Maria Samuilowna Gartung (Mädchenname Golmann) wurde am 14.12.1930 geboren.
Sie lebte in der Ortschaft Solnetschnoje, das in der Nähe der Stadt Engels im
Gebiet Saratow gelegen war.
Das Leben an der Wolga
Der Vater arbeitete in der Bäckerei, während die Mutter den Haushalt führte und
auf die Kinder Acht gab. Insgesamt bekam sie 12 Kinder, von denen jedoch nur
vier überlebten – Samer, Andrej, David und Maria (unsere Gesprächspartnerin).
Die Ortschaft, in der sie lebten, war groß – es gab vier oder fünf Straßen, eine
Kirche, die später zum Klub verwandelt wurde.
„Wir hatten dort ein ziemlich großes Haus, fünf Zimmer; und ein zweites Haus stand innerhalb der Einzäunung, weil die Familie so groß war. Außerdem besaßen wir eine Kuh“. Im Alter von 9 Jahren begann Maria die Kuh zu melken.
Die Kindheit der von uns Befragten währte nicht lange – 1933 verstarb der Vater, er war herzkrank gewesen; und Anfang 1939, als Maria in die erste Klasse ging, verschied auch die Mutter.
Die Hungersnot des Jahres 1933 kennt Maria Gartung nicht nur vom Hörensagen. Die Mutter erzählte ihr, dass sie nur wegen der Kuh überlebten, die ihnen täglich 3 Eimer voll Milch gab.
„Also ich erinnere mich, wie einmal – ich war noch klein, ungefähr vier Jahre alt – die Mama ankam und zu mir sagte: „Wohin gehst Du denn? Dort steht schon eine große Schlange, die Leute werden dich erdrücken“. Aber ich ging trotzdem dorthin; da war so eine Menge Leute, dass sie fast übereinander krochen, schubsten, sich drängten, weil sie solchen Hunger hatten. Irgendein Onkelchen sagt: „Lasst das Mädchen mal durch“. Er nahm mich auf den Arm und sagte zur Verkäuferin: „Gib der Kleinen ihren Anteil“. Dort ging alles nach Listen, aber meinen Nachnamen wusste ich – „Golmann“, und so legte sie mir die Brote in die Tasche und ich rannte außer mir vor Freude nach Hause“. An das Jahr 1937 erinnert sich meine Gesprächspartnerin dann schon ganz allein. Sie hatten so eine reiche Ernte, dass das Korn nicht in die Speicher hineinpasste; oben, auf den Dachboden, wurden etwa 10 Tonnen Getreide geschüttet.
Andrej und seine Frau Katja arbeiteten in der Kolchose. Andrej war Traktorfahrer. Der älteste Bruder Samer war Vorsitzender des Dorfrats. Einmal kam er an und meinte: „Macht euch fertig, wir müssen mit dem Fuhrwerk los, sie werden uns alle von hier wegbringen“. Wir dachten, nur unsere Familie sei betroffen, ich begriff überhaupt nichts, ich war ja erst zehn Jahre alt. Seine Frau fragt: „Nur uns?“. Maria Samuilowna erinnert sich: „In unserer Ortschaft wohnten Leute unterschiedlicher Nationalitäten: Tataren, Ukrainer, Kasachen. Aber nur uns brachten sie weg; sie sagten, dass Hitler Stalin angegriffen hätte. Im Waggonweinten wir alle. Die Nachricht war für uns völlig unerwartet gekommen. Vielleicht hat jemand das auch schon vorher gewusst. Vielleicht hatte auch der Bruder es gewusst, aber niemandem etwas gesagt. Wenn wir wenigstens für unterwegs etwas hätten mitnehmen können. Bei uns buk man große, weiße Kolatschen; die hätte man rechtzeitig zubereiten und für die Fahrt mitnehmen können…“
Lange waren wir unterwegs, bis wir endlich an unserem Bestimmungsort ankamen: in „Kälber“-Waggons, mit Pferden… Unsere Familienmitglieder wurden an verschiedenen Orten untergebracht: die Ehefrau und der leibliche Bruder kamen in die Ortschaft Troitzkoje im Pirowsker Bezirk und wir – in die Ortschaft Bjelskoje, im selben Bezirk gelegen. Wir und noch eine weitere deutsche Familie kamen in ein großes, leerstehendes Haus. Nichts gab es dort: keine Möbel, keinen Eisenofen…
Die Brüder wurden in die Arbeitsarmee geschickt. Zwei Brüder kamen dort ums Leben. Samer starb 1944, Andrej 1945. In der Arbeitsarmee hatten sie im Wald gearbeitet, mit der Hand Holz zersägt. Zu essen gab es dort nichts, sie hungerten und froren. Ihre Arbeit wurde noch nicht einmal bezahlt.
