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Verbannungs-/Lagerhaftbericht von Konstantin Karlowitsch Früsorger

Die deutsche Familie FRÜSORGER lebte in dem Dorf GRIMM, im Kanton KAMENSK, in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. In GRIMM gab es mehr als 700 Höfe mit ca. 15000 Einwohnern. Im Dorf stand das große "Rekord"-Werk, in dem Drehmaschinen her-gestellte wurden, eine Weberei sowie eine Filiale der Moskauer Fabrik "Roter Proletarier".

Eines Abends, am Vorabend der Ankündigung der entsprechenden Verordnung, wurden Truppen-Lehrgangsteilnehmer von der Charkower Militär-Fachschule ins Dorf geführt. Sie wurden in der Schule untergebracht. Wozu sie hierher gebracht worden waren, wußten die Kursteilnehmer selber nicht.

Ungefähr am 10. September 1941 wurden von den Kommunisten deportiert:

Die beiden älteren Söhne waren nicht darunter. Karl Karlowitsch FRÜSORGER (1916-1941?) war Lehrer. Er verschwand zu Beginn des Krieges spurlos in der Umgebung von Leningrad.

Alexander Karlowitsch FRÜSORGER (1918-1961), Arzt, wurde im Frühjahr 1941 (s. unten) in die Armee einberufen.

Die Bewohner von GRIMM wurden in Fuhrwerken zur Anlegestelle SOLOTOJE abtrans-portiert, dort auf Lastkähne verfrachtet und die Wolga aufwärts bis zum Anleger UWEK bei SARATOW gebracht. Dort wurden sie von den Kähnen ausgeschifft und in Waggons getrieben. Der Zug fuhr über Tschumkent, Alma-Ata, Nowosibirsk, und Anfang Oktober kamen die Deportierten in Krasnojarsk an. Viele Waggons wurden an der Station Jenissej abgekoppelt, zwei Waggons - auf dem Bahnhof SYKOWO. Dort wurden die Verbannten in Fuhrwerke gesetzt und durch die umliegenden Dörfer nach SYKOWO hinausgefahren.

Die Familie FRÜSORGER gelangte in das Dörfchen DODONOWO, im Kreis SOWJETSK (heute BERJOSOWSK, am rechten Ufer des Jenissej, unterhalb von Krasnojarsk und Berjo-sowka).

Dort wurden die Deportierten auf die einzelnen Bauernhäuser der Ortsbewohner verteilt. Jene waren äußerst überrascht, daß die Deutschen offenbar nicht die ihnen nachgesagten "Hörner" auf dem Kopf trugen. Sehr bald, bereits im November, wurden Karl Karlowitsch, Jakob und Robert vor das Kreis-Militärkomitee (in Berjosowka) gerufen und von dort in die "Trudarmee" geschickt. Wer wußte damals schon, was das war?

Alle drei kamen zum BASSTROJ (Bau der BOGOSLOWSKER Alluminiumfabrik im Gebiet SWERDLOWSK). Der Vater kehrte von dort schon nicht mehr lebend zurück.

Im Sommer 1942 begann man die Deportierten - Frauen und Halbwüchsige - nach Dickson, Dudinka und Chatanga zu schicken. Sie hätten damals auch Konstantin weggeschickt, aber der Vorsitzende der Kolchose überredete die Führung, alle dableiben zu lassen, die mit Stieren umgehen konnten.

Im November 1942 begann man wieder mit den Einweisungen in die "Trudarmee" - nicht mehr in den Norden, sondern zur Erdöl- und Erdgas-Industrie in den Süd-Ural. Dieses Mal verhafteten sie auch Konstantin. Nirgends gab es unterwegs etwas zu essen, und sie fuhren lange. In den Waggons wimmelte es von Läusen. Erst gegen Ende Dezember kam der Zug in BUGURUSLAN (Gebiet TSCHKALOWSK, heute ORENBURG) an. In der Nacht jagte man alle aus den Waggons und brachte sie in verschiedene Richtungen fort.

Die Gruppe, in die Konstantin hineingeriet, wurde in jener Nacht zum Ufer des Flusses KINEL gefahren, wo sich in der Nähe des Dorfes STEPANOWKA, in einem Eichenwald, früher das Militär-Sommerlager "KERTSCH" befunden hatte.

