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Wer sagt mir, wo meine Heimat ist

In Anbetracht der Tatsache, dass "sich unter der deutschen Bevölkerung in den Gebieten der Wolgaregion Tausende und Zehntausende von Saboteuren und Spionen befinden, die auf ein von Deutschland gegebenes Signal hin in den von Wolgadeutschen bewohnten Gebieten Explosionen durchführen sollen", erließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR einen Erlass "Über die Umsiedlung der in den Gebieten der Wolgaregion lebenden Deutschen". Dieses Dokument Nr. 21-160 mit tragischen Folgen für die Sowjetdeutschen ist auf den 28. August 1941 datiert.

Von September bis Dezember 1941 verließen insgesamt 344 Züge mit 856.186 Sowjetdeutschen das Land, fast die Hälfte davon waren Kinder. Zusammen mit den Deportierten hielten die NKWD-Behörden zu verschiedenen Zeiten 1.121.645 Deutsche in ihrem Gewahrsam.
Zu den damals Deportierten gehörte auch die 1913 geborene Christine Augustowna Schwabenland.

Straub

Die Familie von Christina und Daniel Schwabenland lebte in dem Dorf Straub in der Region Saratow. Die Siedlung war wohlhabend und berühmt für ihre Müller, Schuhmacher, Schneider, Maurer und Schmiede. Die Einwohner waren jedoch größtenteils als fleißige Ackerbauern bekannt. Und die Närmutter Erde dankte es den Dorfbewohnern mit guten Ernten von Getreide, Gemüse und Obst.

Wenn auch die Schwabenlands nicht wohlhabend waren, so herrschte bei ihnen keine Armut, sie hatten immer aus reichend Kleidung, Schuhwerk und Nahrungsmittel zur Verfügung. Sie waren fleißig und klug. Auf den Feldern wurde Gemüse angebaut, der Garten war voller Obstbäume, auf den Koppeln gab es Vieh. Es gab das ganze Jahr über genug Arbeit, aber sie bewältigten alles.

In der Familie wuchsen im Jahr 1941 zwei Söhne heran. August und Daniel waren Mamas Freude und Papas Helfer.
Über Nacht brach das Leben, das sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten, zusammen. Diejenigen, die der Spionage verdächtigt wurden und als fünften Eintrag "deutsch" trugen, sollten deportiert werden. Das Heulen Babylons war über Straub hereingebrochen. Aber es dauerte nicht lange, 10-15 Stunden, um sich vorzubereiten. Und los ging's. Das Dorf war wurde menschenleer und still.

Sie durften so viel, oder besser gesagt, so wenig mitnehmen, wie sie in ihren Händen tragen konnten. Also packten Christina und Daniel, der Ältere, die Kinder und eine Tüte mit Trockenobst ein. Doch die Wege des Paares trennten sich. Christina ging mit den Kindern und ihrer Schwiegermutter nach Sibirien und Daniel in die Arbeitsarmee. Der Vater verabschiedete sich von seinen Töchtern, von seiner geliebten Frau, sie erwarteten nicht, sich wiederzusehen...

Schicksalsherausforderungen unterwegs

Das Unbekannte vor ihnen. Die Eisenbahnlinie. Der Güterwaggon. Sie wurden von ihren Schwestern und Brüdern getrennt und in verschiedene Teile der Sowjetunion geschickt. Christina hatte nur noch ihre Schwiegermutter und ihre Söhne. Sie sollten in Sibirien ankommen. Die langen Herbstnächte und -tage verschmolzen zu einer Einheit. Das rücksichtslose Verhalten der Begleiter, das unbekannte Land, das unbekannte Ziel. Die junge Frau war nicht nur für ihr eigenes Leben verantwortlich, sondern auch für das Schicksal ihrer beiden kleinen Kinder und des Ungeborenen, das sie unter ihrem Herzen trug.

Trotz aller Schwierigkeiten schafften sie es, die Reise hinter sich zu bringen. Im Herbst trafen die Schwabenlands im Dorf Sagajsk im Karatussker Bezirk ein.

Die Seite eines Fremden

Sie erreichten ihr Ziel, nachdem sie den Schmerz des Abschieds von der Heimat ertragen hatten. Doch damit waren die Schwierigkeiten noch nicht zu Ende. Die Zerreißproben gegen die Sowjetdeutschen setzten sich fort.

Bei ihrer Ankunft wurden die Deportierten im Gebäude der Dorfverwaltung untergebracht. Sie durften zwei Tage lang nicht einmal auf die Straße gehen, da die Neuankömmlinge die russische Sprache nicht beherrschten. Wie der Vorsitzende zu sagen pflegte: "Solange ihr kein Russisch gelernt habt, wird kein Fuß vor die Tür gesetzt". Dann wurde der Familie ein kleines Haus zugewiesen.

Die junge Frau und ihre Schwiegermutter begannen, sich in ihrem neuen Haus einzurichten. Hier rettete sie die Tüte mit getrockneten Früchten, die sie zu Hause noch gepflückt hatten. Denn es war bereits Herbst, als sie an ihrem neuen Wohnsitz ankamen. Der Winter stand vor der Tür und es gab keine Vorräte. So überlebten sie in der ersten Zeit mit Mitgebrachtem aus der Wolgaregion, indem sie Schnitz-Suppe kochten.

Schon bald wurde die Familie um einen weiteren kleinen Jungen erweitert. Andrjuscha kam pünktlich. Es war schwierig, aber alle haben überlebt. Der Vorsitzende des Dorfrats sah die Bemühungen der neuen Dorfbewohner und ermutigte sie, sich eine Kuh anzuschaffen. Mit der Ankunft der Kuh wurde das Leben ein wenig einfacher.

