Amalia Augustowna, geb. 1936.
Emalia Augustownas Familie wurde im Herbst 1941 aus dem Wolgagebiet nach Sibirien verschleppt. Ihre Eltern – August Filippowitsch und Maria Iwanowna Adolf – zogen zu der Zeit acht Kinder groß. Der Vater war Veterinär. Die gesamte Familie Adolf geriet im Oktober 1941 in den Bezirk Karatus, Region Krasnojarsk, in die Siedlung Aleksandrowka.
Die Deutschen aus den Wolgadörfern wurden mit einem Schiff transportiert. Emalia Augustowna sagt, dass der Vater für die Unterbringung der Menschen auf dem Schiff verantwortlich war; er gab der Mutter Anweisung, nicht allzu viele Sachen für die Fahrt mitzunehmen, damit das Schiff nicht überladen würde. „Die Schreie und das Gebrüll am Ufer der Wolga waren – für den Verstand unbegreiflich“.
Emalia Augustowna erinnert sich: „Sie brachten uns in die entlegene Taiga. Sechs deutsche Familien warfen sie „wie junge Hunde“ irgendwohin und sagten dann – lebt, wie ihr wollt“. Ob es sich um Verwandte der Familie Adolf handelte, weiß Emalia Augustowna nicht mehr, aber in den Bezirk Karatus gerieten im Herbst 1941 auch die Schwester der Mutter – Rosa – mit ihren Kindern, sowie der Bruder des Vaters – Philipp. Die große Familie wurde in einer Baracke untergebracht. Sie schliefen auf Stroh, und bald darauf brachen Läuse und alle möglichen anderen Unsauberkeiten aus. Die Mutter erkrankte praktisch sofort, offensichtlich hatte sie eine schwere Erschütterung aufgrund der Umsiedlung erfahren. Sie betete häufig nach den Worten der Bibel, die sie von der Wolga mitgebracht hatte. Die Kinder verstanden die Bedeutung des Buches kaum, sie spielten lieber damit. In Sibirien lebte die Mutter nicht mehr lange, sie starb im Alter von 54 Jahren.
Den Vater, den ältesten Bruder Sascha (damals ungefähr 17 Jahre alt) und die fünfzehnjährige Schwester Irma holten sie im Winter 1942 in die Arbeitsarmee. In die Arbeitsarmee holten sie auch den Bruder des Vaters – Philipp. Nach Emalia Augustownas Worten überlebte der Vater wie durch ein Wunder die Arbeitsarmee (vermutlich weil es ihm gelang, Arbeit in der Küche zu finden); er kehrte nach Hause zurück, aber der ältere Bruder kam dort ums Leben.
Da der Ernährer fehlte, litten die fünf Kinder „schrecklichen Hunger“. Die sechsjährige Emalia ging mit dem jüngeren Bruder Edik los und bettelte um Almosen. «Das Täschchen über die Schulter gehängt und dann los!“ – „Du kommst rein, manchmal geben sie dir was, manchmal nicht, und einige lassen dich noch nicht einmal durch die Gartenpforte“. In dem unweit gelegenen Dorf Kurjaty lebten viele Ukrainer. „Das waren gute Menschen. Wenn sie nicht gewesen wären, - erinnert sich Emalia Augustowna – dann hätten wir viele schon im ersten Jahr beerdigt… Menschen haben uns gerettet. Sie haben uns gerettet: sie haben für die kranke Mama, na ja. Und auch für uns, Essen gebracht. Viel war es nicht. Aber so viel sie konnten haben sie uns gebracht. Jeder von ihnen hatte schließlich auch seine eigene Familie“.
Ganz besonders kann sich Emalia Augustowna noch an einen Vorfall mit Pelmeni (kleine gefüllte Teigtaschen; Anm. d. Übers.) erinnern. Einmal bekam die kleine Emalia in einem der Häuser eine solche Teigtasche geschenkt. Was das ist, wusste sie nicht, so etwas hatte sie zuvor noch nie gesehen. Das Lebensmittel in der Hand fest zusammengedrückt beschloss sie, dass sie es genauer betrachten wollte, sobald sie mit dem Bruder wieder zur Gartenpforte hinaus war. In dem Augenblick näherte sich ein Hund, schnappte sich die Teigtasche und… „Wir konnten nicht mehr sehen, was man uns da eigentlich gegeben hatte“.
Als sie ein wenig größer geworden waren, fingen sie an in der Kolchose zu arbeiten: sie trieben das Vieh zum Weideplatz. Emalia Augustowna erinnert sich, dass ihr wichtigster Gefährte in der Kindheit und während des Mädchenalters der Hunger war. Wenn der Brigadeführer es einem erlaubte, auf der Weide die Kühe zu melken, dann konnte man wenigstens ein bisschen Milch trinken, aber Brot gab es nicht.
In Karatus schloss Emalia Augustowna die 7. Klasse ab. In der Schule wurden die Brüder mehr beleidigt als sie. Nachdem sie erwachsen geworden war, ging Emalia Augustowna in ein Dorf in der Nähe von Minussinsk und heiratete dort. Aber ein gemeinsames Leben kam nicht zu Stande, und nach vier Jahren wurde sie von ihrem Ehemann geschieden. Anschließend machte sie eine Ausbildung zur Fotografin. Das Wichtigste in ihrem Leben ist für sie die Erziehung des Sohnes, der als Ober-Ingenieur in einem der Karatusker Unternehmen tätig ist.
An die deutsche Sprache erinnert sich Emalia Augustowna kaum noch. Sie sagt: „Ich verstehe auch heute noch alles, aber ich habe die Worte vergessen, um die Sprache selber noch zu sprechen“. Allerdings liest sie deutsche Gebete, wie die Mutter es ihr beibrachte (zu Hause sprachen die Eltern Deutsch). Dafür bereitet Emalia Augustowna mit Vorliebe deutsche Gerichte zu – Kuchen, Strudel, süße Suppe – und das hat sie auch ihrer Enkelin beigebracht.
Emalia Augustowna sagt, dass sie bis heute die ungerechte Haltung ihr, einer Deutschen, gegenüber empfindet. Als sie in die orthodoxe Kirche ging meinte der Geistliche, nachdem er erfahren hatte, welcher Nationalität sie war, dass Deutsche nicht hierher kommen brauchten.
In Karatuskoje gab es in den letzten Jahren mehrfach Begegnungen mit Deutschen aus Deutschland, die bei ortsansässigen Deutschen zu Besuch waren, u.a. auch bei Emalia Augustowna. Daran, dass sie auch in ihre historische Heimat Deutschland ausreisen könnte, hat unsere Gesprächspartnerin nie gedacht. „Ich weiß ja nicht, wie es dort ist und wozu ich dann dorthin fahren soll“.
Das Interview wurde geführt von Jelena Sberowskaja.
Siedlung Karatuskoje, 07.07.2016
Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).