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Bericht von Anna Kondratewna Berestowa (Waisbrod / Weißbrod)

Anna Kondratewna Berestowa (Waisbrod, geb. 1938). Mutter – Kristina (Christina) Friedrichowna Waisbrod (Will, geb. 1907), Vater – Kondrat (Konrad) Friedrichowitsch Waisbrod (geb. 1901). Während des Transports starben zwei Schwestern an Typhus: Emma und Margarita.

An der Wolga (in der Ortschaft Straub) ließen sie ihr Hais, ihren Hof zurück. Die Frauen bauten Tabak an. In Anna Kondratewnas Erinnerung ist noch das Krähen der Hähne geblieben, von dem die Menschen die ganze Zeit begleitet wurden, während sie ihre Sachen zusammensuchten und packten. Es gelang ihnen, die Federbetten und noch ein paar andere Dinge mitzunehmen. Transportiert wurden sie in Viehwaggons. Den Vater holten sie sofort in die Arbeitsarmee, aus der er nicht wieder zurückkehrte. Es gibt keine Informationen über ihn und seinen Verbleib.

Man brachte sie in das Dorf Tscheremuschka, wo sie einen Monat blieben. Zusammen mit anderen Deutschen beschloss die Mutter ins Dorf Kyndyrlyk umzuziehen. Sie erinnert sich, dass sie in einem Haus, Wand an Wand mit der Familie Rudolf lebten. Das war eine große Familie mit sieben oder acht Personen. Sie halfen ihnen. Die Mutter arbeitete in der Kolchose; sie war Analphabetin.

Die Mutter hatte noch einen jüngeren Bruder, der in Tscheljabinsk wohnte; nach dem Tod der Mutter riss die Verbindung zu ihm ab. Er arbeitete im Schacht. Er hatte 4 Kinder: 3 Jungen und 1 Mädchen.

Die Ortsbevölkerung mied die Deutschen, empfand sogar Abscheu, und es kam war, dass sie sie als „Deutschenpack“ beschimpften. Zu irgendeinem Zeitpunkt hörte Anna Kondratewna auf in die Schule zu gehen, unter anderem auch aus diesem Grund. Aber der Hauptgrund war, dass sie nicht über die notwendigen Sachen verfügte: sie hatte nichts zum Anziehen. „Im Frühjahr gehe ich zur Schule, wenn der Schnee fiel – blieb ich Zuhause. Im nächsten Frühling wieder dasselbe – ich gehe wieder in die erste Klasse“. So ging das vier Jahre in Folge – immer die 1. Klasse. Niemand half, nichts wurde einem zugeteilt. Die Mutter hatte es schwer, sie musste immer nur arbeiten.

Sie liefen halb verhungert herum, aßen Kürbis, Mais. Den Mais rollten sie platt und buken Fladen daraus. Kartoffeln gab es zu den Festtagen. Die Kinder sammelten Kartoffelabfälle, die Mutter wusch sie ab und kochte sie. Es fehlte an Mehl.

An den Festtagen kamen die Deutschen zusammen, sangen und lasen gemeinsam die Bibel (sie ist nicht erhalten geblieben).

Mit der Mutter sprachen die Kinder Deutsch, sie verstanden die Sprache. Wenn jemand aus den Reihen der Russen zu Besuch kam, konnte die Mutter Deutsch reden, denn sie konnte nur schlecht Russisch; die Kinder antworteten dann auf Russisch. Nach ihrem Tod verschwand die Notwendigkeit Deutsch zu sprechen, und die Sprache geriet in Vergessenheit.

1956 „entfloh“ Anna Kondratewna aus ihrem ganz und gar nicht guten Leben: mit 16 hatte sie Kühe gemolken, musste ständig Schafe hüten und erledigte andere Hofarbeiten. Zur Ernte kamen die Arbeiter mit Fahrzeugen aus der Ortschaft Karatusskoje, wo die Schwägerin der Mutter lebte. Die Mutter half dabei mit den Fahrern überein zu kommen, sagte ihnen, wohin sie bei ihrer Ankunft gehen sollten.

Die Mutter starb 1958. Der Bruder blieb in Tscheremuschka, arbeite mit den Rudolfs zusammen.

Es bestand nie der Wunsch nach Deutschland auszureisen.

Das Interview wurde geführt von Darja Swirina.


Die Familie Rudolf

Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).


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