Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Bericht von Jekaterina Augustowna Gartwich/Hartwig (Staitz/Steitz)

Jekaterina Augustowna Gartwich/Hartwig (Staitz/Steitz), geb. am 04.08.1936.

Aufzeichnung der Unterhaltung vom 04.07.2016 in der Ortschaft Sagaiskoje, Bezirk Karatus, Region Krasnojarsk in Jekaterina Augustownas Haus.

Wie Jekaterina Augustowna sich erinnert, wurde sie im Dorf Skatowka, Gebiet Saratow geboren. Ihre Eltern (August Genrichowitsch, geb. 1910, und Jelisaweta Genrichowna, geb. 1912) sowie ihre drei Töchter wurden im September 1941 in den Bezirk Karatus Region Krasnojarsk, deportiert. Die von uns Befragte war das älteste Kind in der Familie. Zwei weitere Kinder wurden in Sibirien geboren (1950 Viktor und 1953 Mascha). In den Bezirk Karatus gerieten auch Verwandte der Familie – hierhin siedelte man aus Skatowka auch den Bruder des Vaters mit seiner Familie um.

An die Lebensperiode an der Wolga kann sich unsere Interview-Partnerin aufgrund ihres damaligen Alters nur schwach erinnern. Bruchstückhaft sieht sie noch das Haus und den kleinen Hof an der Wolga vor ihren Augen; und eine Kuh hatten sie auch besessen. In der Familie erinnerte man sich noch gut an den Tag der Aussiedlung – zum Packen gab man ihnen nicht mehr als 24 Stunden Zeit. In völlig überfüllten Viehwaggons fuhren sie nach Sibirien. Ob und was man der Familie bei der Neuansiedlung in Sibirien zur Verfügung stellte, weiß Jekaterina Augustowna nicht mehr.

Im Verlauf des Interviews stellte sich heraus, dass man ihre Familie bei Ortsansässigen unterbrachte, denn es gab keine andere freie Wohnung; „Oder du kannst auf der Straße leben“.

In den Kriegsjahren wurden ihr Vater und ihr Bruder in die Arbeitsarmee einberufen, allerdings vermochte sie nicht zu sagen, wohin man sie brachte und wann; vermutlich waren sie aber im bekannten Lager Y-235 an der Bahnstation Reschoty und im Gebiet Swerdlowsk. Die Eltern sagten später, dass die Kinder Einzelheiten über die Arbeitsarmee nicht unbedingt wissen müssten. Ihre Erinnerungen beziehen sich eher auf die Nachkriegszeit.

Einige Zeit nach der Umsiedlung geriet die Familie zu den Goldgruben in Wjerchnij Amyl. Dort gelang es ihnen eine Kuh zu erwerben, aber den „Stall“ mussten sie erst aus dem Schnee herausgraben und dann mit Birkenstämmen eine Einzäunung bauen. Anfangs erledigte Jekaterina Augustowna Hilfsarbeiten in der Bäckerei (sie räumte die Formen um, fette sie ein, wischte den Boden auf), später arbeitete sie im Bergbau. Als die Mine geschlossen wurde, zog die Familie nach Sagaiskoje, wo sie eine kleine Hütte kauften. Der Vater arbeitete in der Kolchose – er transportierte Wasser und Schnaps mit Pferden. Die Mutter war bei der Tabak-Ernte beschäftigt. Dort fand auch Jekaterina Augustowna bei ihrer Ankunft in Sagaiskoke Arbeit: „Wir legten den Tabak in Schichten zusammen, hängten ihn auf und lieferten ihn ab“. Und danach arbeitete sie viele Jahre als Melkerin und ging 1991 in Rente.

In Sagaiskoje lebten die Eltern sich ein: sie hielten eine Kuh, Geflügel (Hühner, Gänse) sowie ein Schäfchen.

1959heiratete Jekaterina Augustowna den Deutschen Daniel Davidowitsch Gartwich (Hartwig). Zu der Zeit hatte sie bereits eine kleine Tochter namens Emma, aber Jekaterina Augustownas Eltern und die Großmutter waren gegen eine Heirat mit dem Vater des Kindes: sie wollten auf jeden Fall einen Deutschen zum Schwiegersohn haben. In die Ehe mit Daniel Davidowitsch willigten sie gern ein. Aus dieser Ehe gingen Sohn Andrej und Tochter Anna hervor. Im Übrigen hat in der Familie Staitz nur die jüngste Tochter Maria einen russischen Burschen geheiratet, die anderen wählten sich alle einen Partner aus Kreisen der Deutschen.

