Am 30. Oktober, dem Tag der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen, haben die Norilsker der unschuldigen Opfer des Norillag gedacht.
Zum ersten Mal machten die Bürger der Stadt sich 1991 auf den Weg zum Fuße des Schmidt-Berges, als an der Stelle des ehemaligen Kirchhofs gerade erst das Memorial „Norilsker Golgatha“ entstanden war». In den ersten Reihen befanden sich damals weißhaarige, einst politische Gefangene, von denen es in der Stadt noch etwa fünfzig gab. Wir dürfen auch nicht den Begründer des örtlichen „Memorial“, Mitrofan Petrowitsch Rubeko, vergessen, die Ärzte Serafim Wassiljewitsch Snamenskij und Karl Karlowitsch Denzel, die Alleskönner Wassilij Karlowitsch Traubergs und Matwej Metwejewitsch Dudutis, die Baumeister Wassilij Feoktistowitsch Romaschkin, die politische Gefangene Anna Wassiljewna Bigus, die Zeugin des Häftlingsaufstands von 1953 Maria Iwanowna Kolmagorowa und noch viele unschuldige Häftlinge, welche die nördlichste Stadt und das mächtige Kombinat errichteten. Heute lebt in Norilsk nur noch die 87-jährige Olga Iwanowna Jaskina, die aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht mit unter den mehreren Dutzend Mitgliedern der Gesellschaft zum Schutz der Opfer der politischen Repressionen am «Norilsker Golgatha» weilen konnte, aber das sind auch schon alles die Kinder derjenigen, die unter den stalinistischen Verfolgungen zu leiden hatten.
Die Vorsitzende der 1991 gegründeten Gesellschaft zum Schutz der Opfer der politischen Repressionen, Elisabethà Josefowna Obst, Tochter von verbannten wolgadeutschen Arbeitern, wandte sich an das Herz eines jeden der dort auf der Anhöhe vor der Gedenk-Kapelle Zusammengekommenen:
– Vor uns erstreckt sich eine große Industriestadt, die 1935 unter den schweren Bedingungen des Norillag entstand. In den 21 Jahren seiner Existenz durchliefen hunderttausende Bürger unterschiedlicher Länder, Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse dieses Lager. Mit ihrer Schwerstarbeit legten sie die Grundsteine für Produktion und städtische Strukturen. Heute ertönen Stimmen, die sagen, dass im NorilLag 4–5 Prozent politische Gefangene inhaftiert waren, der Rest – Kriminelle und Verräter. Doch das ist nicht der Fall. Nach den letzten offengelegten Archiv-Angaben des KGB und den Informationszentren der Behörde für innere Angelegenheiten befanden sich etwa 40 Prozent politische Häftlinge. Sogar der erste Bauleiter unseres Kombinats, Wladimir Sossimowitsch Matwejew, der davon träumte, dass man hier eine große Stadt bauen würde, in der glückliche Mütter mit Kinderwagen herumlaufen würden, verschwand im GULAG. Das sind natürlich alles schmerzliche Erinnerungen, aber wir haben nicht das Recht, die unschuldigen Opfer des stalinistischen Regimes zu vergessen. Sie zu vergessen bedeutet die Wahrheit, seine eigene Geschichte zu vergessen. Keinen geringen Beitrag haben dabei die Geschäftsleitung von «NorNickel» und die städtischen Behörden geleistet, dafür sei ihnen Dank. Ein Menschenleben ist vergänglich, möge aber unsere Erinnerung durch unsere Kionder und Enkel ewig wären, von denen viele heute gemeinsam mit uns am «Norilsker Golgatha» stehen. Eine tiefe Verneigung von der Gesellschaft der Repressionsopfer gegenüber allen Norilskern für ihr wahres Gedächtnis gegenüber den Ersterbauern von Norilsk, und möge unsere Stadt immer florieren.
