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Mitteilung von Karl Friedrichowitsch Diener

Karl Friedrichowitsch Diener wurde am 7. Januar 1949 in der Ortschaft Turuchansk, Bezirk Turuchansk, Region Krasnojarsk, in die Familie der verbannten Deutschen Friedrich Karlowitsch und Jekaterina (Katharina) Friedrichowna Diener (Eckel) hineingeboren.

Die Eltern des von uns Befragten - gebürtig aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen – begegneten sich im fernen nordischen Turuchansk gegen Ende der 1949er Jahre, als sie in einer Fischfang-Genossenschaft arbeiteten. Die Familien von Friedrich Diener und Jekaterina Eckel teilten das Schicksal von mehreren hunderttausend Sowjet-Deutschen, die gemäß Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 aus der ASSR der Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan ausgesiedelt wurden.

Nicht lange vor dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges wurde der junge Friedrich Karlowitsch in die Reihen der Roten Armee einberufen. Der Ukas über die Liquidierung der deutschen Autonomie erreichte ihn an der Front. Praktisch sofort – im September 1941 – wurden die deutschen Rotarmisten aus den Reihen der bewaffneten Streitkräfte abgezogen, verloren ihre militärischen Ränge und in die Arbeitstrupps zu den Bauprojekten des GULAG / NKWD abtransportiert. In einen dieser Arbeitstrupps des Norillag geriet auch Friedrich Diener. Aus der „Trudarmee“ wurden die Menschen erst nach Kriegsende entlassen. Zu jener Zeit wurde Friedrichs Familie auf mehrere Regionen verstreut: in die Kasachische SSR, das Gebiet Omsk und die Region Krasnojarsk. Unter den Bedingungen der Sonderansiedlung, die faktisch eine feste Anbindung der Ausgesiedelten an den neuen Wohnort bedeutete, gestaltete sich eine Wiedervereinigung der einzeln isolierten deutschen Familien äußerst problematisch. Nach der Zeit in der Trudarmee ließ Friedrich Karlowitsch sich in Turuchansk nieder, wo er auch seine zukünftige Ehefrau kennenlernte.

Die Familie von Jekaterina Friedrichowna Eckel geriet im September 1941 in die Region Krasnojarsk. An der Wolga lebte ihre große Familie unweit der Stadt Engels. Die Deportation der 20-jährigen Jekaterina, ihrer Mutter und vier Geschwister vollzog sich in aller Eile. Wie sie sich später erinnerte: „In den Sachen, die wir auf dem Leib trugen, fuhren wir auch los; wir schafften es nicht, rechtzeitig noch irgendetwas einzupacken und mitzunehmen“. An der Wolga blieben Haus, Hofwirtschaft, Mobiliar und Hausrat zurück. Selbst die persönlichen Dinge konnten sie nicht vernünftig einpacken. Die Fahrt nach Sibirien dauerte nach den Erzählungen von Jekaterina Eckel sehr lange; die Menschen hungerten: im Waggon starben mehrere Menschen, die am meisten unter dieser Hungerexistenz Leidenden waren die Kinder. Im Herbst 1941 kam die Familie in die Ortschaft Balachta, Region Krasnojarsk, aber wie sich später herausstellte, sollte es nicht für länger sein. Bereits im Sommer 1942 wurde sie, ebenso wie viele andere Sondersiedler-Familien in den Bezirk Turuchansk deportiert, um dort beim gewerblichen Fischfang zu arbeiten.

Die Erinnerungen von Jekaterina Friedrichowna über den Turuchansker Lebensabschnitt bestätigen die Lebensregel der in den Fischfang-Genossenschaften arbeitenden Menschen – sie beschafften Fisch für den Staat durch Stoßarbeit, führten jedoch selber ein Hungerdasein - «nicht einmal ein Fischschwänzchen durfte man mitnehmen».

