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Mitteilung von Lydia Filippowna Tschugunekowa (Gelhorn)

Lydia Philippowna Tschugunekowa (Gelhorn), geboren 1931

Vater – Philipp Philippowitsch Gelhorn (geb. 1902), Mutter – Lydia Karlowna (Nilmaier), geb. 1907, zogen sechs Kinder groß: Lydia, Philipp, Wladimir, Erna, Andrej, Erna; zwei starben als Kleinkinder: Hilda/Nina, Wladimir (Näheres über die Familie sowie Fotos kann man den Seiten des „Familienbuches“ entnehmen). Der Vater arbeitete als Buchhalter, er absolvierte spezielle Kurse. Die Mutter konnte lesen und schreiben. Die Eltern sprachen gut Russisch. Die Familie lebte in der Stadt Jekaterinenthal (Katharinenthal, Bezirk Krasnokut, Gebiet Saratow).

Die ganze Familie „lag“ etwa einen Monat in der Stadt Kansk. Die Züge waren vollgeladen mit Kriegstechnik für die Front, und die Menschen wurden auf Zelte verteilt. Einmal am Tag bekamen sie Suppe, auch Brot wurde ihnen ausgehändigt. Unter den Menschen befanden sich unterschiedliche Nationalitäten, nicht nur Deutsche, sondern auch Letten, Finnen und Griechen.

Nach Kansk gerieten sie in den Dserschinsker Bezirk, Ortschaft Kondratewo. Ein Großvater mit langem Bart kam angelaufen, rief die Familiennamen aus und nahm die Leute mit. Sie wurden auf Schlitten fortgebracht, Lidia Filippowna erinnert sich die Eindrücke von einem Wald. An der Wolga hatten sie in der Steppenzone gelebt; der Bruder sagt: «Gut, dass sie uns von der Wolga verjagt haben, so konnten wir wenigstens einmal Wald zu sehen bekommen». Als wir in Kondratewo eintrafen, fingen die Ortsansässigen an zu schreien: «Die Deutschen sind da!», die einen spuckten aus, andere beschimpften uns mit bösen Worten. Aber es gab auch einige, die sich gegenüber den Ankömmlingen gutmütig verhielten. So wurden sie von der Familie Podwigin (vier Kinder, der Ehemann war bereits im Krieg) aufgenommen. Sie bekamen Kartoffeln zu essen und konnten sich aufwärmen.

Vor der Deportation beendete Lydia Filippowna zwei Schulklassen. Für gute Leistungen händigte man ihr eine Stalin-Büste aus. Als die Familie ihre Sachen packen musste, entschied der Vater sie mitzunehmen – aus zweierlei Gründen: aus politischen Erwägungen und weil schließlich seine Tochter sie geschenkt bekommen hatte: «das Geschenk an die Tochter – das muss mit!». Nachdem sie sich ein wenig eingelebt hatten, bekam die Büste neben den Ikonen ihren Platz. Einmal war eine Frau im Haus, betete und erkannte die Stalin-Figur: «Ach, du verfluchte Schlange! Meine Kinder hast du mir weggenommen!».

Ein Jahr später schickte man die Familie nach Krasnojarsk. Vier Tage und Nächte fuhren sie auf einem Schiff, wurden mit Essen versorgt. Unterwegs wurden die Menschen nach Listen am Ufer abgesetzt. Mit Lydia Filippownas Familie gerieten insgesamt 120 Personen an Land (unter ihnen Deutsche, Letten, eine griechische Familie). Sie fragten, ob jemand lesen und schreiben konnte, und Lydias Vater meldete sich. Er musste unterschreiben, dass sie am Ufer abgesetzt worden waren (man kann sagen, dass er seitdem eine Art Leiter der zukünftigen Siedlung war). Das Schiff legte ab. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden die Menschen irrtümlich an dieser Stelle ausgesetzt, denn dort gab es lediglich eine einzige Hütte, in der damals eine Frau lebte, welche die Schiffspassagen auf dem Jenissei regelte.

Drei Tage und Nächte verbrachten die Leute praktisch ungeschützt am Ufer und warteten auf Hilfe. Es war kalt, sie hatten Hunger. Die Mutter besaß noch ein wenig Mehl, aber sie wollte es nicht vor aller Augen hervorholen; es war unangenehm zu essen, während andere zusahen und hungerten; und wie hätte man dort aus dem Mehl auch etwas Essbares herstellen können? Irgendwelche Kutter fahren auf dem Jenissei, Menschen stürzen zum Wasser. Einer der Kutter nähert sich, um zu erfahren «was das für Wilde sind». Nachdem die Besatzung es erkundet hatten, kehrte er am folgenden Tag mit Brot zurück, welches die Menschen unverzüglich aufaßen. Später kam eine Barke mit Holz und Lebensmitteln. Außerdem wurden zwei Männer geschickt: der eine war Bauarbeiter, der andere Fischer. Sie waren es dann auch, die den Menschen dabei halfen Häuschen zu bauen und ihnen beibrachten, wie man Fische fängt. Den Frauen waren sie beim Tragen kleiner Baumstämme behilflich; sogar Heranwachsenden von 12-13 Jahren galten bereits als «geeignet», um das Fischen zu erlernen. Zum Überwintern bauten sie eine Baracke. Viele starben. Die Menschen wurden nicht bestattet, erst später, im Frühjahr, transportierten sie alle Leichen ab und begruben sie in einem Massengrab.