An diesem für Norilsk so besonderen Tag sprachen Vertreter der Stadt- und Kombinatsleitung, des Deputiertenkorps eindringliche Worte der Trauer und Dankbarkeit zum Gedenken an die unschuldig im Lager inhaftierten Ersterbauer. Der Kirchenvorsteher Nowomutschenikow und der Bekenner der Russischen Kirche Hieromons, German (Melnikow), hielt das Trauerrequiem ab. Die Norilsker beteten gemeinsam «für den Seelenfrieden der Gottesdiener, die in diesen schweren Zeiten unschuldig getötet, von Leid geprüft, gefoltert, verfolgt, vertrieben und eingesperrt worden waren, derer, die den bitteren Tod starben...». Menschen aus verschiedenen Generationen zündeten in der kleinen Kapelle, die 1990 zum ersten Mal von Jugendlichen als Memorial genutzt wurde, Kerzen an und legten am Gedenkkreuz auf dem Massengrab Blumen nieder, in dem Anfang der 1990er Jahre Mitarbeiter des Museums der Geschichte von Norilsk und Freiwillige die am Fuße des Schmidt-Berges gefundenen Überreste von Menschen bestatteten. Früher, in den 1980er Jahren, hatte man die Asche von uns unbekannten Häftlingen des Norillag unter den Asphalt gerollt, damit nur keine Spuren des vorherigen Unheils zurückblieben. Aber unsere Erinnerung war stärker. Möglicherweise befinden sich in diesem Massengrab auch die Knochen von Pjotr Ignatow und Stefan Naliwajko, die wegen ihres Glaubens leiden mussten und zu den heiliggesprochenen Märtyrern der russischen Kirche zählen...
Traditionsgemäß kehren die Reisebusse der Gedenkfahrt vom Memorial «Norilsker Golgatha» zum Norilsker Museum zurück, wo in einer kleinen Gartenanlage 2004 das langersehnte Denkmal «Den Opfern des Norillag» eingeweiht wurde. Die Menschen kommen dorthin, um einer symbolischen Figur Blumen zu bringen, die sich aus der Dunkelheit in die Freiheit losgerissen hat, in der Einfassung eines Ringes zusammengebundener Hände. Die Autorin des Denkmals, Jelena Arsenewa, wurde von der Geschichte inspiriert, dass die Frauen der 6. Lagerabteilung Geschlossenheit demonstrierten, indem sie sich fest bei den Händen hielten, als man versuchte, sie während des Häftlingsaufstands im Sommer 1953 mit Feuerwehrschläuchen auseinanderzutreiben... Über das, was sie in den Lagern und in der Verbannung durchgemacht haben, berichten den Schülern Mitglieder der Gesellschaft zum Schutz der Opfer der politischen Repressionen. Auch Schüler der 7. Klasse der Schule N° 13 brachten, gemeinsam mit ihrer Klassenleiterin Ludmila Martynowa , die mit den Kindern ein Geschichtsmuseum einrichtete, am 30. Oktober Blumen zum Denkmal «Für die Opfer des Norillag». Unlängst bereiteten sie einen Gedenkabend vor, zu dem die Kinder von Repressionsopfern, die in der Verbannung geboren wurden, eingeladen waren.
Das Denkmal Für die Opfer des Norillag
Heute gibt es in der Gesellschaft zum Schutz der Opfer der politischen Repressionen etwa 170 Menschen, deren Schicksale mit den stalinistischen Repressionen im Zusammenhang stehen. Diese Norilsker sind ständig von der Fürsorge der Stadt und des Kombinats umgeben. Im Sommer haben sich 9 von ihnen im Sanatorium «Schuschenskoje» erholt, für alle Interessenten wurden innerhalb des städtischen Programms zur Unterstützung der Rehabilitierten Ausfahrten zur Touristenstation organisiert. Jedes Jahr fahren die Mitglieder der Gesellschaft zu einer Begegnung mit ihnen Gleichgesinnten nach Dudinka, besuchen das Memorial für die Opfer der politischen Repressionen am Lama-See. Am Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen werden für die Mitglieder der Gesellschaft im Anschluss an die Fahrt zum Memorial «Norilsker Golgatha» traditionsgemäß ein Gedenkessen und ein Konzert veranstaltet. Heute hat man zum Mahl mit den alten Leuten im Restaurant «Persona» das stellvertretende Stadtoberhaupt von Norilsk für den Bereich Sozialpolitik, Natalia Korostelewa, sowie die Leiter der Behörden für Sozialpolitik, Bildung und Kultur geladen. Die Mitglieder der Gesellschaft dankten für ihre ständige tatkräftige Unterstützung. Und Natalia Korostelewa merkte ihrerseits die aktive Teilnahme der Gesellschaftsmitglieder am Leben der Stadt, bei der Erziehung der heranwachsenden Generation an. Jelisaweta (Elisabeth) Obst dankte im Namen der Gesellschaft auch der Chefin des Amtes für wohltätige Programme, Natalia Dunajewa, die ebenfalls an den Ereignissen dieses für Norilsk so besonderen Tages teilnahm, für ihre Unterstützung.
