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Aufzeichnungen eines Verfolgten: «Die Heimat hat mich stiefmütterlich behandelt. Aber ich liebe sie»

Als der Krieg ausbrach, war sie noch ein ganz junges Mädchen. Der allgemeine Kummer einer schweren Bürde stürzte auf zerbrechliche Schultern herab. Doch ein Unheil kam nicht allein – einen Monat nach Bekanntgabe der Invasion der Faschisten auf dem Territorium der Sowjetunion erging ein Dekret der Regierung, nach dem sie in die Verbannung geschickt werden sollte. Die heimatlichen Gefilde verlassen, sich von der Familie trennen, ans Ende der Welt geraten – nur weil sie einen deutschen Nachnamen trug.

Ende Oktober wird in Russland der Tag der Repressionsopfer begangen. Am Vorabend dieses Datums erzählte uns die Tochter der gewaltsam nach Sibirien umgesiedelten Wolgadeutschen Jelena Genrichowna Skoworodko (Mädchenname Birkheim), Anna Iwanowna Borissewitsch, vom schweren Schicksal ihrer Mutter und gestattete uns, ihrer Erinnerungen über jene schreckliche Zeit zu lesen.

Wie eine Offenbarung

Um es gleich zu sagen – die Kinder in der Familie Skoworodko konnte sich lange Jahre noch nicht einmal vorstellen, dass ihre Mutter einst aus ihrer Heimat ausgesiedelt worden war. Heute tragen einige von ihnen wie ein Banner den Status von Repressionsopfern. Zu Sowjetzeiten war davon keine Rede. Jelena Genrichowna änderte sogar ihren Vatersnamen (sie nannte sich Jelena Andrejewna) – damit die Behörden sie nicht anrührten. Hätte sie sich denn in ihrer Jugend vorstellen können, dass sie ihren Namen Jahrzehnte lang würde geheim halten müssen, den Namen, den sie von ihren Vorfahren bekommen hatte, die noch vor der Revolution nach Russland umgesiedelt waren? Sie, die schon seit Generationen auf russischem Boden lebten, hielten sich für Bürger ihres Landes. Das Land aber sah sie als Feinde an.

- Mamas Eltern wurden nach Kasachstan ausgesiedelt, sie selbst – in den Nowosjolowsker Bezirk in der Region Krasnojarsk, - erzählt Anna Iwanowna. Sie wurde der Siedlung Kutschibasch als Lehrerin für Deutsch und Biologie zugeteilt. Dort lernte sie Papa kennen und heiratete ihn. 1942 wurde der Vater in die Armee einberufen und später zum Aufklärungsdienst an die Leningrader Front. Schwer verwundet kehrte er zurück. Nach dem Krieg wurde das Thema der Repressionen innerhalb der Familie auch nicht angesprochen. In der Siedlung verhielt man sich uns gegenüber gut, deswegen dachten wir auch nicht darüber nach, dass bei uns mit der Herkunft irgendetwas nicht stimmte. Und dass Mama nicht Andrejewa, sondern Genrichowna hieß, erfuhr ich überhaupt erst 1971, als es notwendig war, sie in die Stadt zu bringen!

Jelena Genrichowna erzählte ihren Kindern nie, durch was für eine Hölle sie hatte gehen müssen. Erst am Vorabend ihres Todes erfuhren ihre Töchter – Anna, Isolde und Walja - alles.

- Isolde rief vor Neujahr 2010 an. Sie sagte, dass es Mama schlecht ginge, - fährt Anna Iwanowna fort. – Walja und ich jagten dorthin. Wir wollten Mama ins Krankenhaus bringen, doch sie lehnte das rundweg ab. In dieser Neujahrsnacht waren wir alle beisammen. Wir fingen an, Mamas Sachen zu sortieren, und plötzlich fanden wir ihre Memoiren. Für uns war das eine wahre Offenbarung – wir lasen die ganze Nacht und weinten...

