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Mitteilung von Anna Georgiewna Ilina

Anna Georgiewna Ilhina wurde 1950 in der Ortschaft Taskino, Bezirk Karatus, Region Krasnojarsk geboren; sie ist Deutsche.
Vater: Georgij Georgiewitsch Stumpf, geb. 1919, ihre Mutter: Jekaterina (Katharina) Stumpf, deren Vater – Georgij Michailowitsch.

Sie lebten in einer Ortschaft der ASSR der Wolgadeutschen. Sie besaßen ein Haus, einen großen Haushalt mit insgesamt 11 Personen, einschließlich Schwägerinnen. Es gab dort viele Pferde und mehrere Kühe. Der Hof gehörte ihnen.

1941 deportierte man sie nach Sibirien. Sie wurden mit Zügen fortgebracht: nachts fuhren sie, tagsüber standen sie still. Unterwegs ging der Bruder verloren. Als sie ankamen, kündigte man eine Durchsuchung an, aber es wurde nichts gefunden. Die Kinder, außer Georgij waren Anna, Ella, Iwan und Ella.

Man brachte sie in den Bezirk Karatus und quartierte sie in den Häusern dortiger Einwohner ein. Alles, was sie mit ihren Händen tragen konnten, hatten sie mitgenommen. Alle lebten hier in großer Armut und waren nicht sonderlich zufrieden. Sie hatten nicht einmal selber genug zu essen, und dann wurden auch noch so viele Menschen angesiedelt. Der älteste Bruder wurde geboren; es gab für ihn nichts zu essen; da zerkaute die Großmutter Brot, gab es in ein Mull-Tuch, steckte es ihm in den Mund, und er fing an daran zu nuckeln.

Georgij Georgiewitsch arbeitete bei der Post, aber da er schlecht Russisch sprach und viele Fehler machte, musste er den Posten verlassen und arbeitete danach sein Leben lang in einer Tischlerei. Alle Möbel im Haus fertigte er selber an: den Diwan, die Beistelltischchen.

Er wurde in die Arbeitsarmee mobilisiert, dort tischlerte er ebenfalls. Als er zurückkehrte, heiratete er eine Russin; sie haben vier Kinder. Die Eltern des Vaters hatten nichts gegen die Heirat mit einer russischen Frau.

Die Großeltern sprachen untereinander Deutsch, die Mutter (Russin) lernte Deutsch zu verstehen, konnte es jedoch nicht sprechen.

Sie bereiteten deutsche Gerichte zu: Kreppel, Suppe mit Klößchen, Strudel. Anna Georgiewna weiß ebenfalls, wie man all diese Sachen macht.

„Sie sind alle sehr reinlich, alle Deutschen! An Sonntagen haben sie nie gearbeitet. Sie kamen zusammen; heute, beispielsweise, kommen die schon betagten Deutschen zum Beten zu uns; am kommenden Sonntag sind wir bei den Funkners und werden dort zusammen beten. Oma kocht an dem Tag etwas Festliches. Sie trinken keinen Tee, aber es geht feierlich zu. Die Großeltern leben schon nicht mehr, aber Mama und Papa haben an den Sonntagen auch nicht gearbeitet, sondern gingen auf Besuch“.

Die Schwester des Vaters reiste nach Deutschland aus. Sie führte dort ein schönes Leben. Zuerst fuhr ihre Tochter Mascha, aber sie sprach gut Deutsch und brachte es auch den Kindern bei. Sie gerieten an einen schönen Ort. „Wo du auch hinkommst! Irgendwo nimmt man dich gut auf. Andere werden schlecht empfangen und kehren später zurück“.

Die, die aus Russland ausgewandert sind, kommen dort zusammen und gehen gemeinsam in die Kirche. Es gab den Wunsch, ins Wolgagebiet zurückzukehren, aber eine ständige Heimkehr war ihnen verboten, und nur für eine Reise dorthin reichte das Geld nicht.

Die Mutter (Russin) war eine Altgläubige, sie entstammte einer Familie von Altgläubigen. Der Vater war Lutheraner, und beide Glaubensrichtungen haben sich in er Familie gut miteinander vertragen. Sie beteten einzeln, die Kinder wurden teils nach der Religion der Altgläubigen, teils nach der lutherischen getauft. Anna Georgiewnas Kinder wurden in den 1970er Jahren auf deutsche Art getauft. Obwohl Anna Georgiewna altgläubig getauft ist, bekreuzigt sie sich nach lutherischer Art.

Ostern feiern sie nach deutschem Brauch. „Na ja, ich backe etwas, bemale Eier, verstecke sie, damit die Kindchen morgens früh aufstehen und sie suchen. So hat unsere Großmutter es mit uns auch gehalten. Ich weiß nicht mehr genau, in welcher Klasse ich ging, aber ich glaubte ganz fest daran, dass der Osterhase die Eier brachte. Heute wissen die Kinder natürlich, wo sie wirklich herkommen; du kannst sie nicht beschwindeln, aber wir haben lange daran geglaubt. Großmama hat uns immer neue Kattun-Kleider genäht - und den Jungs Hemden und Hosen. Wir gehen alle in neuer Kleidung. Jeder trägt, was er kann, und dann machen wir zusammen einen Ausflug auf den Berg und feiern. Wir haben Eier mit und eine große Familien-Bratpfanne; wir entfachen ein Lagerfeuer, rösten auf Ziegelsteinen Kartoffeln“.

Dabei haben damals nur die deutschen Kinder gefeiert, obwohl sie mit den russischen gut befreundet waren. Hochzeiten und Trauerfeiern verlaufen bei allen beinahe einheitlich – sowohl bei den Deutschen, als auch bei den Russen. Wenn sie einen Deutschen beerdigten, beteten und sangen sie auf Deutsch, und dann fassten sich alle bei den Händen – gingen um das Grab und sprachen Gebete. Die Kreuze sind ebenfalls gleich, nur stehen sie bei den Russen am Fußende, bei den Deutschen an der Kopfseite. „Da liegen sie also und schauen einander an“.

Die Kinder tragen russische Vornamen.

In den 1990er Jahren fing man mit der Gründung nationaler Gesellschaften an, der Vater reiste nach Krasnojarsk zur Versammlung der deutschen Gesellschaft.

Interview-Ort: das Haus der Familie Ilin
Interview:
1. Jelena Leonidowna Sberowskaja
2. Maria Viktorowna Konstantinowa
3. Jewgenia Aleksandrowna Franz
Gesamtdauer des Interviews: 35.05 Minuten

Expedition der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität, Krasnojarsk, zum Projekt „Volksgruppen in Sibirien: Bedingungen für den Erhalt der kulturellen Erinnerung“, 2017, Bezirke Karatus und Kuragino


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