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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Zesa Michailowna Barke

Zesa (Tochter von Michail) MYSCHKOWSKAJA (MYSCHKOWSKA) wurde am 01.03.1915 in der Siedlung SEMKI, heute CHMELNIZKER Kreis (CHMELNIK), Gebiet WINNIZA, geboren. Ihr Vater Michail Ludwikowitsch MYSCHKOWSKIJ (1881-

1966), Pole, Katholik, war Bauer und Musik-Liebhaber, der bei Feierlichkeiten in einem Blasorchester spielte. Seine Ehefrau Jelena Jakowlewna MYSCHKOWSKAJA (1882-1968), Ukrainerin, trat nach der Hochzeit zum katholischen Glauben über. Außer der Tochter Zesa gab es zwei Söhne: Iwan (oder Jan), 1911-1988, und Franek (~1908-1937, s. unten) – er lebte 1928 bereits nicht mehr im Elternhaus und entging der Deportation. Ihre Wirtschaft war nicht groß: ein Pferd, eine Kuh, eine Häckselmaschine.

Etwa im Oktober 1928 wurde die Familie staatlichen Plünderungen ausgesetzt. Die Behörden beschlagnahmten das Haus mitsamt der ganzen Wirtschaft sowie der Ernte, und erteilten sogar das Verbot, auf dem eigenen Grund und Boden die Zuckerrüben auszugraben (zu jener Zeit war gerade die Zuckerrübenernte im Gange). Man verschleppte die Familie in ein altes Häuschen, zusammen mit einer weiteren enteigneten Familie, dem Landarztgehilfen TELJATNIK, seiner Ehefrau und zwei Söhnen. Dieser Feldscher behandelte alle Menschen im Dorf und unterhielt außerdem eine Mühle. Möglicherweise war diese Mühle auch der Grund für die Enteignung. Die übrigen Dorf-Bewohner waren in jener Periode keinerlei Repressalien ausgesetzt.

Im März 1929 wurde der Vater verhaftet, gleichzeitig mit ihm auch der Feldscher. Man holte sie in der Nacht ab. Im Juli desselben Jahres schickte man die Familie aus irgendeinem Grund in die Ortschaft LOSOWOJE, KAMENEZ-PODOLSKER (heute CHMELNIZKER) Gebiet und quartierte sie in einem schönen Haus ein, aber später wurden sie wieder zurückgeschickt. Im Oktober 1929 wurden die Myschkowskijs und die Familie des Feldschers zur Eisenbahn-station geschickt und mit der Schmalspurbahn nach WINNIZA gebracht. Dort wurden alle in einen Breitspurzug verladen und nach Sibirien fortgebracht. In diesem Moment verlor man die Familie des Feldschers aus den Augen; über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

Der Zug bestand aus ungefähr 20 Waggons. Das konnte man aus den Waggon-Luken sehen, als der Zug wendete. In dem Güterwaggon mit den doppelstöckigen Pritschen befanden sich etwa 50 Personen, darunter viele Kinder. Auf den Pritschen konnten alle Platz finden, aber viele Mütter mit kleinen Kindern schliefen auf dem Boden drängten sich am Ofen zusammen, der in der Mitte des Waggons stand. Der Grund dafür war die Kälte. Sie gaben zum Heizen nur sehr wenig Kohle, erst hinter dem Ural bekamen wir etwas mehr.

Während eines Zughaltes stürmten einmal 3-4 junge Plünderer in den Waggon, warfen die ganzen Habseligkeiten der Verschleppten durcheinander und nahmen alles mit, was noch irgendwie wertvoll schien, bis hin zum Geschirr. Die Wachmannschaft entfernte sich nicht aus den Waggons und ließ bis zur endgültigen Ankunft an der Station JAJA, Gebiet KEMEROWO, zwei Wochen danach, niemanden aus dem Waggon aussteigen.

Hier lag bereits Schnee. Man ließ die Menschen nicht sofort aussteigen: die Baracken für die Verbannten befanden sich nämlich noch im Bau. Als sie fertig waren, jagte man die Ver-schleppten unter der Begleitung von Wachsoldaten dorthin, und das war 12 km von der Bahnhofsstation entfernt. In den hölzernen, zu ebener Erde befindlichen Baracken standen die Pritschen in drei Etagen übereinander. Schreckliche Enge. Pro Tag gab es 300 g Brot und einen Liter Wasserbrühe. Niemand wurde aus den Baracken hinausgelassen, sogar das Wasser wurde herantransportiert und dann in den Baracken in Schüsseln verteilt.

Vor Hunger, Kälte und Langeweile entstanden Krankheiten. Besonders hoch war die Kranken- und Todesrate bei den Kindern. Bei der Pritschen-Nachbarin der Myschkowskijs starben innerhalb einer Woche alle drei Kinder, und bald darauf verstarb sie selbst. Ihr Mann befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Verbannung in Igarka.

