Weshalb besingt die staatliche Propaganda den GULAG
Butugytschag. Lager-Schuhe. Foto: Aleksej Babij
Die Mitarbeiterin der staatlichen Agentur «RIA Nachrichten» Viktoria Nikiforowa nannte den GULAG einen «einen gesellschaftlichen Fahrstuhl für hunderttausende einfacher Menschen» und eine «wahre Reise ins Leben». Dreimalige Verpflegung, eine warme Behausung, medizinische Hilfe; im Allgemeinen trinkt der vollkommene Fahrstuhlführer seinen Wodka (traditionsgemäß irgendwo zwischen dem dritten und zweiten Untergeschoss) und ist zur Arbeit bereit. Das ist keineswegs schrecklich, es wird Ihnen gefallen.
Unter den Argumenten zu Gunsten des GULAGs hat Nikiforowa vergessen, auf die
Langlebigkeit derer hinzuweisen, die in diesen Fahrstuhl hineingerieten. Und
tatsächlich sind diese alten Männer und Frauen – sofern sie überlebt haben –
erst unlängst vor unseren Augen aus dem Leben geschieden. Mit ihnen hat –
täglich – Aleksej Babij, das Oberhaupt der krasnojarsker «Memorial»-Gesellschaft
(die zur internationalen «Memorial»-Organisation gehört, welche vom Ministerium
der Justiz ins Register der ausländischen Agenten eingetragen wurde) gesprochen.
Diese Geschichten überprüft er seit mehr als 30 Jahren in den Archiven und
digitalisiert sie, damit sie erhalten bleiben. Zum 80. Jahrestag des Großen
Terrors leitete Babij in der «Nowaja» ein Jahr lang die Autoren-Rubrik.
Hier einige seiner Geschichten.
Die befragte Deutsche (Verbannung, Lagerhaft, erneute Verbannung) sprach ständig vom Essen, wie viele Gramm Brot in den verschiedenen Jahren zur Ration gehörten. Die Hungersnot an der Wolga (1932–1933), die Deportation nach Sibirien und erneute Hungersnot (1941). Nachdem sie auf einem Feld unter Schnee ein paar Kornähren gefunden hatte, nahm sie sie mit und – bekam dafür 2 Jahre wegen des Diebstahls am Kolchos-Eigentum.
Im Lager, derselbe Fahrstuhl, sie suchten ständig nach Nahrung. Als man sie zum Abladen des Getreides hinausführte, versteckten die Frauen das Korn in ihren Scheiden und brachten es so durch die Kontrollen.
Als die Lagerhaftzeit zu Ende war, wurde sie gefragt, wohin sie in die Verbannung geschickt werden wolle. Sie antwortete: in die Region Krasnojarsk — dort gibt es viele Felder. Das heißt, dort würde sie keinen Hunger leiden.
Danach stopfte sie viele Jahre Rüben direkt vom Feld in sich hinein, man rief sie Dicke Lida.
Eine andere befragte Frau durchlief ein Sonderlager. Hier hatten dir die
Fahrstuhlführer der Gesellschaft den Namen entzogen, dafür verliehen sie dir
eine persönliche Nummer. In den Lager-Aufständen war eine der ersten Forderungen
stets die Abschaffung der Erniedrigung – der Häftlingsnummern; nie ging es
vorrangig um egoistische Belange. Und als das endlich geschah und die Gefangenen
anfingen, sich die Nummern von ihren wattierten Jacken zu reißen, erstarrten sie
plötzlich und begannen zu schluchzen: die Wattejacken waren ausgeblichen, und
unter dem Stoff, auf dem die Nummer festgenäht gewesen war, sah man nun reine
schwarze Quadrate. Als ob sie herausgeschnitten worden waren: diese Spur
begleitet sie für immer.
Babij sagt, dass ihn Kälteschauer überliefen, als er im Kolymsker Lager
Butugytschag einen Haufen Häftlingsschuhe fotografiårte (in Auschwitz wuchsen
solche Berge aus «fremden» Pantoffeln, in Russland — aus denen der «eigenen»
Landsleute); dann der Friedhof — Holzpflöcke mit darauf genagelten Dächern aus
Konservendosen (auf dem Blech — die Nummer). Dann gigantische Manegen, errichtet
für die Pferde des Lagerleiters. Aber dort gingen Babij nicht nur einmal die
Augen über.
Manege für die Pferde des Lagerleiters. Foto; Aleksej Babij
Butugytschag. Grab auf dem Lagerfriedhof. Foto: Aleksej Babij
Tränen trieben ihm Dokumente im Archiv eines der Bezirke der Region Krasnojarsk
in die Augen, welche die Verschleppungen von „Kulaken“-Familien im März 1930
betrafen.