„Als ich in Tschelnoki lebte, holten sie die Frauen auch in die Arbeitsarmee, in die Ziegelfabrik; es interessierte sie nicht, ob du dazu in der Lage warst oder nicht.
Der Kindergarten im Kasatschinsker Bezirk. Quelle – Krasnojarsk – Berlin.
1941-1945. 2009
Fast sofort nachdem sie Samer und Andrej fortgeholt hatten, starb Andrejs Frau, und wir blieben allein zurück: David, ich und der kleine Wanjuscha, der ganz rote Wangen hatte, weil er an einer Diathese litt. Mich und Wanjuschka steckten sie ins Kinderheim, David weigerte sich“. Es fällt schwer zu glauben, aber dieses Jungchen (er war 13 oder 14 Jahre alt) lebte von dem, was er sich durch irgendeine Arbeit verdiente oder von einem Stückchen Brot, welches er irgendwo erbettelte. Maria und die anderen Kinder kamen ins Dudowsker Kinderheim.
Gesondert möchte sie vom Schicksal des kleinen Wanjetschka berichten. Iwan Samoilowitsch Goltmann „verlor“ zwei Jahre seines Lebens, wie die von uns Befragte as ausdrückt. Als man sie vom Kasatschinsker Kinderheim ins Dudowsker schickte, blieb Wanjuschka im Kasatschinsker. M.S. hat verschiedene Vermutungen. Möglicherweise starb er (er war sehr krank und schwach); vielleicht adoptierte ihn auch eine kinderlose Mitarbeiterin des Heims (M.S. hatte mit ihr über den Bruder gesprochen)… Aber wie dem auch sei, das Schicksal des kleinen Wanjetschka ist ihr bis heute nicht bekannt.
M.S. erinnert sich an ihren Aufenthalt im Dudowsker Kinderheim:
Das Kinderheim im Kasatschinsker Bezirk.
Quelle: Krasnojarsk – Berlin. 1941-1945. 2009
„In Sibirien herrschten Hunger und Kälte; wie sie überhaupt überleben konnten, ist mir ein Rätsel. Meine Tante hatte mir noch vor der Umsiedlung ein hübsches Kleid genäht. Und als ich im Kinderheim lebte, schüttete ein Junge mir Tante darüber. Ich schrie furchtbar laut, so dass die Erwachsenen dachten, ihnen müsste das Herz stehen bleiben.
Der Direktor des Kinderheims hieß Wassilij Iwanowitsch, er hatte zwei Mädchen. Seine Frau, Maria Iwanowna, arbeitete ebenfalls im Kinderheim, als Lehrerin (Red.: wahrscheinlich als Erzieherin). Manchmal brachte sie ihre beiden Töchter mich. Und die schlossen sich mir an, setzen sich neben mich und sitzen und sitzen und sehen zu, wie ich esse. Wassilij Iwanowitsch hatte mich als Kindermädchen für die beiden auserkoren; er sagt: „Komm mit zu uns, die Mädchen möchten mit dir spielen“. Wir schrieben mit Bleistiften, später mit Federhaltern. Wir schrieben auf dem Fußboden, denn der war warm. „Malt zusammen“, - meinte er. Ich malte, aber die Mädchen machten bloß Striche auf ihrem Blatt Papier.
Der Kinderheim-Direktor hatte nichts dagegen, dass wir uns in unserer Sprache unterhielten. Er sagte, dass wir Russisch lernen sollten, aber deswegen unsere Muttersprache nicht vergessen müssten.
