Maria Viktoroena Balzer (Mädchenname Greb) geriet zusammen mit ihren Eltern – den Wolgadeutschen Maria Fjodorowna und Viktor Friedrichowitsch nach Sibirien. Die Familie Greb wurde, wie fast alle anderen Wolga-Anwohner deutscher Nationalität – im August 1941 ausgesiedelt und in Eisenbahn-Waggons nach Sibirien geschickt. Im Dorf Lugowoje, Rowensker Bezirk, Gebiet Saratow, hatten sie ein Haus und eine Hofwirtschaft, aber während der Aussiedlung konnten sie nichts Wertvolles mehr einpacken und mitnehmen. Wie die Familie vor der Deportation lebte, weiß Maria Viktorowna nur aus Erzählungen der Mutter, denn die von und befragte Person war zu der Zeit etwas fünf Jahre alt und Bruder Kostja – drei. Bei der Aussiedlung wurden die Verwandten voneinander getrennt. Die Eltern von Viktor Friedrichowitschs Vater, sein Bruder und seine Schwester kamen nach Baschkirien (sie begegneten sich erst viele Jahre später wieder (nachdem das Regime der Sonderansiedlung bereits abgeschafft worden war).
Neuer Siedlungsort für die Familie Greb wurde die Jelowsker Sowchose im Balachtinsker Bezirk, Region Krasnojarsk. Viele deutsche Umsiedler gerieten in dieses Dorf. Die Sibirier verhielten sich gegenüber den Ankömmlingen ziemlich geduldig. Die Mutter fing fast unverzüglich an als Melkerin zu arbeiten, den Vater mobilisierten sie bereits 1942 zur „Trudarmee“. In der ersten Zeit hungerten sie sehr; damit die Mutter ihren kleinen Kindern wenigstens irgendetwas zu essen geben konnte, sammelte sie auf dem Feld die nach der Ernte zu Boden gefallenen Ähren auf, trocknete sie anschließend auf dem Ofen und buk später daraus Fladen. Doch schon bald darauf wurde Maria Fjodorowna wegen ebendieser Ähren verhaftet – „Diebstahl von Staatseigentum“. Sie wurde zu sechs Jahren verurteilt. Und dort war es auch, wo Maria Fjodorowna ein wenig Russisch lernte. Sie konnte weder lesen noch schreiben und sprach ausschließlich Deutsch, aber es gab unter den Gefangenen eine russische Lehrerin, die nicht nur Deutsch konnte, sondern Maria Viktorownà’s Mutter auch in Russisch unterrichtete. Maria Fjodorowna erinnerte sich, dass sie die ganzen langen sechs Jahre immer gebetet habe, dass ihre Kinder nicht umkommen mögen. Im Lager gelang es ihr einen Arbeit als Köchin zu finden, und dem Tatbestand ist es wohl auch zu verdanken, dass sie am Leben blieb. Viktor Friedrichowitsch lernte in der „Trudarmee“ Russisch.
Die verwaisten Kinder wurden ins Syrsker (Balachtinsker) Kinderheim gebracht. Zum Glück trennte man sie nicht voneinander, uns so unterstützten sich Bruder und Schwester gegenseitig so gut sie konnten. Erstaunliches Mitgefühl mit den deutschen Kindern zeigte die Direktorin des Kinderheims Tamara Wassiljewna. «Sie war sehr gutmütig, hatte großes Mitleid mit uns» - erinnert sich Maria Viktorowna. Die Frau gab den Kindchen zusätzlich zu essen und kümmerte sich um sie. Das war besonders während des Krieges wichtig, als alle hungerten und die Kinder aufgrund mangelnder Ernährung an Rachitis litten. Als 1948 die Mutter zurückkehrte, verschaffte Tamara Wassiljewna ihr einen Arbeitsplatz in der Hilfswirtschaft (als Gemüsegärtnerin), die dem Kinderheim angeschlossen war, und stellte ihr ein kleines Zimmerchen zur Verfügung. «Ich weiß nicht, warum ich diese deutschen Kinder so liebgewonnen habe» - sagte die Direktorin des Kinderheims später deren Mutter.
Ungefähr 1949 kehrte der Vater aus der „Trudarmee“ zurück. Das Leben kam nach und nach wieder in Ordnung. Die Mutter nahm erneut eine Arbeit auf der Farm auf – als Melkerin, der Vater fällte Bäume. Bald darauf bekam die Familie Greb Zuwachs – es wurden noch weitere fünf Kinder geboren. Na einiger Zeit kaufte Viktor Friedrichowitsch ein Haus, in dem sich die gesamte große Familie niederließ. Allerdings waren die Beziehungen der Eltern zueinander schwierig. Maria Viktorowna ist der Meinung, dass alles an der Mutter hing, welche die Kinder erzog und sich mit dem nicht einfachen Charakter ihres Mannes abfand.
Zum Zeitpunkt der Rückkehr des Vaters besuchten die älteren Kinder in die Schule.
