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Von der Wolga – in die Gefilde des ewigen Frostes

Die Geschichte der Repressionen der Familie Schlottauer

Kürzlich führte ich mit Wladimir Schlottauer, der mit seiner Frau nach Jermakowskoje gekommen war, um seine Schwester Jekaterina zu besuchen, eine Unterhaltung über die Repressionen. Sie wurden als zwei von insgesamt fünf Kindern in eine deutsche Familie in Norilsk hineingeboren, wohin die Eltern von der Wolga deportiert worden waren.

Ihr Vater, Iwan Iwanowitsch Schlottauer, geboren1918, stammte aus der Ortschaft Palassowka im Gebiet Saratow. Seine künftige Ehefrau, Amalia Petrowna Mauer, geboren 1915, lebte im Belzerschen Bezirk (Kanton Balzer?; Anm. d. Übers.), ebenfalls im Gebiet Saratow gelegen.

Sie wurden 1943 deportiert. Wie die anderen auch, waren sie gezwungen, ihre Häuser und Höfe zurückzulassen. Sie durften nicht mehr als fünf Kilogramm Gepäck mitnehmen, egal, ob Lebensmittel oder Kleidung. Nach Sibirien wurden sie in Viehwaggons transportiert. Viele hielten der langen Fahrt nicht stand und starben an Hunger und Kälte. Nach den Erinnerungen der älteren Leute wurde keiner der Toten begraben, man warf sie einfach zwischen zwei Haltestellen aus dem Zug…

Man verschleppte die Partie Deutscher dorthin, wo arbeitende Hände benötigt wurden, - in den Norden, zum Bau der Industriestadt Norilsk und seiner Bergwerke. Die zukünftigen Eheleute fuhren in verschiedenen Waggons. Am Verbannungsort lernten sie sich kennen. Sie verliebten sich, gründeten eine Familie, Kinder kamen. Ihre Ehe ließen sie im Dezember 1957 registrieren, als ihr viertes Kind (Tochter Jekaterina) geboren wurde. Insgesamt hatten Iwan Iwanowitsch und Amalia Petrowna fünf Kinder – drei Töchter und zwei Söhne.

Iwan Iwanowitsch war am Bau der elektrischen Fernleitung in der Siedlung Talny beteiligt. Er arbeitete gewissenhaft, in den Nachkriegsjahren hing sein Porträt nicht selten am Ehrenbrett. Die Arbeit als solche war sehr schwer, denn die Bauarbeiten wurden unter den Bedingungen des ewigen Frostes durchgeführt. Doch trotz seiner Müdigkeit fand Iwan Iwanowitsch immer Zeit zum Fischen und Jagen, um seine kinderreiche Familie ernähren zu können. Ehefrau Amalia saß mit den Kindern, die ihre Fürsorge benötigten, zu Hause.

Sie lebten in langen, primitiven Baracken, die als «Balkenbau» bezeichnet wurden. Jede Familie bekam ein kleines Zimmer zugeteilt. Und in so einem Käfig hausten sieben Personen. Die Eltern wurden 1956 rehabilitiert, nach dem Parteitag, auf dem der Personenkult Stalins verurteilt wurde. Und dann bekam die Familie Schlottauer eine Wohnung in einem Backsteinhaus.

1963 zog die Familie aufgrund des schlechten Gesundheitszustands des Vaters (man hatte ihm empfohlen, das Klimagebiet zu wechseln), in das Dorf Tschornaja Koma im Nowoselowsker Bezirk, Region Krasnojarsk. Dort lebte einer ihrer Landsleute aus Norilsk, der sie auch dorthin gerufen hatte. Am neuen Wohnort begegnete man ihnen, den Menschen deutscher Nationalität, mit Vorsicht und Achtsamkeit, und die Kinder dort gingen mit den Kleinen der Schlottauers keineswegs zimperlich um. Die verprügelten sie, beschimpften sie als: «Fritze!», «Deutsche, die man noch nicht fertiggemacht hätte!» Wie oft kehrten die Kinder tränenüberströmt heim, Mädchen wie Jungen. Der Vater schärfte seinen Söhnen auf das Strengste ein «Kommt ja nicht auf die Idee Euch zu prügeln! Wenn Ihr auch nur einen von denen mit den Fingern berührt, macht ihr es bloß noch schlimmer». Und die Kinder ertrugen schweigend die Beleidigungen. Zum Glück dauerte dieses Verhalten ihnen gegenüber nicht lange an. Schon sehr bald begannen die Bewohner der Ortschaft den Fleiß und die vielfältigen Fähigkeiten der eingetroffenen Deutschen zu schätzen und respektierten sie.