Von dem Lager sind halbunterirdische Strohhütten übriggeblieben - ohne Fußboden und Fenster. Sie dienten damals als Behausung für die dort angekommenen Menschen, zum größten Teil Halbwüchsige. In der kleinen Semljanka (Erdhütte), wo zusammen mit Konstantin noch 15 Jungen der Geburtsjahrgänge 1926-1927 eingepfercht waren, befand sich ein Ofen. Zäune und Wachposten gab es nicht, aber zur Arbeit wurden sie unter Konvoi-Bewachung geführt, die der Kolonne voranschritt. Man brachte sie zum Ausheben von Baugruben für die Erdöl-Reservoirs bei STEPANOWKA.

Besitzer des Bauplatzes war der "BUGURUSLAN-Erdöl-Trust". Es wurden die üblichen technischen Hilfsmittel verwendet: Spaten, Brechstange, Spitzhacke, Schubkarre, Kiepe.

In den Erdhütten wimmelte es von Läusen. Daher wurde gelegentlich n einem Kessel Wasser erhitzt, sodaß durch den Dampf zum Schluß eine fingerdicke Schicht von toten Läusen zurückblieb. Erst zum Frühjahr 1943 wurde im Lager ein Badehaus errichtet, aber bis dahin beschmierte man sich gegen die Läuse mit irgendeiner Salbe.

Ganz am Anfang des Jahres 1943 erkrankte der Nachbar Konstantin aus der Erdhütte an Ruhr und starb; es war sein früherer Klassenkamerad Karl Jakowlewitsch SCHMIDT (geb. 1926).

Im Frühjahr 1943 wurden alle nach BUGURUSLAN verlegt, in Erdbaracken mit durchgehenden dreistöckigen Pritschen, neben den Getreidespeicher. Dort gab es kein Wasser, und die Ruhr breitete sich noch schneller aus. Jeden Tag brachte man etwa 4-5 Erkrankte in die stationäre Krankenabteilung an der Station Buguruslan, und zurück kam fast keiner. Man begrub sie auf dem Friedhof neben dem Flugplatz auf einem Hügel. Oft war es so, daß sich Leute nachts in den Baracken erhängten. Eine der Baracken war für Frauen bestimmt.

Kurz darauf wurden um die Baracken Zäune mit Stacheldraht errichtet, an den Ecken Türme mit Wachposten. Damals setzte sich Andrej Andrejewitsch SCHMIDT, ehemaliger Leiter der Miliz in ENGELS (Autonome Republik der Wolgadeutschen), der im Lager irgendeine leitende Funktion ausübte, mit den Mächten zu Gesprächen in Verbindung. Und es gelang ihm zu bewirken, daß die Wachen und Türme entfernt wurden. Aber die Stacheldraht-Umzäunung blieb so.

Dort, nahe der Station BUGURUSLAN, befand sich noch ein anderes Lager namens ASGASSTROJ. Dort wohnten in halb unterirdischen Hütten ebenfalls deportierte Deutsche. Unter ihnen waren Erdölarbeiter, Spezialisten aus BAKU. Hier arbeiteten die Verbannten in der Erdölförderung, eingesetzt als Schlosser und Bohrarbeiter. Die Frauen hoben hauptsächlich Gräben aus und kamen dafür in die gleiche Leistungsklasse und Lohngruppe wie Erdarbeiter. Zusammen mit den verbannten Deutschen förderten auch freiwillig angestellte Aserbeidschaner in BUGURUSLAN Erdöl. Konstantin arbeitete als Montage-Schlosser.

Später wurden die Deutschen zur Station POCHWISTNEWO, 30 km westlich von BUGURUSLAN, aber schon im Gebiet KUJBYSCHEW, gebracht. Dort arbeitete Konstantin als Traktorist mit der Winde im Autotransport-Kontor des "Kinel-Erdöl" Trustes.

Er reparierte die Bohrsonden beim Herausziehen der Rohre.

In POCHWISTNEWO gründeten die verbannten Deutschen ein Orchester und spielten "Carmen", Tschaikowsky und Strauß. Während der Sommerzeit spielte das Orchester auf dem Tanzplatz Tango und Walzer. Das Orchester bestand aus 22 Musikanten. Unter ihnen war der deutsche Geiger KOLLO aus Leningrad, ein Student des Moskauer Konservatoriums, Edwin FRITZLER, (geb. etwa 1910) und eine Solistin aus dem Astrachaner Theater. Und auf der Piccolo-Dombra spielte Swjatoslaw RICHTER.