Auf Anweisung wurde die erste und zweite Kategorie in Gebiete außerhalb des Bezirks ausgewiesen. Wenn es «aus Sibirien nach Sibirien» war, so spielte es keine Rolle, wohin, Hauptsache es war «außerhalb der Grenzen». Aber die fritte Kategorie wurde in den Bezirk hineingetrieben. In die Taiga. Von dort führ kein Weg hinaus, man muss sich dann schon durch zwei Meter hohe Schneewehen hindurchschmelzen. 15 Familien warten in Viehställen auf eine Entscheidung — man hat ihnen bereits alles weggenommen und sie aus ihren Häusern hinausgejagt. In dieser Zeit gibt es eine aktive Volkszählung — zu «übriggebliebenen männlichen Sklavenarbeitern». Die Instruktionen sahen vor, dass «Kinder bis zum Alter von 10 Jahren sowie Invaliden, die nicht in der Lage waren, ihnen nachzufolgen, auf Wunsch in der Obhut ihrer nächsten Angehörigen bleiben durften, wenn die Aufnahmewilligen eine Verpflichtungserklärungen unterschrieben und sich freiwillig von der Kulaken-Familie lossagten». Unterschrift:
«Ich, der Unterzeichnende, bestätige dem Dorfrat gegenüber mit meiner echten Unterschrift, dass ich mich in die Verbannung begebe und meine Kinder Soundso überlasse. Ich, Soundso, nehme die Kinder von Soundso bei mir auf, bin bereit, mit meinen Mitteln und auf freiwilliger Basis für ihren Unterhalt zu sorgen. Dies bestätige ich mit meiner Unterschrift».
Aleksej Babij
Historiker, Leiter des Krasnojarsker «Memorial»*
— Derartige Dokumente finden sich nicht selten in den Personenakten verbannter Bauern, und ich bin daran sogar schon gewöhnt. Aber in dieser Dorfratsakte waren die Belege aus irgendeinem Grund auf einem Stapel abgelegt. Der Stapel war einen Finger dick, wie gewohnt begann ich ihn durchzublättern und abzuarbeiten — und plötzlich sehe ich, dass irgendwelche Tropfen auf die Archiv-Dokumente fallen. Offenbar weinte ich. Ich saß da und heulte. Ich habe noch schrecklichere Dokumente gesehen (ein Befehl des NKWD ¹ 00486, der etwas wert ist), aber die Tränen fielen aus irgendeinem Grund auf diese.
Wir veröffentlichten diese Unterschriften — mit diesen Krakeln in der Handschrift, mit Fehlern, mit den lustigen bäuerlichen Namen. Mit den Namen der Kinder und Eltern, die sich wohl niemals wiedersehen werden. Was nütze es, dass wir es veröffentlicht haben?
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Nikiforowa hat recht: für viele war der stalinistische «Wille» schlimmer als der GULAG.
Die Bäuerin Romaschtschenko, eine weitere befragte Person, — zuerst wurde ihre
Familie enteignet und in die Saralinsker Bergwerke verschleppt, später gab man
ihr für das vierzeilige Scherzlied «In die Kolchose geh‘ ich nicht, und dem
Kolchosbauern gebe ich es nicht…» (Der Föderale Dienst für die Aufsicht im
Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation gestattet es nicht,
weitere Wörter aus diesem Zitat anzuführen) 10 Jahre Lagerhaft (antisowjetische
Agitation).
Aus ihren Berichten über das UssolLag: «Irgendwie brachten sie viele Usbeken,
eine ganze Etappe in Kitteln, aber sie hielten nur bis zum ersten Frost durch,
dann wurden die Überlebenden fortgebracht. Die Frauen tauschten die Kittel gegen
Brot oder nähten daraus Kleider — die Seide war hervorragend. Gebadet durfte
alle 10 Tage, für acht Personen gab es ein Stück Seife, sie zerschnitten es mit
einem Faden. Die Haare wurden kurz getragen — zum Schönaussehen reichte es
nicht. Obwohl die Tatarinnen ihre langen Haare nicht abschnitten und sie wegen
der Läuse mit Kerosin einrieben».
Man konnte also nirgends hinlaufen und es war auch völlig zwecklos, sagte
Krestina Demjanowna. Im Lager war es sogar besser: in Freiheit bekam man 500 gr
Brot am Tag, im Lager, wenn man gut arbeitete, konnte man bis zu 700 gr
bekommen. «Ansonsten machte es fast keinen Unterschied, was auf jener Seite des
Stacheldrahts und auf dieser war».
