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Mitteilung von Valerij Hieronymus Gaag (Haag?)

Valerij Hieronymus Gaag wurde 1955 in Dudinka geboren. Er ist Deutscher.

Mutter: Lydia Jakowlewna Kaiser, Vater: Hieronymus Jakowlewitsch gaag. Der Vater mütterlicherseits nahm an der Revolutionsbewegung teil und war sogar Offizier der Zaren-Armee; später wechselte er zur Division Tschapajews. Dort kämpfte er und starb zu Hause aufgrund einer Verwundung.

Die Eltern lebten nahe der Stadt Engels in einem deutschen Dorf. Bis 1941 gab es dort sieben wolgadeutsche Ortschaften. „1941, als der Krieg ausbrach, wurde beschlossen, sie zu eliminieren. Offenbar war man von der Angst erfasst, die Deutschen könnten plötzlich auf die andere Seite überlaufen. Die Menschen wurden fortgeholt – sie verschleppten meine Eltern in den Hohen Norden. Mama war 14, Papa ebenfalls. Beide wurden 1926 geboren. Sie wurden in den Norden ausgesiedelt, nach Lewinskie Pjeski in der Nähe von Dudinka. Dort kamen sie in eine Sowchose. Sie mussten Fische für die Front fangen, für den Sieg. Später heirateten Vater und Mutter, als sie erwachsen geworden waren. Sie bekamen fünf Söhne. Und so lebten wir im Norden, bis wir groß geworden waren. Dann fingen wir an zu arbeiten; Papa fuhr damals nach Ko(u)rskoje Selo, ganz in der Nähe, und Mama folgte ihm später. Danach – der jüngste Bruder. Praktisch blieben nur der Bruder und ich im Norden. Dann fuhren wir auch“.

Die Haltung gegenüber den Wolgadeutschen war unterschiedlich. Es kam vor, dass man sie beschimpfte und mit den Fingern auf sie zeigte. Sogar noch in den sechziger Jahren „riefen sie uns immer noch „Faschisten““. Ich habe nie verheimlicht, dass ich Deutscher bin, wenn man mich fragte: „Welche Nationalität?“. Dann sagte ich immer: „Deutsch“. Die Kinder waren es, die uns beschimpften. Na, das war einmal, wie es so schön heißt. Heute beschimpfen sie einen nicht mehr. Im Gegenteil – sie schätzen die Deutschen wegen ihres Fleißes, wegen ihrer Hände Arbeit, wegen allem. Aber damals kam alles Mögliche vor. Und wir sollten eine Wohnung bekommen – aber sie gaben uns keine, weil wir Deutsche waren. Offen ins Gesicht sagten sie uns das nicht, aber als Mama vom Gericht kam, da hatte einer der Advokaten geäußert: „Wo mischt sich dieses Deutschenpack denn noch überall ein?

Nach der Abschaffung der Sondersiedlung verließen sie den Norden nicht, weil sie kein Geld dafür besaßen. „Gab es Lohnzahlungen? Mama arbeitete in der Brotbäckerei, 2-3 Schichten, um uns durchzufüttern. Mama sagt, dass sie einem Tagesarbeitseinheiten anrechneten und dafür Fisch-Eingeweide ausgaben, und davon kochten wir Fischsuppe, aber die Fische selber gingen als Bedarf an die Front. Mama erkrankte zweimal an Skorbut; das ist ja auch kein Wunder, wenn man bis zur Taille im eisigen Wasser des Jenisseis steht, um die Netzte herauszuziehen“.

Später kam alles irgendwie zurecht. „Ich habe im Norden gut gelebt und gearbeitet. Und ich hatte eine gute Arbeit. Ich war Schienen-Brigadier bei der Eisenbahn. Sie schätzen und respektierten mich; natürlich erhielt ich Prämien und Ehrenurkunden – in Hülle und Fülle sogar“.