In POCHWISTNEWO lebten die verbannten Deutschen in großen Erdbaracken mit Lehm-boden und zweietagigen Pritschen mit durchgehenden Bretterreihen, ungefähr für 200 Leute.

Im Sommer 1945 stellte Konstantin einen Antrag bei der Kommandantur. Er bat darum, ihn an der Kunstschule studieren zu lassen. Im Herbst riefen sie ihn in die Kreisabteilung des NKWD in POCHWISTNEWO. Dort wurde er vom Leiter der Kreis-Miliz SEMENITZKI und dem Leiter der Gebietsmiliz aus Kujbyschew mit Schimpfworten überhäuft:

"Du bist Deutscher, du darfst nicht studieren!" - "Ich bin doch ein Sowjet-Deutscher?" - "Das macht keinen Unterschied! Das ist völlig egal".

SEMENITZKI verprügelte ihn und zwang ihn zu der schriftlichen Erklärung, daß er auf ein Studium verzichten wolle, und dann mußte er unterschreiben, daß er nichts davon erzählen würde, sonst bekäme er 5 Jahre aufgebrummt.

Danach begann Konstantin zu bemerken, daß die Miliz nur auf einen geeigneten Zufall wartete, um ihm den § 58 anzuhängen. Die Erwachsenen gaben ihm den Rat, eine Kleinigkeit zu stehlen, damit er die Frist eines Bytowiki (nicht politischer, kleiner Alltags-gauner) erhielt. Das war die einzige Möglichkeit, den Wohnort zu wechseln.

Konstantin machte es auch so. Man gab ihm 5 Jahre. Anfang 1947 kam er zum 17. Lagerpunkt des WJATLAG. Dort verrichtete er allgemeine (schwere Kolonnen-) Arbeit und arbeitete in der Holzfällerei mit einer kanadischen "Bügelsäge". Tagsüber gab man ihnen dort 600 gr Brot, plus eine "Produktiv-Ration" (Sonderration für Produktionsarbeiter) von 200 gr, und dazu Balanda (wässrige Suppe, die manchmal winzige Stückchen Kohl oder Kartoffeln enthielt). Gegen die Ruhr verabreichte man dort Wachtelweizen-Tee (Zypern-Kraut), gegen Skorbut half Fichtennadel-Sud.

Im WJATLAG konnte Konstantin nicht der Pellagra entrinnen und kam in den zentralen 5. Lagerpunkt, der "Genesungspunkt" genannt wurde. Dort gab man Knochenmark zu essen und 400 gr Brot. In diesem Lagerpunkt wurden Federkästen aus Pappe hergestellt.

Nach der "Gesundung" kam Konstantin zum 15. Lagerpunkt, von wo er mit 50 anderen, die auch eine kurze Haftfrist hatten, in die 10 km von der Zone entfernte Sub-Lager-Außenstelle geschickt wurde, - um dort im Winter Erdhütten zu graben. Dann jagte man ihn zum 20. Lagerpunkt, wo ihn der technische Leiter, Alexander Iwanowitsch KOBER, ein Deutscher aus SAREPTY im Gebiet STALINGRAD (heute WOLGOGRAD), der in der Trudarmee im WJATLAG gesessen hatte und dann "freiwilliger Angestellter" in seiner Lage als Verbannter wurde, in die Holzsammelstelle aufnahm. Der 15. und 17. Lagerpunkt waren während des Krieges Trudarmeezonen.

Der 15., 17. und 20. Lagerpunkt besaßen etwa die gleiche Größe. In jedem von ihnen gab es 15-20 Baracken. Im 17. Lagerpunkt wurden die Pakete von einem Buchverleger aus WIEN, ÖSTERREICH, geöffnet (d.h. die Häftlinge erhielten sie bereits ohne Verpackung). Er war zu einer Verleger-Konferenz geflogen, und das Flugzeug geriet unerwartet nach Moskau, wo der Herausgeber zu einer Haftfrist gemäß § 58 verurteilt wurde.