In diesen Baracken hielt man die Leute den ganzen Winter über. Viele gingen an Typhus oder Skorbut zugrunde. Im Mai 1930 trieb man die Verbannten zur Station JAJA und schickte sie nach TOMSK. Bruder Iwan, der mit Typhus infiziert und von Skorbut geschwächt war, konnte nicht mehr laufen. Die Schwester nahm ihn auf ihre Schultern und trug ihn die ganzen 12 km bis zur Station.

In TOMSK wurden die Verbannten etwa 2 km weit von der Bahnhofsstation fortgetrieben, wo am Stadtrand, in KSENDSOWKA, 12 große Baracken standen, die von Stacheldrahtzäunen umgeben waren. Das war eine richtig bewachte Zone. Am Tor stand ein großes Haus für die Wachmannschaften. Tatsächlich konnte man aus der Baracke hinausgehen und sich innerhalb der Zone bewegen.

In der Baracke, in der die Myschkowskijs lebten, befanden sich etwa 300 Verbannte. Alle Baracken waren außen mit Erdreich aufgeschüttet, die Fenster lagen alle in Höhe des Erd-bodens. Drinnen standen Pritschen: entlang den Wänden durchgehende Pritschen in einer Höhe, um die Fenster nicht zu verdecken, und an den Schmalseiten der Baracke erstreckten sich dreigeschossige Pritschen-Kojen. Zwischen und zu beiden Seiten von ihnen, an den Wänden, waren schmale Durchgänge.

Hier gab man ihnen auch jene 300 gr Brot und einen Liter Wassersuppe, aber es bestand die Möglichkeit zu arbeiten: Holz aufladen, Säcke ausschütten und ähnliches, und dafür ließ man ihnen dann ein „Drei-Gänge-Mittagessen“ und 1 kg Brot zukommen. Das Brot nahmen sie mit nach Hause, d.h. in die Baracke.

Zur Arbeit brachte man sie, jeweils zu viert, unter Bewachung. Unterwegs steckten die Ortsbewohner ihnen häufig Brot, Milch oder etwas anderes zu. Während der Arbeitszeit schlief die Begleitwache gewöhnlich. Sie kehrten immer erst in der Dämmerung von der Arbeit zurück und diejenigen, die an Skorbut litten und dadurch nachtblind waren, stützten sich auf jene, die besser sehen konnten. Zum Arbeiten brachte man sie entweder zur Eisenbahnstation oder ins Mühlenkombinat. Bis dorthin war man etwa eine Stunde unterwegs.

Die Strecke führte am Ufer des Tom entlang, und es gab einen Steg über ein kleines Nebenflüßchen.

Von TOMSK schickte man die Verbannten weiter in den Norden, nach NARYM. Aber die Familie MYSCHKOWSKIJ erhielt noch im Sommer 1929 einen Brief vom Vater aus IGARKA, und da beantragten sie die Erlaubnis zu ihm fahren zu dürfen. Die Verbannten wußten bereits, was Narym bedeutete – den sicheren Tod.

Die Behörden gaben ihr Einverständnis und schickten die MYSCHKOWSKIJs nach Krasnojarsk. Hier mußten sie eine Woche lang unter freiem Himmel übernachten, im Gebüsch, am Ufer des Jenissej, aber dann ließ man sie in eine ziemlich saubere „Durchgangs-„Baracke, in der sie noch zwei weitere Wochen verbrachten. Sie aßen in der Kantine. Nach IGARKA gelangten sie auf einem Lastkahn, wo man sie unten im dunklen Frachtraum unterbrachte, in dem Pritschen aufgestellt worden waren..

Ganz IGARKA bestand aus 3-4 Holzbauten und 7-8 Baracken. Die drei Baracken auf dem Hügel nannte man „die Karischen“. Den Vater fanden sie sofort. In den folgenden Jahren spielte er im Blasorchester des Kinotheaters auf dem Bariton, anschließend arbeitete er in jenem Kino als Kassierer und Kartenverkäufer, noch später als Signalgeber bei der Feuer-wehr-Einheit.

1930 oder 1931 brachte man verbannte Bauern aus Transbajkalien nach IGARKA und jagte sie in eine Scheune beim Ziegelwerk. Viele von ihnen kamen noch im ersten Winter ums Leben.

In jenen ersten Jahren gab es nur wenige Verbannte aus der Ukraine in IGARKA, ungefähr 10 Familien. Zweimal im Monat mußtem sie sich bei der Kommandantur melden und registrieren lassen, später – nur noch einmal monatlich. Von ihrem Lohn mußten sie 5% „für die Unter-haltung der Kommandantur“ abgeben. Der Kommandant hieß TSCHUBTSCHENKO.

Deportierte Familien mußten sich in der einen Kommandantur melden und die Männer, die bereits vor ihren Angehörigen verschleppt worden waren – in einer anderen. Die Kommandantur wurde 1934 oder 1935 abgeschafft.