Driedrich Diener und Jekaterina Eckel lernten sich beim Fischfang kennen. In Turuchansk bekamen sie im Zeitraum zwischen 1948 und 1956 sieben Kinder. 1950 arbeitete das Familienoberhaupt als Traktorist. Nach und nach schafften sich die jungen Leute eine Kuh an, pflanzten einen Gemüsegarten und bekamen ihr eigenes kleines Häuschen. Obwohl die Familie sich im Norden „einlebte“, zogen die Dieners bald nach dem Beginn des Rehabilitationsprozesses, im März 1958, zu Jekaterinas Eltern nach Kasachstan um, und Anfang der 1960er Jahre zu den Verwandten des Ehemannes ins Gebiet Omsk.

Das Lebensjahr im Omsker Gebiet hat sich in das Gedächtnis des jungen Karl Diener mit einer guten Erinnerung eingeprägt, denn die Familie geriet in das deutsche Dorf Scharwataj. Offenbar war diese Siedlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts von deutschen Kolonisten gegründet worden, als ein gewisser Teil der Ethnie sich auf der Suche nach Land und einem glücklicheren Leben nach West-Sibirien aufmachte. In der Schule waren alle Lehrer, mit Ausnahme des Direktors und Schulleiters, Deutsche, aber der Unterricht fand in russischer Sprache statt. Im Großen und Ganzen sprach Karl Dank des authentischen Sprachmilieus gut Deutsch. Den Erhalt der Muttersprache innerhalb der Familie Diener begünstigte auch der Umstand, dass die Eltern sich immer auf Deutsch unterheilten. 1963 kehrten sie endgültig in die Region Krasnojarsk zurück und ließen sich in dem Dorf Sacharowka im Kasatschinsker Bezirk nieder.

Nach Beendigung der Schule machte der von uns Befragte eine Ausbildung zum Fahrer und arbeitete dann lange Zeit in diesem Beruf in der Kasatschinsker Forstwirtschaft. In Sacharowka lernte er seine zukünftige Ehefrau – Aleksandra Petrowna Kruglowa – kennen. Mehr als zwei Jahre arbeitete sie an der Schule als Mathematiklehrerin.

Jetzt befindet sich die Familie Diener im wohlverdienten Ruhestand. Sie freuen sich an ihrer Tochter und der heranwachsenden Enkelin. Ungeachtet der nicht einfachen Kindheit, die auf das erste Nachkriegsjahrzehnt entfiel, teilen sie gern ihre Erinnerungen über das, was sie und ihre Eltern durchgemacht haben.

Karl Friedrichowitsch erinnert sich an seinen Schulalltag, als seine Klasse ganz „international“ war: Letten, Litauer, Deutsche, Kalmücken, Kirgisen, Russen. Er hebt das Fehlen irgendwelcher ernsthaften Konflikte aus nationalen Gründen hervor. Aleksandra Petrowna ist der Meinung, dass die Kinder der Umsiedler und die der Ortsansässigen in gleicher Weise bescheiden sind und sich keiner von ihnen besonders hervortat. Das Defizit an Lebensmitteln und Kleidung zu Beginn der 1950er Jahre gab es praktisch bei allen Bewohnern, unabhängig von deren Nationalitäten-Zugehörigkeit. Allerdings unterschieden sich äußerlich die Kirgisen von den anderen, die bei jedem beliebigen Wetter ihre nationalen Kittel und Tubeteikas (barettartige Mütze; Anm. d. Übers.) trugen. Ein wenig losgelöst von den anderen verhielten sich die Verbannten aus dem Baltikum. Während der Mittagspause gesellten sie sich nur selten zu den anderen Arbeitern, nach der Arbeit eilten sie nach Hause, versuchten gemeinsam zu arbeiten. Ende der 1950er Jahre, mit Beginn des Rehabilitationsprozesses bei den baltischen Sondersiedlern, reisten sie massenweise in ihre ursprüngliche Heimat aus. Und zu Beginn der 1990er Jahre kehrten die ehemalige Sondersiedler nach Sibirien zurück, um die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu holen, die in der Verbannung verstorben waren. Auf dem allgemeinen Friedhof in Sacharowka entstand noch in den 1950er Jahren ein inoffizielles Territorium für litauische und lettische Gräber. Sie unterschieden sich von den anderen durch hohe Grabkreuze, die in der Folgezeit ebenfalls abgebaut wurden.