Jelena Genrichownas Erinnerungen würden für ein vollwertiges Buch reichen. Darin berichtet sie über ihre Familie, ihre Jugend, ihre Eltern. Und natürlich darüber, was für ein Leben die Verfolgten während des Krieges und in der Nachkriegszeit führen mussten. Eine solche Wahrheit kannten wir nicht. Aber heute haben wir die Möglichkeit, in die reale Geschichte einzutauchen – die unverbrämte, wahre. Vor ihnen – Auszüge aus den Erinnerungen der verfolgten, aus dem heimatlichen Wolgagebiet stammenden Erbdeutschen Jelena Skoworodko (Birkheim).

Vom heimatlichen Boden

«Am 22. Juni 1941 wurde der Krieg erklärt. Die Menschen waren aufgeregt, Versammlungen wurden abgehalten, es erfolgten Aufrufe, Appelle an Freiwillige – die Mobilisierung der Männer an die Front. Irgendwie wurden wir plötzlich alle gleich um fünf Jahre älter.

Am 28. August erschien in der Zeitung das «Dekret des Obersten Sowjets über die Umsiedlung der Wolga-Deutschen nach Sibirien, Mittel-Asien, Kasachstan. Nach einer Woche kam ein Fahrzeug mit bewaffneten Soldaten. Sie gingen durch alle Wohnungen, verkündeten, dass morgen um 9.00h in der Frühe alle zur Abfahrt bereit sein sollten. Das war irgendwie gruselig. In dieser Nacht schlief niemand im Dorf. Von den Sachen packten sie nur Kleidung, Schuhwerk ein - mehr war nicht erlaubt. Am nächsten Morgen sahen wir ein schreckliches Bild: das Vieh lief brüllend durchs Dorf, die Hunde heulten, die Menschen weinten. Die Kühe hatten prall gefüllte Euter. Allerdings erlaubte der Ober-Soldat den Melkerinnen noch einmal, die Kühe zu melken, und dann trieben die Viehhirten sie ein letztes Mal in die Steppe.

Nach all dem verließen wir unsere Heimat, ohne zu wissen, dass viele diese heimatliche Erde, diesen Himmel, alles womit sie gelebt hatten, nie mehr wiedersehen sollten. Sie verluden uns auf Vieh- (Güter-) Waggons mit Wachbegleitung. Wir fuhren sehr langsam, es kam vor, dass wir stundenlang anhielten. Unterwegs bekamen wir nichts zu essen. Als wir noch zu Hause waren, hatten sie uns vorgewarnt, dass die Menschen irgendetwas zu essen mitnehmen sollten. Wir nahmen wenig mit, alles blieb im Dorf zurück – Nahrung, Möbel, Hausrat – alles, was für ein ganzes Leben angeschafft worden war.

Unterwegs gab es zwei Todesfälle: irgendwo in Mittel-Asien verstarben zwei ältere Leute. Der Zug hielt, die Verwandten beerdigten ihre Angehörigen in den endlosen Weiten unweit der Bahnlinie. Im Zug wurden auch Kinder geboren: das Leben stand keinen Augenblick still.

Als wir in Krasnojarsk ankamen, wurden wir auf Lastkähne verladen und den Jenissei flussaufwärts gebracht. Es herrschte gruselige Stille. Und plötzlich ertönte in der Stille das Schreien eines Säuglings, und dann – der Gesang einer Mutter. Die Situation war wirklich beängstigend, mit unserem jungen Verstand hatten wir endgültig begriffen: dies ist nicht einfach eine exotische Reise, hier geschieht etwas Schreckliches, etwas, was wir bisher noch nicht einordnen konnten».

Unerwartete Rettung

«Unser ganzes Leben war von Grausamkeit, Verachtung, Falschheit, Rechtlosigkeit geprägt. Unser Schicksal wurde von schwachsinnigen, dummen Menschen kommandiert, die sich fernhielten von dem, was uns von der Natur, von Gott, gegeben war – Menschlichkeit. Aber vielleicht haben sie auch nur den Willen noch grausamerer Menschen ausgeführt.