Die Mutter war lutherischen Glaubens, der Vater Katholik.

Bis zu meinem fünften Lebensjahr konnte ich überhaupt kein Russisch. In unserer Familie wurde ausschließlich Deutsch gesprochen. Wegen der Großmutter. Sie sprach kein Russisch. Aber später, nach und nach, durch den Kontakt mit anderen Kindern auf der Straße, ging man zum Russischen über. Und jetzt verstehe ich Deutsch, es ist wie mit einem Hund, aber sprechen kann ich es nicht mehr. Ich schaue mir Filme an und verstehe alles, was sie sagen. Auch wenn es reines Hochdeutsch ist, ich kann es trotzdem verstehen. Und ich merke, wenn sie etwas nicht richtig übersetzen. Ein paar Worte sprechen kann ich noch, aber mich richtig unterhalten… Mama konnte natürlich sprechen und lesen und abonnierte deutsche Zeitungen (Neues Leben). Später lebte Mama allein mit dem jüngsten Bruder, und ich mehr und mehr unter Russen“.

An die Wolga zurückkehren wollen sie nicht. In den sechziger Jahren schlug man den Deutschen vor dorthin zurück zu gehen, ein paar Familien fuhren auch, aber sie kamen später wieder. Sie sagen, dass man ihnen dort Wohnraum geben wollte, wo früher Bomben erprobt wurden. Und diese Stelle, diesen Schießübungsplatz stellten sie den Deutschen zum Bauen zur Verfügung. Diese Familien gingen nicht zurück (Anmerkung: vermutlich unweit des Trotzki-Schießplatzes?).

Die nationalen Traditionen blieben in der Familie erhalten. Die Eltern werden stets mit „Sie“ angeredet. Alles wurde von der Großmutter als Familienältester gelenkt. „Mama, Papa gaben alles, was sie verdienten, bei der Großmama ab, und die gab dann die Anweisungen wer was davon kaufen sollte. Später, als Großmutter wegfuhr, ging alles an die Mama über. Und natürlich kochte Mama lauter deutsche Gerichte, daran kann ich mich erinnern. Krautkleiß (Krautklöße) – da musste man Kartoffeln und Kohl lange mit Fleisch garen, danach stellte sie Hefe-Klößchen her, die wurden oben draufgelegt und dann alles fest in Handtücher eingewickelt. Man musste es ziehen lassen. Oft bereitete sie das zu. Großmutter hielt überhaupt nichts von Nudeln aus dem Laden. Sie stellte den Teig selber her, rollte ihn aus, schnitt ihn in Stücke und trocknete diese. Aber sie wäre niemals auf die Idee gekommen, fertige zu kaufen – nein“.

Weihnachten wurde am 25. Dezember gefeiert, und Ostern auch früher als hier üblich. Und heute feiern sie zweimal. Die Kinder verstehen Deutsch schon nicht mehr.

Zwei Kusinen und ein Bruder reisten nach Deutschland aus. Sie lebten in Kirgisien, unweit von Bischkek. Die Menschen lebten sehr einträchtig miteinander - Russen, Kirgisen, alle. Und dann, als die Perestroika einsetzte, als die Sowjetunion auseinander zu brechen begann, fingen die nationalen Probleme an. Sogar im Hohen Norden der Region Krasnojarsk hieß es, dass wir auf ihrem Land lebten. „Alle reisten ab. Auch mir schickten sie eine Einladung. Aber ich lehnte ab. Hier bin ich – ein deutsches Schwein, dort – ein russisches. Was für einen prinzipiellen Unterschied macht das? Mein Freund fuhr aus der Milch-Sowchose fort und bedauerte es in den ersten Jahren, dass er sie verlassen hatte. Fast jedes Jahrkommt er zu Besuch. Er hat sich immer noch nicht richtig eingelebt. Trotz allem zieht es sie immer wieder nach Russland, sehen Sie – das ist Nostalgie. Er sagt, dass es noch billiger ist nach Italien, Spanien oder irgendwo anders hin in den Urlaub zu reisen, als nach Russland. Nach Russland ist es doppelt so teuer. Aber er fährt“.