Man wollte immer nur essen, und ich fing an zu den Leuten zu gehen. In Dudowka gab es viele Kiner unterschiedlicher Nationalitäten: Tataren, Kasachen. Wenn sie mit mir sprachen, lächelte ich nur, denn ich verstand nicht, was sie sagten. Die Kindermeinten, ich solle mich hinsetzen, so lange ihre Eltern nicht da waren. Als die Eltern nach Hause kamen, erzählten die Kinder, dass ich herumging, um ein paar Bissen zu sammeln, weil ich keine Mama, keinen Papa hätte. Mit der Zeit lernte ich Russisch, Tschuwaschisch und später auch Tatarisch zu verstehen“. Im Kinderheim lebte M.S. etwa vier Jahre, dann holte Bruder David sie ab und brachte sie nach Aleksandrowka. Der Direktor des Heims riet ihm ab; er meinte, ich solle dort bleiben, dann hätte ich es später leichter irgendwo angenommen zu werden. Aber David beharrte auf seiner Absicht, und so kamen wir nach Aleksandrowka. Wir lebten mit anderen Umsiedlern zusammen in einem Haus. Jeden Tag standen jedem von uns 500 g Hafermehl zu – das war unsere Ration. Zu der Zeit ging ich zum Arbeiten in die Kolchose, transportierte Wasser mit einem Ochsen. Der war unfolgsam, richtete immer nur Schaden an, und ich war doch noch klein und konnte mit ihm nicht umgehen. Da konntest du weinen, so viel du wolltest“. David ging zum Brigadeführer und erzählte ihm von meinem Kummer. Und schon bald darauf versetzten sie mich zur Farm, und ich hütete dort die Ferkel, die von der Mutter schon entwöhnt waren, säuberte und fütterte sie. Eine schwere Arbeit war das.
Das Sonder-Regime wurde 1956 abgeschafft. Das Leben änderte sich kaum, es blieb, wie es war.
Irgendwann in den sechziger Jahren erlaubte man uns zurück zu kehren, allerdings nicht nach Hause. Auf unser Haus erhoben wir auch keinen Anspruch, wenn dort inzwischen andere Leute wohnten. Unser Haus steht immer noch, und es ist bewohnt. Später entschädigten sie uns für unser Haus – 8000 Rubel gaben sie uns, das war damals viel Geld.
Es gab eine Kommandantur, dort gingen die Leute hin, um sich regelmäßig zu melden. Alle Arbeitsfähigen taten das. Ich war noch klein, aber die Kommandanten trugen Pistolen bei sich, zwangen die Menschen zu unterschreiben, dass sie nicht eigenmächtig abhauten – aber wohin sollten sie denn schon fliehen. Aber am Ende waren sie gar nicht so böse.
Die Leute verhielten sich ganz unterschiedlich. Als ich herangewachsen war, galt ich bereits als Russin. Sie verhielten sich uns gegenüber gut – das kann man wohl sagen.
Niemand wurde als Faschist beschimpft; nur als ich noch klein war, machten sie Witze „du bist genauso eine Faschistin wie ich“.
Als Stalin starb, versammelten sich alle im Kontor, dort gab es das einzige Radio. Manch einem machte das schwer zu schaffen, andere meinten, endlich, endlich sei er krepiert.
Ich begriff nicht, ob es notwendig gewesen war uns umzusiedeln oder nicht, denn ich war noch zu klein. Ich verstand auch nicht, weshalb sie ausschließlich Deutsche umgesiedelt hatten, nicht aber Kasachen und Tataren.
Wäre ich noch jung gewesen, wäre ich in die Heimat zurückgekehrt. Ich kann
nur wenig Deutsch, habe vieles vergessen. Der Ehemann war Deutscher, die
Schwiegermutter war Deutsche (Red.: Maria Samoilowna Gartungs Leben verlief
nicht so glatt: sie hatte kein gutes Verhältnis zur Schwiegermutter, sie hatte
nicht den idealen Ehemann und konnte kein einziges Kind austragen. Heute steht
M.S. unter der Vormundschaft von Davids Sohn. Und das ist gut.)
Ausweis der Befragten:
Gartung, Maria Samoilowna
14.12.1930
Ortschaft Galanino
Das Interview wurde am 15.07.2016 aufgezeichnet von Darja Samoilowa und
Jekaterina Gerassimowa.
Die Fotos stammen von der Website
HTTPS://my.krskstate.ru/docs/greatwar/deportatsiya-sovetskikh-nemtsev/
11. volkskundlich-historische-ethnografische Forschungsreise des Pädagogischen Colleges in Jenisseisk