Was allein Iwan Iwanowitsch wert war! Nicht nur, dass er sich auf der Arbeit (sowohl als Viehwärter, als auch als Zimmermann) durch seine Sorgfalt und seinen Fleiß auszeichnete – er war einfach ein Tausendkünstler. Er konnte Stiefel reparieren, Filzstiefel umsäumen, Tischlerarbeiten verrichten und vieles andere mehr. Diese Merkmale schauten sich auch seine Söhne von ihm ab. Heute zum Beispiel ist Vladimirs Ehefrau unheimlich stolz darauf, dass sie mit ihrem Mann so ein Glück hatte – er kann alles machen, was ihm unter die Finger kommt… Ihre Mutter konnte wunderbar singen, und ihre Gene wurden an die Töchter weitergegeben. Jekaterina kam ganz genau nach ihrer Mutter…

Von Kindheit an gewöhnten die Eltern die Kinder ans Arbeiten, damit sie lernten, alles selber zu machen. Daher konnten sie in der Schulzeit sowohl Brennholz sägen, als auch Heu für die Kühe mähen und sich um den Gemüsegarten kümmern. Die Jungen kümmerten sich meistens um die Tiere – sie fütterten und tränkten die Kühe, Schweine und Hühner und entmisteten die Stallungen. Die Mädchen hingegen halfen der Mutter im Haus..

Wladimir und Jekaterina gaben zu, dass die Eltern nie jemandem von ihrem früheren Leben erzählt hatten, und ihren Kindern auch nicht: offenbar hatten sie vor irgendetwas Angst. In ihrer deutschen Muttersprache unterhielten sie sich nur Zuhause. Die Kinder verstanden sie gut, allerdings sprachen sie selber stets nur Russisch. Ihnen, den Kindern, befahlen die Eltern immer sich beispielhaft zu benehmen, keinen Unfug zu treiben und andere nicht zu beleidigen. Und erst als die Kinder selber erwachsen geworden waren, erfuhren sie, dass ihre Familie Repressionen ausgesetzt gewesen war…

Sie wohnten in einem kleinen Häuschen, aber der Vater war so kunstfertig, dass, egal, wo sie auch wohnten, er es immer schaffte, Gemütlichkeit und Schönheit zu schaffen. Haus und Hof machten stets einen einladenden, gefälligen, gepflegten und sauberen Eindruck.

In diesem Dorf lebten sie bis 1973, dann begaben sie sich nach Kasachstan, in die Stadt Pawlodar, wo sie mehrere Jahre wohnten. Und dann kehrten sie doch wieder nach Tschornaja Koma zurück. Diesmal wurden sie von der Leitung und den Einwohnern herzlich begrüßt. Der Familie wurde eine Zwei-Zimmer-Wohnung zur Verfügung gestellt und ein kleines Stück Land zum Anlegen eines Gemüsegartens. Und wieder richtete der Vater alles schön ein. Doch die alle Kräfte übersteigende Arbeit und das unstete Leben im rauen Norden zerstörten die Gesundheit der Eltern: der Vater wurde nur 63 Jahre alt, die Mutter starb noch früher – mit 57.

Heute sind von den fünf Kindern der Schlottauers noch drei am Leben. Der Irkutsker Wladimir Iwanowitsch hat sich einem Beruf gewidmet, der sich mit der Technik der Datenverarbeitung befasst. Jekaterina Iwanowna arbeitet im Bereich der Medizin. Heute arbeitet sie mit Mann und Tochter als Krankenschwester in der stomatologischen Praxis des Jermakowsker Zentral-Bezirks-Krankenhauses. Die älteste Schwester, Natalia Iwanowna, die in der Siedlung Dubinino, Scharypowsker Bezirk, Region Krasnojarsk, lebt, war ihr Leben lang als Erzieherin im Kindergarten tätig. Alle drei haben Kinder großgezogen, warten auf prachtvolle Enkelkinder. Das Leben geht weiter…

Larissa Golub


Iwan Iwanowitsch Schlottauer, 1959.

Niwa (Ermakowskoeå) 25.10.2018


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