Aus der Milch-Sowchose reisten sehr viele nach Deutschland aus, als alles auseinander zu fallen begann; die Kolchosen wurden verkauft, und man ließ alles im Stich. „Fünf Farmen, Rinder, Milch, alles ist unter den Hammer gekommen. Na ja, wer wollte denn anschließend dort noch leben? Das begann schon mit der Revolution; wir zerstören die ganze Welt mit Gewalt und anschließend bauen wir auf unsere Art und Weise eine neue Welt auf! Wie sie es damals zerstörten, so machen wir es auch heute noch! Es gab eine Reparatur- und Bauverwaltung, 2 Sägewerke standen dort. Die trugen sich selber, aber schließlich kamen sie auch unter den Hammer. Wen hat die Butterfabrik gestört? Die Milch gleich nebenan. Heute bringen sie sie ganz nach Schuschenskoje, um die Butter zu schlagen. Ist das vielleicht in Ordnung? Und Süßigkeiten habe sie auch hergestellt, damals, hier stand eine Fabrik. Alles ist mit einem Mal unter den Hammer gekommen, alles wurde verkauft“.

Vieles hängt vom Staat ab. Wenn es der Staat will – nehmen Sie mal Kasachstan. Nasarbajew. Er war klug genug, um deutsche Kolchosen zu schaffen. Er hat in Kasachstan extra eine deutsche Kolchose gegründet. Dort leben ausschließlich Deutsche. Sie arbeiten und stellen den Lebensunterhalt sicher. Bei ihm hat der Verstand dafür merkwürdigerweise ausgereicht. Warum durfte man dasselbe nicht bei uns machen? Nehmen Sie diese Milch-Sowchose. Nur Deutsche lebten hier! Da hätte man gut und gerne... – hätte man! Man hätte solche Bedingungen schaffen können, dass sie in Russland hätten bleiben wollen, um für dieses Land zu arbeiten. Aber sie haben es nicht getan“.

Die Zahl der Deutschen wird weniger, fast alle sind mit Russen verheiratet. „Und meinen Eltern blieb nichts, sie wurden in den Norden verschleppt. In der Kolchose mussten sie Fische beschaffen, es waren alles Deutsche, die dort beim Fischfang arbeiteten. Sie blieben unter sich, nicht zusammen mit den Russen. Und von den Russen wurden sie auch nicht akzeptiert. Und es gab dort damals auch nur ein-zwei Russen, das war’s. Und natürlich mussten sie sich registrieren lassen. Mama sagt, dass sie sich jeden Tag in der Kommandantur melden mussten. Jeden Tag melden, dass du noch dort warst, immer abends – nach der Arbeit. Nach meiner Erinnerung von Dudinka liegt oben die Siedlung, unten befindet sich die Stadt. Also unten wohnten hauptsächlich Russen, soweit ich mich erinnere, als ich in die erste Klasse ging, und oben standen durchgehende Baracken. Und einen Barackenladen gab es, ein Kino-Theater – ebenfalls in einer Baracke, unten in solchen Baracken wohnten auch die Menschen. Das war damals eine verbotene Zone. Und genau dort lebten die Deutschen. Früher, noch bevor ich geboren wurde, befand sich dort sogar ein Stacheldrahtzaun, der die Russen von den Deutschen trennte“.

Ort der Befragung: das Haus der Familie Gaag
Forscherin: Jewgenia Aleksandrowna Franz
Gesamtdauer des Interviews: 30:43 Minuten

Expedition der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität, Krasnojarsk, zum Projekt „Volksgruppen in Sibirien: Bedingungen für den Erhalt der kulturellen Erinnerung“, 2017, Bezirke Karatus und Kuragino


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