Christina scheute keine Arbeit abgeneigt und nahm alles auf sich. Doch ihre Lieblingsbeschäftigung - das Stricken - hat sie nie aufgegeben. Es war für sie nicht nur ein Ventil, sondern auch ein Mittel, das ihr zumindest ein kleines zusätzliches Einkommen verschaffte.

Allmählich wurde das Leben in der Fremde besser. Nach und nach wurde die Sprachbarriere überwunden, und man schloss neue Bekanntschaften und Freundschaften.

Guten Tag, mein Lieber.

Aber die neuen Freunde konnten das Familienoberhaupt nicht ersetzen. Die Frau hoffte, ihren geliebten Daniel wiederzusehen. Entweder erhörte der Himmel das Flehen der Frau oder es gab einen Platz für ein Wunder auf dieser Erde; eines Tages jedenfalls klopfte es an der Tür. Als Christina sie öffnete, war sie vollkommen überrascht. Vor ihrer Haustür stand Daniel. Nur Gott weiß, wie er überlebt und es bis ins sibirische Hinterland geschafft hatte, denn seit ihrer Trennung waren acht Jahre vergangen.

Christina und ihre Kinder haben ihren Lebensmut wiedergefunden, sie glauben an eine bessere Zukunft. Und das Heimweh nach der Heimat ist leiser geworden, Sagajsk ist zu einem kleinen Mutterland geworden. Die Schwabenlands fassten Fuß und schlugen Wurzeln auf sibirischer Erde. Sie gewöhnten sich an das raue Land und bekamen fünf weitere Kinder.

Gebet der Mutter

- Meine Eltern haben nie ein wohlhabendes Leben geführt, aber sie waren auch nicht arm", sagt Jekaterina Danilowna Bystritskaja, die Tochter von Christina und Daniel Schwabenland. - Solange ich mich erinnern kann, sind sie immer am Arbeiten gewesen. Als wir klein waren, hat meine Mutter 50-70 Ar Tabak angebaut. Wir haben die Pflanzen von Hand bearbeitet. Die Jungs haben natürlich geholfen. Wir, die wir in den 40-50er Jahren geboren wurden, hatten keine richtige Kindheit. Ich war noch nicht in der Schule, aber ich habe schon eine Kuh gemolken. Unsere Hofwirtschaft war immer voller Kühe, Schafe, Hühner, Gänse. Wir hatten eine Familie mit acht Kindern zu ernähren, und wir mussten dem Staat eine Steuer auf Butterschmalz, Eier und Häute abliefern. Es war hart, aber wir sind alle erwachsen geworden und haben alle Entbehrungen ertragen. Das Beten unserer Mutter muss uns in Sicherheit gebracht haben. Jeden Abend, wenn wir ins Bett gingen, las sie sie uns auf Deutsch vor. Wir konnten die Worte nicht verstehen, aber wir begriffen, dass sie Gott um unsere Gesundheit und unser Wohlergehen bat. Und er erhörte sie und gab ihr das Erbetene.

Christina Augustowna hat 92 Jahre gelebt, die meisten davon im Karatussker Bezirk. Als gebürtige Deutsche wurde sie Sibirierin aus Berufung.

- Obwohl es die Möglichkeit gab, nach Straub zurückzukehren, sind meine Eltern nicht gegangen", erzählt sie weiter. - Die Kinder, die hier geboren wurden, konnten hier schon nicht einmal mehr Deutsch sprechen. Meine Mutter lernte recht schnell Russisch, aber mein Vater hatte Probleme damit, und auch den älteren Brüdern bereitete sie Schwierigkeiten. Die Kinder in der Schule hänselten sie und beschimpften sie ständig. Dies könnte der Auslöser dafür gewesen sein, dass sie schnell eine zweite Sprache erlernten, die sie dann vorrangig benutzten.

Trotz der Sprachbarriere arbeitete die gesamte Familie Schwabenland erfolgreich auf den Feldern der Kolchose und war in vorderster Reihe dabei.

Als J.D. Bystritskaja heiratete, versuchte sie, ihr Glück in den Städten Chakassiens, Tuwas und des Amur-Gebiets zu suchen.

- Wir haben uns nicht an die Stadt gewöhnt, stets vernahmen wir den Ruf der Heimat. Ich habe 35 Jahre lang als Melkerin in einer Kolchose gearbeitet. Jetzt besitze ich den Ehrentitel des Rentners. Aber zu Hause zu sitzen ist nichts für mich. Im achten Jahr reinige ich den Club und versuche, am öffentlichen Leben des Dorfes teilzunehmen. Hier, an meinem Arbeitsplatz, haben wir ein Mini-Museum eingerichtet, das das Leben der Sibirien-Deutschen widerspiegelt. Wir haben unseren Gästen eine Menge über Einwanderer zu erzählen. Ich bin stolz auf meine Wurzeln.

Einfügung

In den Rechenschaftsberichten des Innenministeriums aus dem Jahr 1955 heißt es:
"Die Hauptmasse der Deutschen siedelte sich auf dem Gebiet der Kasachischen SSR an - 258677 Menschen, im Altai-Gebiet – 62406, Gebiet Nowosibirsk – 47551, Region Krasnojarsk – 44771, Gebiet Kemerowo – 42783, Gebiet Swerdlowsk – 35234, Gebiet Molotow – 31965, Gebiet Omsk – 26592, Gebiet Tscheljabinsk – 25177, Tadschikische SSSR – 18824, Gebiet Tjumen – 17409, Gebiet Tomsk – 15978, ASSR Komi – 12679. Der Rest der Deutschen ist in 36 Republiken, Regionen und Gebieten angesiedelt."

Olga Ulskich

"Arbeitsbanner" (Karatuskoje), 29. Oktober 2021

 


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