Krestina Romaschtschenko
Nikiforowa hat Recht: für manch einen wurde der GULAG zur «Universität».
Den Bauernburschen Wladimir Borobew (aus Kortus) verhafteten sie 1949 aufgrund
einer Denunziation im Alter von 20 Jahren. Während er in der Einzelzelle saß,
las er die gesamte Gefängnisbibliothek durch. Er bekam 25 Jahre Lagerhaft plus 5
Jahre Verbannung. Im NorilLag bekam er noch einmal 25 Jahre hinzu. Und wieder
hatte die Verhaftung ihr Gutes — es waren keine tödlichen allgemeinen Arbeiten.
Seine Zellengenossen wechselten, und bei jedem fand er irgendetwas, was er
lernen konnte. Physiker, Ärzte, Musiker. Dann kam das OserLag, anschließend
Omsk. Wieder das OserLag, dann Mordwinien. Begegnungen und Lernen mit einem
Theosophen, dann bei einem orthodoxen Geistlichen, später bei einem Philosophen.
Freundschaft mit Rewolt Pimenow, dem legendären Jewgenij Grizjak, einem der
Anführer des Norilsker Aufstands, Studium bei Lew Gumiljew.
«Wir gingen damals die drei, vier Kilometer bis zur Arbeitszone zu Fuß. Zu der Zeit lief der litauische Philosophie-Professor Buga neben mir. Jeden Morgen und jeden Abend, auf dem Weg zur Arbeit und zurück, hielt er mir Vorlesungen: Kant, Hegel, Schopenhauer, Nitzsche, Bacon, Freud». Studium der Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Hindu, Sanskrit. Die ganze Zeit arbeitete er als Tischler und Betonarbeiter, er hat Tuberkulose, sie verlegen ihn von einer Lagerabteilung in die andere, aus der Strafbrigade zum strengen Regime und wieder zurück, denn er ist ein Rückfälliger.
Wladimir Grigorewitsch Borobew (ganz links). OserLag
Nikiforowa hat Recht: für manchen einen war das ein gesellschaftlicher Fahrstuhl. Hier noch ein Fahrstuhl, außer dem GULAG, gleich in der Nachbarschaft: für einen Entrechteten (dem die Wahlrechte entzogen worden waren) waren sämtliche Verwandten verantwortlich. Die Kinder eines Entrechteten wurden von der Uni verwiesen, nicht selten auch aus der Schule. Familienmitglieder wurden nicht zur Arbeit angenommen, diejenigen, die bereits arbeiteten – wurden entlassen.
Für die jungen Menschen gab es kein besseres Mittel ihre Loyalität zu beweisen als, als sich öffentlich von ihren Familien loszusagen.
Wir bringen diese Ausschnitte aus sowjetischen Zeitungen mit Lossagungen von den Müttern und Vätern, Söhnen und Töchtern. Diese eigenhändig geschriebenen Aufzeichnungen halten die Lossagung von den Eltern und die Bitte um Aufnahme in die Kolchose «Weg zum Sozialismus» fest.
Öffentliche Lossagung von den Familienmitgliedern. Aus einer sowjetischen
Zeitung
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An die Lagerzone passen sie sich an. Das Leben — ist überall, und der göttliche
Geist weht über der gesamten Erde. Bei Solschenitzyn kann man vieles davon
lesen, er hat recht, er hat es selbst gesehen; Schalamow hielt das Lager für
eine absolut negative Erfahrung. Er hat absolut recht. Aber die Mitarbeiterin
der staatlichen Agentur Nikiforowa — selbst, wenn sie irgendwo irgendetwas
geahnt hat — liegt rundum falsch. Denn menschliches Leid kann man mit nichts
anderem vergleichen. Und keine industrielle und militärische Größe der UdSSR,
keine ihrer Heldentümer, die mit Sklavenarbeit im GULAG entstanden sind, keine
Anzeichen von Menschlichkeit, die dort aufflackerten, weil es nicht anders ging,
— nichts kann irgendetwas im Prinzip rechtfertigen.
Aber es geht gar nicht darum, dass diese Botschaft Nikiforowas — jeglicher
elementarster Logik entbehrt. Und auch nicht darum, dass wir die Schande nicht
zurücknehmen können. Und auch nicht darum, dass die Sklavenarbeit in Russland
(die Leibeigenschaft war eine viel größere Erscheinung) und den USA gleichzeitig
abgeschafft wurde, aber wir beobachten heute in der Russischen Föderation und in
den USA vollkommen gegenläufige Trends: das endgültige Begräbnis (der Sklaverei
in Amerika und die Galvanisierung (mit Rehabilitierung) der Arbeit in Russland,
und das erfordert eine völlig andere Analyse und Worte als die, die hier
gefunden wurden.