Heute benutzt Karl Friedrichowitsch nur noch selten die deutsche Sprache, wenn er mit seinen Schwestern ein paar deutsche Ausdrücke fallen lässt. Er sagt, dass er Deutscher ist, aber das ist eher offiziell. Wenngleich ein Teil seiner Verwandten Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland ausgereist ist, hegt Karl Friedrichowitsch keinerlei Illusionen über ein „glückliches deutsches Leben“. Ein Teil der ihm bekannten deutschen Landsleute, die in die historische Heimat ausreisten, sind einige Zeit später wieder zurückgekommen. Sie konnten sich in Deutschland nicht finden – dort herrscht ein anderes Lebensmuster, und auch eine Arbeit im alten Beruf (dem Beruf, den sie in Russland ausgeübt hatten) hatten sie dort nicht bekommen. Menschen, die zuvor noch Lehrer und Ärzte gewesen waren, mussten in Deutschland als ungelernte Arbeiter in deutschen Fabriken ihr Geld verdienen. «Ich werde also nicht von hier weggehen - nirgendwohin» sagte Karl Friedrichowitsch. Seine Mutter starb 2002, womit sie ihren Ehemann um mehr als 30 Jahre überlebte. Auch sie nutzte nicht die Möglichkeit nach Deutschland auszureisen, weil sie sich in Sibirien „eingelebt“ hatte und der Meinung war, dass sie ihr Leben auch hier zu Ende bringen müsste.

Aleksandra Petrowna wurde in einer russischen Familie geboren. Mit viel Wärme erinnert sie sich daran, wie Karl Friedrichowitschs Mutter sie mit den Gerichten der deutschen Küche bekannt machte und ihr beibrachte, wie man Kribli und Riwelkuchen herstellt. In der sibirischen Interpretation, bemerkt Aleksandra Fjodorowna, wurden sie sogar noch schmackhafter, aber die auf deutsche Art aus lokalen Produkten zubereiteten Maultaschen und Kartoffeln hatten einen ganz besonderen Geschmack. Deutsche Gerichte wurden immer zu Ostern und Weihnachten zubereitet. Jekaterina Friedrichowna war ein gläubiger Mensch und hielt zu Hause die katholischen Feiertage ein, obwohl sie dies nicht öffentlich tat. Leider ist die handgeschriebene deutsche Bibel nicht erhalten geblieben, die sie seinerzeit von der Wolga mitbrachten.

Die Familie Diener erinnert sich an die Komplementarität der Sibirer, die trotz der Kriegs- und Hungerjahre ihre Lebensmittel mit den deportierten Familien teilten. Aleksandra Petrownas Großmutter – Aleksandra Iwanowna – rettete im Winter1942 buchstäblich eine wolgadeutsche Familie, die aus dem Kasatschinsker Bezirk verschleppt worden war: sie kochte Kartoffeln, buk Fladen und gab sie der hungernden Familie, in der drei kleine Kinder aufwuchsen. In den Folgejahren zeigten sie der Großmutter ihre Dankbarkeit für das erwiesene Mitleid und die Hilfe. In den 1950er Jahren lebte im Haus der Großmutter ein verbannter Arzt aus Leningrad, ein nach Aleksandra Petrownas Erinnerung gebildeter Mann. Er brachte ihr das Opern-Hören bei, und die Ortsansässigen wandten sich immer an ihn, wenn sie medizinische Hilfe benötigten. Allerdings konnte er hier in Sibirien in seinem erlernten Beruf nicht tätig sein – er war Arbeiter in der Waldwirtschaft.

Zwischen 1990 und dem Beginn der 2000er Jahre wurden Jekaterina Friedrichowna Diener und ihre Kinder rehabilitiert. Heute setzt sich die Geschichte dieser deutschen Familie auf sibirischem Boden fort…

Interview: Jelena Sberowskaja

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ) Neunte Expedition des Krasnjarsker "Memorial“ und des Pädagogischen College in Jenisseisk, Worokowka-Kasatschinskoje-Roschdestwenskoje 2014 .


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