Maria Viktorowna und ihr Bruder absolvierten vier Klassen. Maria und Kostja
begannen schon früh zu arbeiten. Anfang der 1950er Jahre hütete der Bruder
Schweine, seine Schwester war Melkerin. Die von uns Befragte erinnert aus jenen
Jahren, dass die Vertreter der verschiedenen Nationalitäten freundschaftlich
miteinander lebten.
1962heiratete Maria Viktorowna Friedrich Johannesowitsch Balzer. Die Wahl
zugunsten des Landsmannes traf die Mutter. Gerade siebestand darauf, dass Maria
einen Deutschen heiratete. Mit der Familie Balzer war sie bereits vor der Heirat
der Tochter befreundet gewesen und fand, dass es sich hier um eine ihrer Meinung
nach gute Partie handelte. Die jungen Leute bekamen zwei Kinder. Aber es kam
kein richtiges Familienleben zustande. 1970 zog Maria Viktorowna mit den Kindern
nach Kasatschinskoje. Hier begann in der mobilen mechanisierten Abteilung als
Technikerin zu arbeiten. In Kasatschinskoje wohnte der Bruder der Mutter Jakob
Koch.
Zu Hause sprachen die Eltern mit den Kindern Deutsch, aber nach ihrem Tod geriet
die Muttersprache nach und nach in Vergessenheit. Maria Viktorownas Kinder
können bereits überhaupt kein Deutsch mehr. Allerdings hat Maria Viktorowna die
katholische, religiöse Tradition, die ihre Mutter ihr mitgegeben hat,
beibehalten. Noch an der Wolga waren sie und der Bruder nach katholischem Brauch
getauft worden. Bereits im Jahr 2000 wollte Maria Viktorowna zum orthodoxen
Glauben übertreten, weil es in der Nähe keine katholische Organisation gab. Der
örtliche orthodoxe Geistliche dämpfte Maria Viktorownas Wunsch, indem er ihr
sagte, dass ein Übertritt aus der katholischen in die orthodoxe Kirche bei
alledem nicht lohnen würde. Zu Hause wird bis heute die deutsche Bibel verwahrt,
welche die Mutter von der Wolga mit hierher gebracht hatte. Dieses rare Buch
sieht schon ganz zerfleddert aus, aber Maria Viktorowna und ich entdeckten darin
ein vergilbtes Stück Kästchen-Papier, auf dem handschriftlich ein kleines Gebet
niedergeschrieben war. Die Bibel ist das wichtigste, wertvollste
Erinnerungsstück an die Mutter. Maria Fjodorowna war eine hervorragende
Handarbeitskünstlerin – sie konnte wunderbar stricken (Jacken, Schals) und
brachte dieses Handwerk auch ihren Töchtern bei. Maria Viktorowna schenkte mir
zur Erinnerung einen sehr schönen Becher, den sie selber gestrickt hat, und sie
zeigte mir auch andere Arbeiten.
In Sibirien bemühten sich die Deutschen nach Kräften, die deutsche Küche
beizubehalten. Maria Fjodorowna stellte Galuschki (dicke, weiche Nudeln; Anm. d.
Übers.) her, buk Strudel und Riwwelkuchen und gab ihre Kochkenntnisse an die
Kinder weiter. Maria Viktorowna backt bis heute leidenschaftlich gern deutsche
Kuchen, mit denen sie ihre Geschwister bewirtet. Jetzt hat Maria Fjodorownas
Enkelin das nationale gastronomische „Staffelholz“ übernommen - Walja. Und
außerdem war die Mutter Sängerin. Wenn sie mit ihren Landsleuten zusammen kam,
sang sie oft deutsche Lieder. Maria Viktorowna hat von ihrer Mutter das gute,
fröhliche Gemüt, die Liebe zu Tanz und Gesang geerbt, aber leider, so gesteht
sie, singt sie nur auf Russisch.
Der Wunsch Sibirien zu verlassen kam nie auf. „Hier sind meine Kinder geboren und aufgewachsen“ – erklärt Maria Viktorowna kurz. Und jetzt sind ihre Enkelkinder herangewachsen und erfreuen sie mit ihren Erfolgen. Es ist auch keines der zahlreichen Geschwister in die historische Heimat nach Deutschland ausgereist.
Ungeachtet ihres soliden Alters, hat sich Maria Viktorowna ihren Optimismus und ihre Liebe zum Leben bewahrt. Mit viel Wärme spricht sie über das Leben in Sibirien und die Menschen, von denen sie hier umgeben ist.
Familie Greb in den 1980er Jahren
Hochzeit 1980. M.V. Balzer empfängt die jungen Leute mit Riwwelkuchen
M.V. Balzer (rechts) mit Mutter und Schwester, 1980er Jahre.
Brief an M.V. Balzer
Brief an M.V. Balzer 2
Alte deutsche Bibel, die M.V. Balzer von ihrer Mutter bekam
Seiten aus der deutschen Bibel von M.V. Balzer
Notiz von M.V. Balzer’s Mutter (gefunden in der Bibel)
Interview: Jelena Sberowskaja
(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ) Neunte Expedition des Krasnjarsker "Memorial“ und des Pädagogischen College in Jenisseisk, Worokowka-Kasatschinskoje-Roschdestwenskoje 2014 .