In IGARKA heiratete Zesa Michailowna den ukraine-deutschen Bauern Richard Adolfo-witsch BARKE (1913-1967), der aus dem Gebiet SCHITOMIR deportiert worden war. Ebenso wie ihr Vater liebte auch er die Musik sehr. In der Heimat hatte er in der katholischen Kirche Trompete gespielt. Als sie kamen, um seine Familie wegzuholen, gelang es seinem Vater sich zu verstecken, aber später erfuhr er, daß man seinen Sohn nach Sibirien ver-schleppt hatte und da begab er sich selbst zur GPU, damit sie ihn zu seinem Sohn schickten. Es gelang ihm jedoch nicht, seinen Sohn wiederzusehen: ungefähr im Mai 1930 starb Adolf BARKE in TOMSK (er war schon älter) in eben jener Baracke, in der sich auch die MYSCHKOWSKIs befanden.

In JAJA und später in TOMSK befanden sich unter den Verbannten die beiden Ukrainerinnen Maria WIWDITSCH (geb. ~1885) und ihre Tochter Katerina Sawitschna WIWDITSCH (geb. 1912 oder 1913), die aus einem Dorf nahe SCHITOMIR deportiert worden waren. Marias Ehemann Sawwa WIWDITSCH (geb. ~1882) war vorher verhaftet und nach IGARKA verschickt worden. Seine Ehefrau und seine Tochter erhielten auch die Erlaubnis zu ihm zu fahren. Sawwa WIWDITSCH arbeitete in IGARKA, mal als Zimmermann, mal als Tischler. 1937 wurde er verhaftet und kehrte nicht mehr zurück.

In IGARKA heiratete Katerina WIWDITSCH den aus Transbaikalien deportierten Georgij Iwanowitsch GOLOBOKOW. Ihre Anschrift: 630004, Nowosibirsk, Tscheljuskinzy-Straße 18, Wohnung 168 (neben dem Bahnhof).

In IGARKA wohnte ein älterer Arzt und Chirurg namens KAKAULIN (KOKOULIN ?), ein Verbannter aus der UKRAINE. Etwa 1934 erhielt er die Erlaubnis in die Heimat zurückzukehren.

Im Frühjajr 1938 wurde M. (L.) MYSCHKOWSKIJ verhaftet und ins Gefängnis von IGARKA gebracht. Kurz darauf wurde auch R. (A.) BARKE festgenommen. Im Herbst transportierte man sie nach KRASNOJARSK. Hier verbrachten sie die Zeit bis zum Frühjahr im Gefängnis, und sobald die Flußnavigation wieder möglich war, schickte man sie zurück nach IGARKA. Sofort bei der Ankunft, im Juni 1939, wurde M. (L.) MYSCHKOWSKIJ in die Freiheit entlassen, R. (A.) BARKE mußte jedoch im Gefängnis von IGARKA bleiben: aus irgendeinem Grund war aus Krasnojarsk die Verfügung über seine Freilassung nicht eingetroffen. Daraufhin begab sich Zesa Michailowna nach Krasnojarsk, und dort wurde ihr dann plötzlich mitgeteilt, daß ihr Mann zu 10 Jahren verurteilt worden war und kein Recht auf Briefwechsel hatte! Eilig fuhr sie nach IGARKA zurück, wo man ihr bestätigte, daß ihr Mann freigelassen werden sollte. Und schließlich, am 11.11.1939, entließ man ihn. Aber nach dem „Erlaß“ vom 28.08.1941 wurde er erneut unter Kommandantur gestellt und ihm der sog. Polar-Zuschlag (den Arbeiter erhielten, die unter den schweren klimatischen Bedingungen im Polargebiet tätig waren) gestrichen. Bis 1964 einschließlich (!) mußte er sich regelmäßig melden, ebenso wie auch andere Deutsche in Igarka, z.B. Pawel SCHINDLER und Wladimir SCHINDLER.

Im Jahre 1941 wurde I. (W.) MYSCHKOWSKIJ mobilisiert, diente jedoch nicht an der Front, sondern in Krasnojarsk, wo er beim NKWD (bei Wirtschaftsarbeiten) als Lastwagen-Fahrer tätig war.

1964, nachdem die endgültige Befreiung von der Kommandantur-Registrierung erfolgt war, konnten Zesa Michailowna und ihr Ehemann nach Krasnojarsk umziehen. Mutter und Vater wohnten hier bereits. Hier sind sie auch begraben.

Der ältere Bruder von Zesa Michailowna, F. (M.) MYSCHKOWSKIJ, hatte 1928 bereits eine eigene Familie und arbeitete als Buchhalter in der Sowchose KRASNOJE im Gebiet WINNIZA oder ODESSA. 1937 lag er nach einer Blinddarm-Operation im Kranken-haus, wurde unmittelbar dort verhaftet und kam im Gefängnis ums Leben. Sein Sohn und seine Tochter leben in Krasnojarsk: seine Tochter in Pokrowka, der Sohn Anatolij Franzewitsch, in einem dreigeschossigen Haus gegenüber vom STI (Sibirisches Technologisches Institut), in der Markowskij-Straße, Wohnung Nr. 10. Er möchte nicht über den Vater sprechen.

17.12.1989, aufgezeichnet von W.S. Birger, Krasnojarsk, Gesellschaft „Memorial“


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