Jekaterina Augustowna lebte 50 Jahre mit ihrem Ehemann zusammen. Ihre Kinder haben Familien und leben mit russischen Ehegatten zusammen. Lediglich die älteste Tochter Emma heiratete einen Deutschen.

Jekaterina Augustownas Eltern waren nicht gläubig. Aber die Großmutter wahrte die lutherischen religiösen Traditionen. Sie betete Zuhause. Häufig traf sie an Sonntagen mit anderen deutschen Umsiedlern in einem der Häuser zusammen („Vsomlong“; Versammlung; Anm. d. Übers.). Dort sangen sie Volkslieder, strickten, lasen in den Gebetsbüchern. Ein zutiefst gläubiger Mensch war auch Jekaterina Augustownas Schwiegermutter, die ebenfalls zu Beginn des Krieges mit ihren Kindern aus dem Wolgagebiet ausgesiedelt wurde. Mit der Hand schrieb sie religiöse Texte („Ksonpuch“; Gesangsbuch; Anm. d. Übers.) in Schreibhefte ab, die sie anschließend häufig durchlas. Die Schwiegermutter bat inständig darum, sie, entgegen der existierenden deutschen Tradition („Das göttliche Wort darf man nicht in der Erde vergraben“), zusammen mit ihren Heften zu beerdigen. Sie war der Meinung, dass „Gottes Wort“ für die Nachfahren, die die religiösen Bräuche nicht einhielten, keinen Wert haben würde.

Für den Erhalt der deutschen Traditionen spielte gerade die ältere Generation eine bedeutende Rolle. So blieb Jekaterina Augustownas Großmutter lange Zeit die wichtigste Trägerin der deutschen Sprache in der Familie. Die Eltern lernten schnell Russisch, und es verdrängte die Muttersprache im häuslichen Umgang miteinander; die Großmutter sprach hingegen schlecht Russisch und benutzte im Umgang mit Kindern und Enkelkindern die deutsche Sprache. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass sie sich auch noch eine gewisse Zeit in der Muttersprache verständigen konnten. Der Großmutter war es gelungen, von der Wolga ein paar religiöse Bücher mitzubringen, die sie sorgsam hütete.

Jekaterina Augustowna erinnert sich, dass das Verhältnis zu den Ortsansässigen sich normal gestaltete: „Sie beleidigten uns nicht“, „Wir arbeiteten zusammen“. Es gab Freundschaften zwischen Russen und Deutschen.

Großmutter und Mutter bereiteten oft deutsche Gerichte zu: Strudel, Kuchen, Kartoffelsuppe, süße Suppe aus Buttermilch. Auch Jekaterina Augustowna kochte diese Gerichte gern und brachte es auch ihren Kindern bei. Viele Ortsbewohner übernahmen die Rezepte für die leckeren deutschen Speisen und kochen sie, wie sie selber zugeben „ein wenig auf russische Art“, aber mit dem Hinweis auf ihren deutschen Ursprung.

Einige von Jekaterina Augustownas Angehörigen reisten Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland aus, aber sie sind mit dem Leben in ihrer historischen Heimat nicht besonders zufrieden. Sie gestehen ein, dass in Sibirien „sogar die Luft eine ganz andere ist“ – besser und freier. Jekaterina Augustowna selber hat eine Ausreise nach Deutschland nie in Betracht gezogen: „Ich habe mich hier doch eingelebt, und hier werde ich auch sterben“. Und die Kinder haben ihr Leben hier eingereichtet und wollen auch nicht wegfahren. „Wir haben uns hier an alles gewöhnt“.

Trotz ihres reifen Alters hat Jekaterina Augustowna sich ihrem munteren Geist und Optimismus bewahrt. Sie hält den Karatussker Boden für den Ihren, den ihrer Kinder und Enkel.


Jekaterina Augustowna mit Mann und Kindern (1970er Jahre)


Hochzeit von Tochter Emma (1970er Jahre)


Jekaterina Augustowna mit Verwandten

Das Interview wurde geführt von Jekaterina Sberowskaja.

Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).


Zum Seitenanfang