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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Irma Genrichowna Fetzer

Geboren 1931
Vater – G.G. Fetzer, geb. 1908.
Mutter –L.E. Resle (Ressle?), geb. 1901.

I.Gs Vorfahren waren bereits zur Zeit Alexanders I. aus Deutschland in die Ukraine gekommen (AB – muß geprüft werden: war es nicht vielleicht unter der Herrschaft Katharinas?). Sie lebten in neuburg (Nowogradowka), 25 km von Odessa entfernt.

Das Leben bis 1941

I.Gs Vater war Kolchos-Vorsitzender. In der Kolchose wurden zahlreiche Gartenkulturen gezüchtet, unter anderem Weintrauben; es gab sogar einen Weinkeller. Es war niemals das Bestreben des Vater gewesen ein reicher Mann zu sein, Vermögen zu besitzen und alles im Überfluß zu haben, obwohl er die Möglichkeiten dazu gehabt hätte.

Im Dorf wuchsen Süßkirschenbäume, Akazien (entlang der Straße) und Apfelbäume. Und alle Bäume waren bis zu einer Höhe von 1 Meter mit weißer Farbe angestrichen. Die Häuser wurden aus ganzen Steinen gebaut, die Dächer waren mit Schilf gedeckt.

Am 2. August 1941 wurde er ohne Nennung von Gründen verhaftet. Über den Verlauf seines weiteren Schicksals erfuhr I.G. erst viele Jahre später: man klagte ihn wegen antisowjetischer Propaganda an und erschoß ihn am 2. Oktober desselben Jahres. Außer ihm wurden noch weitere zwanzig Männer verhaftet, von den insgesamt vier den Tod durch Erschießen fanden – der Vater (Vorsitzender der Kolchose), sein Sekretär und zwei Lehrer. (AB – war das tatsächlich 1941? Befand sich das Gebiet Odessa im August 1941 nicht bereits unter deutscher Okkupation? Und von der Verfahrensweise her erinnert dies eher an Den Großen Terror im jahre 1937, und, was den Monat betrifft, ebenfalls: unmittelbar nach Bekanntwerden der „deutschen“ Operation durch das NKWD. Muß anhand des Odessa-Martyrologs geprüft werden).

Die Besatzung

Es erfolgten keinerlei Strafaktionen gegen die Deutschen. Man gab ihnen Land zur Eigennutzung und gab ihnen die konfiszierten Weinberge zurück. Und die Menschen begannen wieder zu arbeiten wie die Wahnsinnigen“ („wenngleich sie immer hart gearbeitet hatten, aber nun schufteten sie doppelt soviel“ – I.G.).
I.G. besuchte zum zweiten Mal die zweite Klasse. Alle Fächer wurden damals auf Deutsch unterrichtet. Das war Pflicht (Russisch wurde nicht unterrichtet). Die lutheranische Kirche wurde wieder geöffnet, und aus Deutschland kam ein Geistlicher angereist.

Die Zwangsmigration

Am 28. März 1944 wurden sie gezwungen sich auf den Weg nach Deutschland zu machen: die deutschen Truppen wichen zurück und nahmen die „Volksdeutschen“ unter Anwendung von Gewalt mit sich. Die Verpflegung wurde für eine Reisedauer von vierzig Tagen berechnet und vorbereitet: Zwieback, in Speck eingewickeltes Hühnerfleisch, gekochtes Essen und getrocknete Aprikosen. Sie nahmen Kleidung und pro Person eine Decke und ein Kopfkissen mit.

Die Reiseroute

Nowogradowka – mit der Fähre über den Dnjestr – Moldawien – Rumänien – Bulgarien – Ungarn (hier nahm man ihnen die Pferde fort und ließ sie auf einen Zug umsteigen) – Polen.

Sechs Monate lebten sie in der Stadt Wreschen (poln.: Wrzesnia; kleiner polnischer Ort; Anm. d. Übers.), wurden gegen Vorlage von Lebensmittelkarten verpflegt, auf die man Brot, Fleisch, Marmelade und Tafelbutter ausgab. Sie bekamen gut zu essen.

Dann kamen sie nach Deutschland, indas Dorf Kimritz (nahe der Stadt Halle an der Saale). Man brachte sie in der Familie eines Bäckers unter, der ein kleines Geschäft besaß und mit allen möglichen Zutaten zur Verfeinerung von Teigwaren (Milch, Butter, Eier) und mit Brötchen handelte. Seine Frau war nicht sonderlich freundlich und umgänglich, und I.G. bemühte sich, ihr nicht unnötig unter die Augen zu treten und den Fußboden nicht schmutzig zu machen. Aber I.Gs mittlerer Bruder war ein ganz Unruhiger, der immer umherlief und nicht auf einer Stelle stillsitzen konnte. Um den Hausherrn nicht unnütz zu verärgern (und nicht andauernd ins Haus laufen zu müssen), drückten sie ihm ein Stück Brot in die Hand, das mit Marmelade oder Butter bestrichen war.

