Wohnhaft im Bezirk Karatus, Dorf Werchnaja Bulanka. Farmer (Weizen, Bäckerei). Verheiratet mit einer Russin (Umsiedler aus dem Kirowsker Gebiet). Zwei Kinder. Ehefrau – Issifowna Woitkewitsch, ihr Vater stammt aus einer Familie von im 19. Jahrhundert vertriebenen Polen.
Die Familie von Karl Martinowitsch Braman, geb. 1865, und Trina Petrowna Braman wurden Ende des 19. Jahrhunderts aus Estland verschleppt. Bramann selbst ist Deutscher aus Leipzig; es heißt er war Ingenieur und errichtete eine Mühle in Estland; heiratete dort eine Estin. Aufgrund irgendwelcher Rechtsverletzungen wurden sie später nach Sibirien ausgewiesen. Es gab viele solcher Familien; sie gründeten das Dorf Werchnaja Bulanka. Sie waren gute Schmiede, konnten auf Schmiedeart Metall kochen. Und zu der damaligen Zeit gab es hier keine Spezialisten. Die Menschen, die umgesiedelt worden waren, waren hier glücklich, weil es hier so fruchtbaren Boden gab – und so entwickelten sich die Hofwirtschaften gut. (Damit gehen die Informationen des Befragten darüber auseinander, dass die Familie zur Zeit der Stolypin-Reform aus Estland ausgewiesen wurde – bis jetzt ist unklar, was der Wahrheit entspricht und was nicht). Anfangs lebten die Umgesiedelten in den Vorwerken, später sammelten sie sich nach und nach in einem Dorf. Zuerst gab es im Dorf kleine provisorische Häuser, in die man hineinging, dort lebte, seine Feiertage feierte und irgendwie zurechtkam – und das wars. Vieh gab es im Dorf nicht, alle Tiere befanden sich in den Vorwerken.
1930 wurde die Familie enteignet, 1933 wurden Karl Martinowitschs Söhne und die Ehefrau eingesperrt. Gustav (Kusma) Karlowitsch (I.K. Bramans Großvater) saß seine Strafe bis zum Schluss ab, kam aus dem Lager, aber nach Hause oder nach Estland zurückkehren durfte er nicht; er fuhr in die Ukraine und gründete dort eine neue Familie. Die erste Ehefrau Jelisaweta (Elisabeth) Iwanowna (Janowna), Mädchenname Baumann, ging nicht in die Ukraine.
Laut Bestätigung des Befragten, wurden im Minussinsker Wäldchen 22 Personen namens Baumann erschossen.
Das Buch der Erinnerung der Region Krasnojarsk zeigt ein anderes Bild auf:
BRAMAN(N), Karl Martinowitsch, geb.1865 (1885). Lebte im Dorf Werchnaja Bulanka,
Werchne-Bulansker Dorfrat, Bezirk Karatus, Gebiet Minuassinsk. Familie: Ehefrau,
geb. 1868. Entzug der Wahlrechte 1930 (Archiv-Abteilung der Verwaltung des
Bezirkes Karatus, F. 33/511, Verz. 3, Dos. 56)
Ehefrau: BRAMON, Trina Petrowna, geb. 1868 in der Ortschaft Werchnaja Bulanka,
Sagaisker Amtsbezirk, Gebiet Minussinsk, Jenisseisker Gouvernement. Estin.
Stammte aus einer Großbauern-Familie. Verhaftet am 23.03.1933 in Sachen A.R. Tal
(unter diesen Sammelfall fielen 32 Personen). Angeklagt wegen Mitgliedschaft in
einer konterrevolutionären Organisation. Verurteilt am 27.06.1933 von einer
Sonder-Troika der Bevollmächtigten-Vertretung der OGPU im Gebiet West-Sibirien
verurteilt zum Entzug des Aufenthaltsrechts in 12 Siedlungen des Ural-Gebiets
sowie im grenznahen Streifen mit fester Anbindung an einen bestimmten Wohnort
für die Dauer von drei Jahren.
Rehabilitiert am 01.09.1958 vom Krasnojarkser Regionsgericht (P-10057).
Sohn: BRAMON, Gustav Karlowitsch, geb. 1906. Gebürtig und wohnhaft in der
Ortschaft Werchnaja Bulanka, Sagaisker Amtsbezirk, Minussinsker Landkreis,
Jenisseisker Gouvernement. Este. Stammte aus einer Großbauern-Familie. Verhaftet
am 16.04.1933 in Sachen A.J. Tal (unter diesen Sammelfall fielen 32 Personen).
Angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation.
Verurteilt am 27.06.1933 von einer Sonder-Troika der Bevollmächtigten-Vertretung
der OGPU in der Region West-Sibirien zu 10 Jahren Konzentrationslager. Erneut
verhaftet in der Nebenwirtschaft der Minussinsker Sowchose. Verschleppt am
13.07.1949 von einer Sondersitzung des MGB der UdSSR zur Ansiedlung.
Rehabilitiert am 01.09.1958 vom Krasnojarsker Regionsgericht (P-10057).
Sohn: BRAMON, Michail Karlowitsch, geb. 1909 in der Ortschaft Werchnaja
Bulanka, Abakansker Amtsbezirk, Minussinsker Landkreis, Jenisseisker
Gouvernement. Este. Arbeitete auf einem Einzelhof in der Ortschaft Snamenka,
Minussinsker Bezirk, Region Krasnojarsk. Verhaftet am 06.11.1937. Angeklagt
wegen antisowjetischer Agitation. Verurteilt am 27.11.1937 von einer Troika der
NKWD-Behörde der Region Krasnojarsk zu 10 Jahren Erziehungs-/Arbeitslager.
Rehabilitiert am 12.01.1957 vom Präsidium des Krasnojarsker Regionsgerichts
(P-6140).
Sohn: BRAMON, Peter Karlowitsch, geb. 1898. Gebürtig und wohnhaft in der
Ortschaft Werchnaja Bulanka, Abakansker Amtsbezirk, Minussinsker Landkreis,
Jenisseisker Gouvernement. Este. Stammte aus einer Großbauern-Familie. Verhaftet
am 16.04.1933 in Sachen A.J. Tal (unter diesen Sammelfall fielen 32 Personen).
Angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation.
Verurteilt am 27.06.1933 von einer Sonder-Troika der Bevollmächtigten-Vertretung
der OGPU in der Region West-Sibirien zu 10 Jahren Konzentrationslager.
Rehabilitiert am 01.09.1958 vom Krasnojarsker Regionsgericht (P-10057).
Sohn: BRAMAN(N), Jan Karlowitsch, geb. 1892. Lebte in der Ortschaft Werchnaja
Bulanka, Werchno-Bulansker Dorfrat, Bezirk Karatus, Minussinsker Gebiet.
Familie: Ehefrau Susanna Antonowna, geb. 1894 (Sohn geb. 1912; Sohn, geb.
1913?), Malia, geb. 1913, Paulina, geb. 1914. 1931 Entzug der Wahlrechte; flohen
vor der Ausweisung (Archiv-Abteilung der Verwaltung des Bezirks Karatus, F.
33/511, Verz. 3, Dos. 23, 38).
Der Großvater traf in Kansk ein und versuchte nach Werchnaja Bulanka zu gelangen. Man erteilte ihm jedoch keine Erlaubnis und sagte ihm, dass er verhaftet würde, wenn er es trotzdem täte. Und da er sich dort unter ständiger Verfolgung befand, reiste er in die Ukraine. Das war Anfang der 1960er Jahre.
„Warum geht es bei uns in Russland mit den Dingen nicht voran? Ich war natürlich sehr traurig – da kommt irgend so ein revolutionärer Film, und da sagen sie immer: „Du bist auch Kulak (Großbauer; Anm. d. Übers.). Du bist auch so einer“. Die ganze Zeit gab es Unannehmlichkeiten. Die ganze Zeit. Ich habe dann aufgehört, mir solche Filme anzusehen“.
„Das Haus haben sie weggenommen- und den ganzen Besitz. Aus dem Haus haben sie ein Kontor gemacht. Aber wir denken daran, dass es unser Haus war. Das ist kränkend. Die kleinen Kinder haben sie rausgejagt; dort, die winzige Hütte… das war da hinter den Bäumen – die haben sie gleich ausgetauscht. Da gab es keine Fenster, gar nichts gab es; nur so einen Ofen haben sie reingestellt. Da sollten wir überwintern – und das war alles“.
Iwan Karlowitsch erlernte am Minussinsker Technikum den Beruf eines Elektro- Mechanikers und Agronomen. Obwohl er nie daran dachte, dass ihm das jemals zu Statten kommen würde. Zum Praktikum nach Snamenka trieb ihn Leer, ein alter Agronom, ebenfalls Este. Er trieb Bramann ordentlich an und sagte, dass ihm das nur zu Gute käme. Und so war es auch – alle Studenten blieben in der Stadt, nur Iwan Karlowitsch fuhr ins Dorf.