Einmal bin ich so einem Menschen begegnet. Seinen Nachnamen werde ich nie vergessen - Nezkin, stellvertretender Leiter der Bezirksabteilung für innere Angelegenheiten im Nowosjolowsker Bezirk. Gesund, schlank, er sah den Leuten nie ins Gesicht. Seine Hände lagen immer auf dem Tisch, spielten mit irgendetwas herum. Und die Schreibtischschublade war aufgezogen, und man konnte sehen, dass eine Pistole darin lag – zum besseren Verständnis.

Man hatte den Behörden die Aufgabe erteilt, in aller Eile die Verschickung der Deutschen in den Norden durchzuführen, damit sie die dort Bäume fällen und andere Arbeiten verrichten sollten. Eine umfangreiche Mobilisation aus dem ganzen Bezirk. Sie zogen die Leute zusammen und brachten sie im Kulturpalast unter. Ich begegnete hier vielen bekannten Frauen. Zur Nacht richtete sich jeder so gut es ging auf dem Fußboden ein. Der Saal war mitbewaffneten Truppen mit Automatikgewehren abgesperrt. Zu meinem Schrecken sah ich einen mir bekannten Lehrer, der unweit der Tür mit einem Säbel in der Hand stand. Er tat so, als ob er mich nicht kennen würde.

Mit den uns bekannten Frauen redeten wir die ganze Nacht, und am Morgen kam eine Kommission zur Untersuchung. Darunter waren auch Ärzte, und als eine von ihnen erwies sich – Valentina Konstantinowna – eine ältere, ergraute Frau mit schwarzen Augen, in denen tiefe Gutmütigkeit glänzte. Valentina Konstantinowna hörte aufmerksam zu und untersuchte die Frauen. Als ich an die Reihe kam, ließ sie mich vor sich niedersetzen und begann mir Fragen zu stellen. Sie wollte wissen, weshalb mein Nachname Skoworodko lautete. Ich erzählte ihr die ganze Wahrheit Sie fragte, an welcher Front mein Mann kämpfte. Als ich antwortete, dass er an der Leningrader Front war, rief sie: «Gott sei Dank! Die Sibirjaken geben Leningrad nicht auf!» Es stellte sich heraus, dass Valentina Konstantinowna die Blockade in Leningrad erlebt hatte; sie begleitete Kinder, die zu uns nach Krasnojarsk abtransportiert wurden, und das waren sehr viele.

Als sie erfuhr, dass ich in einem Monat niederkommen sollte, meinte sie: fahren, und dazu noch im Treck, mit Pferden, das kommt nicht in Frage. Und Nezkin verkündete sie, dass schwangere Frauen unter keinen Umständen irgendwohin verschickt würden. Doch der antwortete: «Alle Frauen kriegen Kinder und die verschwinden nicht». Darauf erwiderte sie scharf, indem sie auf mich zeigte: «Ich erlaube nicht, dass diese Frau fortgeschickt wird! Denken sie nicht, dass ihr Mann von der Front zurückkehren könnte und Sie dann fragt, wo ihr Frau und das Kind hingekommen sind?» Da antwortete Nezkin: «Na schön, eine Frau mehr oder weniger – das macht auch keinen Unterschied».

Damals gerieten die Frauen in der Ortschaft Swetlolobowa in Aufruhr; sie hatten kleine Kinder, und sie baten darum, die schwierigsten Arbeiten machen zu dürfen, wenn sie nur nicht von ihren Kindern getrennt würden. Aber man hörte ihnen noch nicht einmal zu – gewaltsam wurden sie mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Also war mein Schicksal nicht ganz so schrecklich. Ich weiß nicht, warum diese weißhaarige Frau sich für mich einsetzte, doch ich werde ihr bis ans Ende meines Lebens dafür dankbar sein!