Die Freilassung

I.G. erinnert sich, wie die Amerikaner in Kimritz einmarschierten – starke, hochgewachsene, hübsche Männer, wie ausgesucht sahen sie aus. Einige kamen mit Fahrzeugen der Marke „Ural“ (AB – es handelte sich wohl eher um „Studebekkers“) und Maschinengewehren über der Schulter. Niemand leistete ihnen Widerstand. Nur ein einziger Amerikaner kam ums Leben, und das geschah auch nur durch einen Zufall. Nach einiger Zeit kamen sowjetische Truppen. Es begannen Gerüchte zu kursieren, daß man alle bald nach Hause schicken würde. Aber in Wirklichkeit wurden sie nach Sibirien verschleppt. Als sie das begriffen, war es bereits zu spät und eine Flucht unmöglich.

Sibirien

Bis nach Krasnojarsk fuhren sie mit der Eisenbahn, und dann ging es weiter mit dem Raddampfer „W. Majakowskij“. Am 13. Oktober 1945 kamen sie in Krutoj Log an. Einige waren gezwungen, am Ufer zu übernachten, nur mit Decken zugedeckt, die gegen Morgen voller Rauhreif waren. Aber I.Gs Familie hatte Glück: sie konnte in Kargino bei Onkel Wanja schlafen. In diesem Haus lebten sie vier Jahre. In einem Haus lebten hier vier Familien (16 Personen); sie schliefen auf hölzernen Liegestätten. Einen Großteil der Zeit verbrachten sie in Krutoj Log, auf dem 5. Streckenabschnitt, wo sie in der Waldwirtschaft arbeiteten und fast die ganze Woche über lebten, außer an ihren freien Tagen. 1950 ließen sie sich dann auf Dauer in Krutoj Log nieder. Sie arbeiteten von da an im 9. Revier (Streckenabschnitt, 9 km von Kargino entfernt). 1962 bauten sie ihr eigenes Haus. In Krutoj Log lebten sie in ärmlichen verhältnissen, aber in Ruhe und Frieden. Die Türen wurden nie zugesperrt, und sie ließen wildfremde Menschen bei sich übernachten.

Anfangs gab man ihnen jeweils ein zwei Hundertstel großes Grundstück als Gemüsegarten. Mit der Zeit wurde dieser Landanteil größer. Seit dem 14. Lebensjahr arbeitete I.G. in der Waldwirtschaft. Nach und nach gewöhnte sie sich an die neue Lebensweise. I.Gs Mutter war eine eingefleischte Näherin, für das Nähen eines Kleines nahm sie 1,5 Rubel. Später bestellte sie sich aus Podolien eine Nähmaschine (per Warenpost). Der mittlere Bruder fertigte zusammen mit den jüngeren Fischang-Vorrichtungen an, die sie gleichzeitig im See und am Nebenarm des Flusses aufstellten. Von diesem Fang ernährten sie sich.

Irma bekam 600 Gramm Brot pro Tag, die beiden nicht verdienenden Familienmitglieder (Mutter und Bruder) erhielten jeweils 200 Gramm, aber auch nicht immer.

In der Waldwirtschaft fällte I.G. Bäume, schlug kleine Äste ab, zerhackte sie zu Brennholz und arbeitete in der Flößerei. Sie arbeitet aufrichtig und nach bestem Gewissen, wofür sie mehrfach prämiert wurde (braune Seide, ein cremfarbenes Kleid ... aber alles wurde später gegen Lebensmittel eingetauscht).

I.G. hat sechs Kinder, ihre gesamte Familie (mit Enkelkindern, Kindern und Schwiegerkindern) umfaßt mehr als vierzig personen.

I.G. ist redlich bemüht, auf ihr Gewissen zu hören; sie ist sehr religiös. Inzwischen ist sie 77 Jahre alt, ihr Leben lang hat sie nichts anderes, als Arbeit gekannt, und auch heute noch steht sie bei Sonnenaufgang auf und geht erst sehr spät zu Bett. I.Gs Bauernhof sieht mustergültig aus – zum Vorzeigen. Hier wachsen 32 verschiedene Arten Dahlien, Astern und Gladiolen. Sie bringt allen ihre ganze Liebe entgegen – den Menschen, der Erde, den Pflanzen. I.G. ist eine sehr angenehme, ganz reizende Frau.

Die Befragung erfolgte durch Irina Saranowa und Maria Pitschujewa.

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“)
Fünfte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Nowokargino 2008


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