Konstantin erhielt seine Freilassung Anfang 1952. Vom 5. "zentralen" Lagerpunkt schickten sie ihn mit einem Stolypinwagen (= Eisenbahnwaggons, die für den Transport von Häftlingen eingerichtet waren) auf Etappe nach KRASNOJARSK. Dort saß er einen Monat lang in einer Gemeinschaftszelle (im 1. Stock rechts) des KRASNOJARSKER Gefängnisses. In dieser Zelle saß mit ihm der Volkskommissar für Landwirtschaft der Autonomen Republik der Wogadeutschen, Viktor Jakowlewitsch ETZEL. Er saß 10 Jahre wegen des § 58 und am Ende der Haftzeit wurde er auch nach Krasnojarsk verbannt. Danach schickten sie ihn aus dem Gefängnis an den Verbannungsort - in die Hilfswirtschaft von MAGAN im Kreis SOWJETSK (heute BERJOSOWSK), die an die Kolonien angrenzte. Vermutlich befanden sich dort in der Verbannung seine Verwandten.

Man brachte Konstantin aus dem Gefängnis zur Miliz von Berjosowska und stellte ihn unter "Sonderregistratur", d. h. unter Kommandantur. Zur gleichen Zeit erzwangen sie seine Unterschrift zum Verzicht auf den Besitz, der noch in der Heimat, in Grimm, geblieben war.

Alexander FRÜSORGER geriet im Sommer 1941 bei Kiew in Gefangenschaft.

1945 wurde er "in die Heimat entlassen", ins BRATSKLAG der Taischet-Bauverwaltung ( = Verwaltungszentrum großer Zwangsarbeitslager für Holzaufbereitung; Ausgangspunkt der BAM) der BAM GULSchDS (= Baikal-Amur-Magistrale der Hauptverwaltung der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken) . Offenbar diente das BRATSKLAG ebenfalls als "Filtrationslager" (= Durchgangslager zur Überprüfung Gefangener und deren Verurteikung zu Lagerstrafen). Dort verurteilte man ihn auf Beschluß der Operativ-Stelle vom 02.08.46 zu 6 Jahren Verbannung und schickte ihn nach KOLYMA, zum Lagerpunkt DUSKANJA im Kreis TENKINSK, hinter BUTUGYTSCHAG.

Aus dieser Verbannung "ließen" sie ihn am 03.08.52 "frei" und stellten ihn als Deutschen sofort unter Kommandantur. Er wurde am 14.03.56 freigelassen und blieb mit der Familie in TRANSPORTNY, eben in diesem Kreis TENKINSK. So konnte er auch von dort nicht zu einem festen Wohnsitz fahren.

Für die "zweite" Verbannung wurde er am 28.05.98 vom UWD (Verwaltung für Innere Angelegenheiten) des Gebietes Magadan rehabilitiert.

Seine Ehefrau Valentina Petrowna GUROWA (1920-1993), wurde am 29.01.45 in der Stadt MARIUPOL im Gebiet STALINSK (heute DONEZK) verhaftet. Offenbar war sie verheiratet. Am 12.02.45 wurde sie vom Kriegstribunal des NKWD im Gebiet STALINSKAJA zu 15 Jahren Katorga (KTR = Strafarbeitslager) sowie zu 5 Jahren "Verlust der bürgerlichen Rechte" gemäß § 2 der "Verordnung" vom 19.04.43 verurteilt.

Die Frist bekam sie aufgrund der Beschuldigung "sowjetische Aktivisten an die deutsche Polizei ausgeliefert zu haben". Wahrscheinlich war die Akte derart offenkundig gefälscht, daß das Militärtribunal des NKWD im ukrainischen Verwaltungsbezirk am 13.08.45 den Akten-inhalt umänderte von "Verordnung" in § 54-1 "a" und die Haftdauer von 15 Jahren KTR (= härteste Zwangsarbeit im Straflager) in 10 Jahre ITL (Besserungsarbeitslager).

Ab dem 23.01.46 saß W. GUROWA in KOLYMA ein. Offenbar war sie 1951 bereits unter Konvoibegleitung gestellt. Sie saß im Lagerpunkt DUSKANJA ein. Dort traf sie Andrej FRÜSORGER. Im Dezember 1951 wurde ihre Tochter Ljudmila geboren. W. GUROWA wurde am 17.08.53 aus dem Lager freigelassen.

1961, nach dem Tode Andrej FRÜSORGERS, fuhr sie mit der Tochter von TRANSPORTNY nach Krasnojarsk und ließ sich in Berjosowka nieder.

W. GUROWA wurde am 22.12.93 von der Staatsanwaltschaft des Gebietes DONEZK rehabilitiert (aus Mangel an Beweisen), aber die Rehabilitierung erlebte sie selbst nicht mehr.

14.01.91, aufgezeichnet von W.S. Birger, Krasnojarsk, Gesellschaft "Memorial"

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