In der Familie und auch im Dorf sprachen alle Estnisch. Russisch war nur für diejenigen, die kein Estnisch konnten. 1962 gab es im Dorf 260 Häuser, einen eigenen Dorfrat, eine Shule, ungefähr 3000 Einwohner. In der Schule wurde Estnisch und Russisch unterrichtet. Unweit befand sich auch noch ein polnisches Dorf mit einer sehr großen Kirche.
Vor vier Jahren reiste Bramann nach Estland, es sprach akzentfrei… reiner als die Esten selbst. Aber die Kinder sprechen schon kein Estnisch mehr. Früher haben sie die Festtage noch gefeiert. Den Iwan Kupala-Tag feierte man intensiver als Neujahr, denn da wurden im ganzen Dorf die Tische gedeckt. Jeder brachte etwas zu essen mit, man entfachte Lagerfeuer, sprang durchs Feuer und tanzte Ringelreihen. Das wird gemacht, um Energie zu sammeln. Später versammelte sich die Jugend am Morgen und ging mit Körben von Haus zu Haus, damit sie Hühner bekamen oder Eier oder Speck. All das gab es dort, auch Gebackenes. Alles-alles-alles gab jeder her. Sie kamen mit dem Pferd, verstauten alles hinten. Und später, nachdem sie alles eingesammelt hatten, kochten sie die Eier in einem Kessel, und dann fuhren sie an einen Teich, um sich dort auszuruhen. Sie hielten dort alle fast den ganzen Tag und die ganze Nacht Rast. Sie entfachten weiter Lagerfeuer, sprangen durch die Flammen und ruhten sich aus.
Das war 1995, danach gab es keine Arbeit mehr, die Sowchose war zusammengebrochen, die Leute fingen an, den Ort zu verlassen. Dort gab es keinen Dienstherrn, und deswegen hatten sie dort nichts mehr verloren. Überall sollte es einen Dienstherrn geben“.
Nach Estland will der Befragte nicht zurückkehren – hier gefällt es ihm besser. In den siebziger Jahren reisten viele nach Estland aus, 10, 15 oder 16 Familien. Weil das Leben dort trotzdem leichter war als hier. Aber jetzt ist es dort nicht leichter. Es gibt praktisch keine Arbeit.
Familienfotos sind nicht erhalten geblieben – sie gingen während der Repressionszeit verloren.
Die Eltern waren sehr religiös. Alles, was blieb, war ihr Glaube. Die Kirche (eine lutherische) brannte nach der Revolution nieder. Gerade so ein schöner Platz, mitten im Zentrum. So sehr sie sich auch darum bemühten – es gelang nicht auf diesem Platz Häuser zu errichten. Jan Karlowitsch selbst geht in die orthodoxe Kirche, ebenso wie seine Kinder. Es ist nicht wichtig, welche Kirche du besuchst. Das Wichtigste ist, dass du an unseren Herrgott glaubst. Und es gibt nur einen Gott. Und wenn du anfängst zu glauben, dann hängt das nicht davon ab, wie ehrlich du lebst“.
„Tante Molja hat im Traum gesehen, dass da ein neuer ... Jan Bramann entsteht, und der wird hier das Dorf hochbringen und sich um die Menschen kümmern. Na, das habe ich lange Zeit nicht geglaubt, bis heute nicht, bis ich zurückgekehrt bin. In den Personenstandsurkunden stand geschrieben – Jan, aber im Ausweis haben sie Iwan daraus gemacht. Großmama sagte, schreib Iwan. Dann wirst du’s im Leben leichter haben“.
Bramann erinnert sich an die Vergangenheit: „Du gehst zum Beispiel hin, um dir im Kontor ein Pferd zuteilen zu lassen. Dort sagen sie: „Och, di lebst doch so gut, Kulaken-Sohn, hau ab“! Und das wars. Ich bekam das Pferd erst, als alle anderen schon eins erhalten hatten.
Jan Karlowitsch Braman(n)
Interview: J.A. Franz, D.W. Swirina
Expedition der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität, Krasnojarsk, zum Projekt „Volksgruppen in Sibirien: Bedingungen für den Erhalt der kulturellen Erinnerung“, 2017, Bezirke Karatus und Kuragino