Nein, darum geht es jetzt nicht!
Um die unglaubliche Vulgarität — all das heutzutage über den GULAG zu sagen. Wir viel Glück hatten wir! Und wir gut hat das sowjetische Eis geschmeckt!
Ja, Gefängnis und Lager waren und bleiben ein russisches Verbindungselement. Aber jetzt ist das wenig, jetzt wird das schon als Glück dargestellt.
OK, «die Reise ins Leben». Bleibt jetzt abzuwarten, dass man den Ukrainern mitteilt, die Hungersnot von 1932–1933 sei Fitness gewesen? Verständlich, dass dies für unsere Propaganda keineswegs schwächlich ist. Und den Tschetschenen (und anderen in den vierziger Jahren deportierten Völkern) erklären, dass es sich um Binnen-Tourismus gehandelt hat?
«RIA-Nachrichten» begrüßen eine ganz konkrete staatliche Initiative zur Heranziehung von Gefangenen beim Aufbau der Volkswirtschaft. Für rein pragmatische Ziele (nicht sonderlich wichtige und strategische) wird der GULAG ausgegraben, abgeklopft und fein gemacht. «Der Bräutigam ist eingetroffen» (der Film «Cargo-200»). Unterwegs teilen sie die Menschen und vergiften sie: für die Liberalen, «Elitären» ist der GULAG schädlich, stellt für sie schlichtweg einen Alptraum dar — im Kontrast zu «Astoria» und «Metropol», und das Volk geliebt und nützlich.
Wozu das alles? Um Schienenstränge zu verlegen und ein paar Bahnhöfe and der
Baikal-mur-Magistrale zu bauen? Ist der Preis nicht sehr hoch? Oder
rechtfertigen die sich abzeichnenden Mittel (Summen) jedes beliebige Ziel?
Diese Logik-Fehler, die alle Bedeutungen des Lebens zerstören, sind nur in einem
großen Krieg zulässig. Ja, sie haben Leichen angehäuft, aber gesiegt. Kämpfen
wir? Sind wir bereit?
Die Verfilmung des Romans von Gusel Jachina «Suleika öffnet die Augen» (darin geht es um dasselbe — die Wiederfindung in der neuen sowjetischen Realität, Sonderansiedlung an der Angara, aber es handelt sich um eine aufrichtige künstlerische Aussage ohne konkrete «Pläne für unsere Kinder» und uns) löste im vergangenen Frühjahr eine ebensolche Welle von Diskussionen zum betreffenden Thema aus. Allerdings war das damals hauptsächlich auf Facebook. Die «Klassenkameraden», die damals gegen die «Schmähschriften über die sowjetische Vergangenheit» kämpften, und das sehr aufrichtig, wollen wir einstweilen beiseitelassen. Interessant sind diejenigen, die zuvor weder wegen Menschenfresserei noch wegen ihrer Rechtfertigung aufgefallen sind, bekannte und scheinbar anständige Leute, niemals Stalinisten, «Führer der öffentlichen Meinung» (Brechstangen), darunter hauptstädtische Liberale. Sie waren es, die damals als erste dermaßen massiv anfingen, über die Kollektivierung und Sondersiedlung als «unsere Variante der Modernisierung», über den GULAG als «unsere Universitäten» zu schreiben.
Keine einzige Entscheidung, weder in Moskau noch in den Regionen, wird heute getroffen, ohne die Reaktionen auf solche Medien-Aufrufe zu beobachten, ohne die momentane Soziologie und deren Dynamik zu studieren. Der Kreml läuft nicht quer durch die von den Menschen angegeben Trends, ohne all diese Big Data zu berücksichtigen. Wir sind in eine Welt hineingeraten, wo nicht die Wahrheit wichtig ist (in erster Linie für die Behörden), nicht die Bedeutsamkeit der Ereignisse, sondern die Redaktion des spießbürgerlichen Bewusstseins darauf. Sie manipulieren, aber nicht die Geschehnisse verwalten – das ist schon lange der Trend.
Können Sie glauben, dass sich die Brechstangen ohne den Geruch der trüben Gefängnisbrühe, ohne den Gestank der Latrinenkübel, der über dem Land hing, ohne die Zähne der Schäferhunde am Hals gelangweilt haben? Nun, was war es dann damals?