Die Familie und Moral eines Kommunisten

«Es war 1946. Da war Walja schon geboren. Die Behörden verhielten sich noch recht roh gegenüber den Verfolgten, selbst gegenüber denen, die das Schicksal mit ihnen teilten. Einmal wird der Vater ins Bezirkskomitee der Partei nach Daursk bestellt. Er fuhr dorthin. Er betrat das Amtszimmer des ersten Sekretärs – sieht hinter dem Tisch einen gesunden, gut angezogenen Mann, der offensichtlich nicht im Krieg, an der Front, gewesen war. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Ordner mit irgendeiner Akte. Er forderte den Vater auf sich zu setzen und legte ihm die Akte vor – es war meine Personenakte, meine persönlichen Daten. Nachdem er ihm Zeit zum Lesen gegeben hatte, sagte der Mann: «Iwan Iwanowitsch, was meinst du aus der Sicht eines Kommunisten, eines Mitglieds einer so großartigen Partei, wie der KPdSU – passt es zusammen, ein Mitglied dieser Partei zu sein und gleichzeitig mit einer Frau zusammenzuleben, die unserem Geist und unseren kommunistischen Idealen fremd ist? Hast du ein moralisches Recht dazu? Ich warte auf deine Antwort, sie muss nur aufrichtig und wahrheitsgemäß sein». Und Vater antwortete ihm: «Sind Sie denn der Meinung, dass ein Mensch mit einer derartigen Ahnentafel und einer solchen Beurteilung gegenüber der sowjetischen kommunistischen Moral als feindlich einzustufen ist? Von was für einem Zusammenleben sprechen Sie? Ich liebe diese Frau, sie ist die Mutter meiner Kinder, und nicht nur eine Mitbewohnerin. Ich habe meine Familie gegründet, ohne überhaupt zu wissen, ob ich aus dem Krieg zurückkehre oder nicht. Und in der Überzeugung, dass ich mit ihr so lange mein Leben teilen werde, wie man mich lässt. Und wir werden viele Kinder haben, das verspreche ich Ihnen. Was ist meine Moral eines Kommunisten, und eine andere ist mir nicht gegeben!»

Danach ließen sie uns unbehelligt.

Dafür hat es sich gelohnt zu leben

«Die Jahre gingen dahin, das internationale Klima erwärmte sich. Deutschland streckte als erstes seinen Deutschen die Hand entgegen, erlaubte denen, die den Wunsch hegten, die Umsiedlung in ihre sogenannte «historische Heimat». Aber ich denke nicht, dass dort meine Heimat liegt, denn sogar mein Vater und meine Mutter sind hier geboren. Und in einem fremden, schönen, reichen Land zu leben und sich immer als Fremder zu fühlen – nein und nochmals nein. Das ist nichts für mich. Ich liebe nur meine Heimat. Vielleicht hat sie mich in schweren Zeiten stiefmütterlich behandelt. Aber jetzt fühle ich mich an meinem Platz. Ich bin unter meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln. Und was kann ein hochbetagter Mensch sich denn sonst noch wünschen? Ein Paradies auf Erden gibt es nicht, das gibt es nur im Märchen.

Eins ist mir vollkommen klar: wenn das Rad der Geschichte und unser Leben um diese 63 Jahre zurückgedreht würde, dann würde ich denselben Weg noch einmal gehen, ohne auch nur einen Schritt davon abzuweichen. Das Schicksal hat mich mit äußerst ordentlichen und guten Menschen zusammengeführt – mit eurem Vater und seiner Familie. Ich bin in ihr Haus gekommen, sie haben mich sehr wohlwollend aufgenommen, mich bemuttert, mich niemals daran erinnert, wer ich bin, und sie haben nie darüber debattiert, ob ich mich irgendeiner Sache schuldig gemacht hatte, obwohl sie über alles Bescheid wussten. Vater und ich haben ein großes Nest mit vielen Küken gebaut. Ich denke, dass unsere Familie willkommen und glücklich war, und dafür hat es sich gelohnt zu leben, zu arbeiten und zu lieben».

Bereitgestellt von Jekaterina GRIGORENKO

 

ÑÅÃÎÄÍßØÍßß ÃÀÇÅÒÀ , 31-10-18


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