Die Männer, die beim Bau geholfen hatten, meinten, dass wir Hasen fangen sollten, um deren Fell für Schuhwerk zu verwenden. Aus Hasenfell wurden Mützen und Fausthandschuhe genäht.
Mein Bruder und ich jagten Gimpel. An kleinen Brettchen befestigten wir Ösen aus Pferdehaar, und legten es dünn mit Pferdemist aus. Wir versteckten uns und warteten. Eine Schar Vögel fliegt heran – und manch einen fangen wir. Die Mutter kocht Brühe. Einmal ließ der Vater an einem Feiertag einen gefangenen Gimpel wieder frei und meinte: «Heute nicht, das wäre eine Sünde».

Später wurde die Siedlung in Deneschnoje umbenannt (Lydia Filippowna erinnert sich nicht mehr, was der Grund dafür war).

Sie wurden von Läusen und Wanzen zerfressen. Man führte Desinfektionsmaßnahmen durch. Vor der Prozedur verabreichte man ihnen einen Aufguss aus Tannennadeln, die Kleidung kam in einen großen Kessel und wurde ausgekocht.

Einmal, im Herbst, steckten auf dem Jenissei Lastkähne mit Lebensmitteln fest. Damit sie nicht versanken, lud man sie ab und brachte sie ins Dorf.

Nach und nach legten die Menschen sich wieder einen Haushalt zu und lebten ihr Leben. Die Viehzucht entwickelte sich. Man eröffnete eine Schule. Lydia Filippowna beendete die vierte Klasse, später lernte sie im Fernunterricht. Mit 12 Jahren begann sie in der Fischwirtschaft zu arbeiten: anfangs schleppte sie Wasser und war beim Waschen des Fangs behilflich, sie lernte die Fische auszunehmen und erledigte diese Arbeit dann auch selbständig. Später war Lydia Filippowna im Viehzuchtbetrieb tätig – in der Zapfstelle der Milchannahme-Abteilung.

In Deneschnoje heiratete Lydia Filippowna zwei Monate vor ihrem 18. Geburtstag einen Russen. Ihr Mann war knapp 8 Jahre älter und hatte am Krieg teilgenommen. Die Eheschließung wurde am 1. Januar 1949 vollzogen. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. In der ersten Zeit lebten sie bei den Eltern des Ehemannes, später bekamen die jungen Leute eine Wohnung zugewiesen, und sie führten ihren eigenen Haushalt.

Im Wohlstand lebten sie nicht, eher in ärmlichen Verhältnissen, aber Lydia Filippowna war Reinlichkeit anerzogen.

Später unterstützte ein Mann, mit dem sich der Vater angefreundet hatte, die Familie dabei, nach Tscheremuschka umzuziehen. Dort benötigte man einen Buchhalter. So zog die ganze Familie in dieses Dorf im Süden der Region, wo Lydia Filippowna heute noch lebt. Sie arbeitete in der örtlichen Bäckerei, buk für mehrere Ortschaften das Brot und nahm dann eine Tätigkeit in der Personalabteilung des Dorfrats auf.

Lydia Filippowna erinnert sich mit Wehmut an den Norden und möchte gern noch einmal dorthin fahren.

Einer der Brüder reiste mit seiner Frau nach Deutschland aus. Auf die Frage, ob es sich dort besser lebt, antwortete sie: «Ich bedaure ausgereist zu sein. Es wäre besser gewesen zu bleiben».


Lydia Filippownas Eltern – Lydia Karlowna und Filipp Filippowitsch


Mutter Lydia Karlowna


Lydia Filippownas Verwandte mütterlicherseits


Lydia Filippownas Bruder – Filipp Filippowitsch (geb. 1933)


Absolventen des 5. Viehzucht-Lehrgangs (Vater – Filipp Filippowitsch, letzte Reihe, zweiter von links)


Paulina Filippowna Waitz mit Ehemann


Emma und Jegor Geitz


Lydia Filippowna mit Ehemann Viktor (Siedlung Poloj)


Lydia Filippowna mit Ehemann Viktor (Siedlung Poloj)


Lydia Filippowna mit Ehemann Viktor


Ehemann, sitzend, zweiter von links, 1950


Lydia Filippowna mit Ehemann und Töchtern


Lydia Filippowna mit den Auszeichnungen ihres Mannes


Lydia Filippowna mit Enkelin und Urenkelin


Die väterliche Bibel

 


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Expedition der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität, Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Der antropologische Wandel in den sozial-humanitären Wissenschaften: Methoden der Feld-Forschung und Praxis der Realisierung mündlicher Erzählungen“. 2016, Bezirk Karatus

 


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