Um eine Serie in Gang zu bringen, fehlt es am Maßstab und an der Selbstlosigkeit
der Aussagen. Nicht die Promotion einer Serie, sondern der obersten Leitung des
Landes — zur Entschlossenheit? Zur Strenge?
Die sowjetische Intelligenz hat teilweise schon auf dem natürlichen Weg diese
Welt verlassen, zum Teil verschlungen von den wie durch ein Wunder erhaltenen
gebliebenen Autoritäten, die sie posthum zu den ausländischen Agenten oder
einfach zu den Volksfeinden zählten. Und warum nicht auf freiem Feld mit der
temporär amnestierten und vollständig amnestierten Bevölkerung
herumexperimentieren?
Ein Jahr ist seit dem Start der Probezeit vergangen. Jetzt rufen Staatsbeamte
die Schatten des GULAG ab, und die erste staatliche Informationsagentur
applaudiert ihnen eisern. Das Land wird auf Grund und Boden, auf die Axt
vorbereitet. Stoff, Rauch, Gras. Kalkfarbe, Kupfer, Tabak.
Überreste des KrasLag. Foto: Aleksander Kusnezow
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Übrigens, zum Thema Angara, wo Suleika sich wiederfand. Wo es eine große Anzahl
Lager und Sondersiedlungen gab. Die Region der Einrichtungen des MWD der UdSSR
AL-150 und K-100 — «AngaraSpezLes» und «KeschmaSpezLes».
Schon bald wird in Kansk (das ist der Schlüssel zur Unteren Angara, von diesem
Knotenpunkt führen alle Wege zu ihr) wir das 1. Östliche Gebiets-Militärgericht
neue «Politische» verurteilen — drei 15-jährige Heranwachsende. Anschließend
wird man sie mit Sicherheit auf Erziehungskolonien verteilen, um sie danach in
den «gesellschaftlichen Fahrstuhl» hineinzulassen. An der Angara gibt es noch
zahlreiche Lagerzonen.
Anatolij Rybakow, der in den dreißiger Jahren hier seine Verbannungszeit
verbrachte, zeigte in seinem Buch «Die Kinder vom Arbat», wie die Ortsbewohner
sich gegenüber Häftlingen und Verbannten benahmen — dort gab es keinerlei «Gnade
gegenüber den Gefallenen». Auch Viktor Astafjew kannte diese Orte nur allzu gut.
Und er machte sie nicht. Als man Mitte der neunziger Jahre erneut anfing, vom
Ausbau des Bogutschansker Wasserkraftwerks und der Überflutung all dieser alten
Dörfer zu reden, befragte ich ihn zur Passivität der Keschmarer (Angara-Bewohner).
Bei ihnen wurden Vorbereitungen für den Untergang ihrer Heimat getroffen, und
sie schwiegen. Und völlig unerwartet begann Astafjew zu erzählen, wie die
Angara-Bewohner, ihre ganze, ewige Lebensweisheit außer Acht ließen und ab den
dreißiger Jahren zur Zusammenarbeit mit den Behörden übergingen, geflohene
Häftlinge und Verbannte ablieferten und sie auch selbst fingen und erschossen.
Er sagte nicht, dass das — Vergeltung war, nein.
Die «sozialen Fahrstuhlführer» an der Angara mit den Sklavenarbeitern wurden
bis zur vollständigen Schuldunfähigkeit mo dernisiert.
Vergiftete Flüsse und die Taiga, tot, ohne wilde Tiere, Vögel, Fische. Die Dörfer, welche die Angara-Bewohner im 17. Jahrhundert errichteten, wurden, ebenso wie die Siedlungen, die Lagerinsassen und Sondersiedler bauten, in Brand gesteckt (von Brigaden neuer Häftlingsgenerationen) und überflutet. Das Ackerland ist überflutet. Messerstechereien und Schießereien auf dem Ödland. Einstweilen sind Winterstraßen und Eisübergänge noch nicht gesperrt, rund um die Uhr werden Rundhölzer abtransportiert. Mit Doppel-Holztransportern, in Kolonnen, mit ganzen Autozügen, transportierten sie in zwei Schichten, die Fahrzeuge stehen nur bei der Be- und Entladung, während der Wartung und des Ölwechsels still.
Wenn Russland dazu übergeht mit der Staatsmacht zusammenzuarbeiten und es ihr gestattet, den GULAG zu rehabilitieren, wird es nicht standhalten und es wird eines Tages ebenfalls in Brand gesteckt und versenkt werden. Überreste des Berges Beluch im Altai werden dann noch aus dem Wasser ragen, und der Kaukasus wird auch bleiben, das ist alles.
Aleksej Tarassow, «Neue Zeitung», 26.05.2021