Die Mitglieder der Gesellschaft haben insbesondere mit der Norilsker Kindermusikschule Freundschaft geschlossen, wo für sie bereits seit vielen Jahren Konzertprogramme vorbereitet werden. Am 30. Oktober schenkten talentierte Schüler der NKMS ihnen ein bemerkenswertes Konzert, welches die aktive Lehrerin der Musikschule Olga Smirnowa unter Mitwirkung der Pädagoginnen und Solistinnen Jelena Anoschkina und Tatjana Starikowa des Vokal-Ensembles «Elegia» vorbereiteten. Die Menschen der älteren Generation hörten mit Tränen in den Augen wunderbare Lieder über Jugend, Liebe und das Heimatland, sowie der «Orenburger Schal», ausgeführt von dem jungen Bajanspieler Sawelij Timofejew. Und Olga Iwanowna Jaskina, die letzte der unschuldigen Häftlinge, die in Norilsk blieb und die zum ersten Mal in den letzten Jahren an zu der herzlichen Begegnung des Gedenkens kommen konnte, fing auch selber plötzlich an, alte Volkslieder zu singen. Als man ihr einen Blumenstrauß von der Gesellschaft überreichte, rief sie aus: «Ich habe einfach zu viel durchgemacht — Verbannung, Lager und alles andere. Aber Gott sei Dank sind wir heute am Leben, lieben uns und haben Freude aneinander! Ich wünsche allen Gesundheit und alles Gute!».
Das Vokal-Ensemble «Elegia» der Pädagogen der NKMS
Nicht alle Mitglieder der Gesellschaft konnten aufgrund ihres Gesundheitszustandes mit ihren Kameraden beisammen sein. Den dutzenden Invaliden lieferten Freiwillige aus der «Jungen Garde» eine Auswahl an Lebensmitteln ins Haus. In nächster Zeit setzen Mitglieder der Gesellschaft die Begegnungen mit Schülern der Stadt fort, nehmen am Tag der offenen Tür in der Norilsker Diözese und im Museum teil, welches den neuen Märtyrern der Kirche Russlands gewidmet ist. Erfreut sind sie auch darüber, dass Dank der Unterstützung der Stadt im Dezember eine Überarbeitung der ersten drei Sammelwerke der Erinnerungen von Häftlingen des Norillag herauskommt, welche das Licht der Welt unter der Ägide von «Memorial» und dem Museum der Geschichte des Norilsker Industriegebiets erblickte und Anfang der 1990–er Jahre eine große Rarität darstellte. Die Sammelbände wurden von der Agentur «Kaktus» mit einem einzigen Einband abgedruckt und werden nun and Forscher der Norilsker Geschichte und die Stadtbibliothek übergeben.
Mitglieder der Gesellschaft zum Schutz der Opfer der politischen Repressionen und andere öffentliche Organisationen brachten vor nicht allzu langer Zeit ihre Beunruhigung anlässlich der Verwahrung der Exposition «Keine Revision zulässig» im Norilsker Museum zum Ausdruck. Natalia Korostelewa versicherte damals, dass die Exposition möglicherweise, nachdem sie einige Veränderungen erfahren hatte, erhalten bleiben würde. Menschen der alten Generation, die in ihrer Kindheit die Repressionen miterlebt haben, hoffen, dass unsere Museumsmitarbeiter die Erinnerung an die Opfer des Norillag würdig wahren werden.
Jelisaweta Obst
Jelisaweta Obst teilte der «Polar-Wahrheit» mit:
– Es ist nicht gerecht, dass der Tag des 65. Jahrestages des Norilsker Häftlingsaufstands in Norilsk stillschweigend ablief. Und es ist, als ob das Thema Norillag schon in Vergessenheit geraten ist. Unserer Ansicht nach konzentriert sich das Museum heute mehr auf seine Aktivitäten zur Popularisierung zeitgenössischer Kunst. Ich hoffe, dass dieses Thema aus dem Leben der Stadt niemals verschwindet und die Norilsker sich erinnern und sich bemühen, dafür alles nur erdenklich Mögliche zu tun...
Irina Danilenko
Fotos des Autors und von Wladimir Makuschkin
„Polar-Wahrheit“, 01.11.2018