die Kinder und Enkelkinder derer, die nach § 58 verurteilt wurden, die lange Zeit geschwiegen haben, die auch heute nichts über ihre Verwandten wissen, ist es wichtig, die Geschichte zu verstehen. Damit die zukünftigen Generationen nicht Momente miterleben und durchmachen müssen, in denen ein Nachbar den anderen denunziert, in denen ein ausschweifender Hass auf den Nächsten herrschte.
Maria Schanowa, Einwohnerin des Sajan-Bezirks, erinnert sich, dass die Häftlinge 1937 zu Fuß aus Saosjornij hierhergetrieben wurden, sie waren drei Tage unterwegs. Sie lebte zu der Zeit mit ihren Eltern im Nachbardorf Kapitonowo. Im Dorf gab es fast keine Menschen: insgesamt nur 20 Höfe. Ringsumher undurchdringliche Taiga, neben den Häusern wuchsen jahrhundertealte Lärchen und sibirische Kiefern. Bald darauf begannen die Bauaktivitäten: es entstanden Baracken für die Gefangenen, die Lagerzone selbst wurde mit einem hohen Zaun umgeben, und man hob Gräben aus. An allen vier Ecken wurden Wachmannschaften aufgestellt, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren, einige besaßen auch Hunde. Die Wachleute hatten nichts, wo sie wohnen konnten, daher kamen sie vorübergehend bei Familien in Kapitanowo unter. Wir waren gezwungen sie aufzunehmen. Wir brachten sie im Badehaus unter, einige ließ man auch bei sich in der Wohnung mit leben. Dieses Miteinander bedeutete eine sehr angespannte Zeit in meinem Leben. Damals gab es in Kapitanowo noch kein Licht, wir mussten mit geteerten Holzspänen auskommen. Und die Gefangenen bauten am Fluss Tugatsch ein Elektrokraftwerk, eine Mühle und ein Krankenhaus.
Von Bewohnern eingesendete Archiv-Bilder.
Anna Kutko arbeitete 1939 in Tugatsch als Zivilangestellte an der Holzempfangsstelle. Die Frau erinnert sich, wie die ersten Häftlinge, während sie die Baracken errichteten, in Rinden-Hütten hausten; die Winter waren hart — bis zu 45 und 50 Grad Frost. Es kam vor, dass die Fußlappen an den Filzstiefeln festfroren. Der örtlichen Bevölkerung war es verboten, mit den Gefangenen Kontakt zu haben; wenn derartige Vorfälle herauskamen, bekam derjenige 24 Stunden Zeit, um die Siedlung zu verlassen. Während des Krieges stand es um die Verpflegung im Lager sehr schlecht; die Mitarbeiter fuhren in die nahegelegenen Dörfer und holten von der Bevölkerung und den Kolchosen krankes und eingegangenes Vieh ab: Kühe, Pferde, das Fleisch wurde lange gekocht an dann als Essen an die Gefangenen ausgegeben.
Erhalten gebliebene Ohrenmützen der Gefangenen. Foto: Aleksej Babij
P.S. Heute werden alle Materialien zum Tugatschinsker Lager in den Archiven der Hauptverwaltung des föderalen Strafvollzugsdienstes der Region Krasnojarsk verwahrt. Im Museum ist das Wichtigste nicht vorhanden — eine genaue Liste, wer weswegen hier seine Strafe verbüßte. Gleichzeitig mit der Eröffnung des Museums schrieben die Ortsbewohner einen Brief an die Hauptverwaltung des föderalen Strafvollzugsdienstes, damit man ihnen Zugang zu den Informationen gewährt. Derzeit ist der Zugang dem Vorsitzenden der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation, Aleksej Babij, möglich, und er hat dort seine Arbeit bereits aufgenommen. Nach Babijs Worten kann man die Angaben rekonstruieren, allerdings ist dies aus technischen Gründen sehr schwierig. Die Registrierkarten des gesamten KrasLag sind in alphabetischer Reihenfolge hinterlegt (und es handelt sich um hunderttausende Häftlinge). Um jene herauszusuchen, die in Tugatsch einsaßen – braucht es mehr als einen Monat akribischerArbeit. Aber man kann die Zeugnisse bei den Menschen präzisieren, bei denen wenigstens der Nachname bekannt ist. Diese Arbeit wird derzeit gemeinsam mit der Hauptverwaltung des föderalen Strafvollzugsdienstes durchgeführt.
Swetlana Chustik
Prospekt Mira, 21.06.2018