Maria Augustowna Isakowa, geb. 1953.
Maria Augustowna erblickte in der Familie der deutschen Umsiedler August Genrichowitsch (geb. 1910) und Jelisaweta (Elisabeth) Genrichowna Stainz (geb. 1912) das Licht der Welt. Sie war das jüngste unter den insgesamt fünf Kindern, von denen drei noch vor der Aussiedlung in der ASSR der Wolgadeutschen geboren waren, zwei weitere, darunter auch Maria, bereits in Sibirien, als die Familie im Bezirk Karatus lebte und an der Wjerchneamylsker Mine arbeitete.
Die Lebenszeit an der Wolga erlebte sie nicht mit, aber sie konnte interessante Fakten über das Leben der Familie in dem sibirischen Dorf Sagaiskoje erzählen, wo die von uns Befragte bis heute wohnt.
Die Kindheit nahe der Mine kann Maria Augustowna nur schwach erinnern. Sie sagt, dass sie in Baracken untergebracht waren und um sie herum - nichts als Taiga. 1956 zog die Familie Stainz aus Wjerchnij Amyl zuerst in das Dorf Wjerchnij Kuschebar, später nach Sagaiskoje, wo zu der damaligen Zeit die Schwester der Mutter wohnte. Hier kauften sie dann schon ein Haus. Das Jahr 1956 ist der Familie auch dadurch in der Erinnerung geblieben, das sie sich nun nicht mehr regelmäßig in der Kommandantur melden mussten.
Die älteren Schwestern berichteten, dass sie in den 1940er Jahren am Hungertuch nagten: „Wir gingen über die Felder, um heruntergefallene Ähren zu sammeln“. Allerdings lebten alle schlecht, und die Familie Stainz bildete hier keine Ausnahme. In Sibirien lernten die Mitglieder der Familie Stainz andere Deutsche kennen, ebensolche wie sie, die aus verschiedenen Wolgadörfern verschleppt worden waren. Ein Teil der Verwandten ging zunächst verloren und wurden erst nach vielen Jahren – das war bereits in den 1950ern - von den Eltern in anderen Bezirken der Region Krasnojarsk ausfindig gemacht.
Maria Augustowna erinnert sich, dass Großmutter Jelisaweta (Elisabeth) Genrichowna – die Mutter des Vaters – bei der Erziehung der Kinder innerhalb der Familie Stainz eine große Rolle spielte. Sie half nicht nur beim Großziehen der kleinen Kinder, sondern brachte ihnen auch ihre Muttersprache, die deutsche Sprache, bei. Unsere Interviewpartnerin spricht auch heute noch Deutsch und ist der Großmutter für die „häuslichen Unterrichtsstunden“ in vielerlei Hinsicht dankbar. „Mit Großmama sprachen wir nur Deutsch, sie verstand kein Wort Russisch. Sie starb 1969, da war sie 85 Jahre alt. Und Ihr Russisch? Kein einziges Wort hatte sie bis dahin gelernt… Sie sagte immer zu uns, dass wir unsere eigene Sprache nicht vergessen sollten.“ Wie Maria Augustowna anmerkt, sprechen sie in Deutschland heute anders, „nicht so wie wir, aber ich kann viele deutsche Wörter verstehen, aber als wir von der Wolga kamen und uns dort unterhielten, da habe ich alles verstanden“.
Die erwachsenen Deutschen kamen an den Sonntagen bei der Schwiegermutter der ältesten Schwester unserer Interviewpartnerin zusammen – bei Anna Gartwich (Hartwig). Sie las aus Kirchenbüchern, die Bibel vor, und sie sangen deutsche Lieder. Sie besaß als einzige im Dorf ein Buch mit heiligen Texten – das „Ksonbuch“ (Gesangbuch). „Es hatte einen dünnen Einband. Sie nahm es immer mit, wenn sie zusammenkamen“. Da es keinen lutherischen Geistlichen gab, taufte Anna Gartwich die deutschen Kinder, u.a. auch Maria Augustowna. Maria Augustownas Mutter besaß ebenfalls göttliche Bücher, die sie ihren Kindern vermachte, aber dass Elisabeth Genrichowna besonders religiös war, daran können ihre Töchter sich nicht erinnern. Dennoch verlief die Beerdigung der Mutter Mitte der 1980er Jahre nach deutscher Tradition – es kamen Deutsche, man sang Lieder und betete.
Obwohl es offiziell nicht üblich war, die wichtigsten christlichen Feste, wie Weihnachten und Ostern, zu feiern, versammelten sich nach Maria Augustownas Erinnerungen die Deutschen aber trotzdem: „Sie putzen sich heraus, das Christking kam, und wir sagten ihm deutsche Gedichte auf, die sie uns beigebracht hatten; wir bekamen Geschenke, sangen Lieder in unsere Muttersprache“. Allerdings nahmen die Deutschen zu ihren Treffen nur selten die Kinder mit, wohl nur anlässlich von Feiertagen.
Maria Augustowna erinnert sich noch gut an die Rezepte der deutschen Gerichte, die die Mutter zubereitete („ich mache es so, wie die Mutter es mir beigebracht hat“): Strudel, Kuchen.
„In der Schule sprachen wir Russisch, zu Hause – Deutsch“, wenngleich der Vater schnell anfing Russisch zu reden. Allerdings gab es Deutsch als Fremdsprache auch in der Schule. Der Lehrer war Deutscher; man hatte ihn ebenfalls zu Beginn des Krieges von der Wolga verschleppt. Es war eher der deutsche Dialekt, der für die Wolgadeutschen charakteristisch war, nicht das klassische Deutsch. In den Schuljahren gab es viele Freunde, sowohl unter den Deutschen, als auch unter den Russen – „sie machten irgendwie keinen Unterschied, wo ein Deutscher oder wo ein Russe war“.
Nach Abschluss der 8. Klasse fuhr Maria Augustowna nach Abakan, wo sie 15 Jahre in einer Näherei tätig war; anschließend kehrte sie nach Sagaiskoje zurück und heiratete einen russischen Burschen. Die Eltern betrachteten diese russisch-deutsche Ehe schon mit ruhigen Augen und regten sich nicht mehr auf, wie es mit ihrer ältesten Tochter Jekaterina der Fall gewesen war, die auf die Idee gekommen war, Mitte der 1950er Jahre einen Russen zu ehelichen. Maria Augustowna arbeitete viele Jahre in einem Laden, dann bei der Post, und nun ist sie bereits einige Jahre in Rente.
Die ältere Generation der Familie Stainz erinnerte sich mit Sehnsucht an das Leben an der Wolga, wo sie den gesamten mühsam angeschafften Besitz zurücklassen mussten. Und der Deutschlehrer wollte so gern an seine Wolga zurückkehren.
In den vergangenen Jahrzehnten sind viele Deutsche nach Deutschland ausgereist. Jetzt kommen sie ziemlich regelmäßig nach Sibirien zu Besuch. In Sagaiskoje sind nach Maria Augustownas Beobachtungen fast keine „reinen“ Deutschen mehr zu finden. Die Geschichte der Russland-Deutschen ist den heutigen Enkeln und Urenkeln der Wolgadeutschen nur wenig bekannt. Allerdings wissen die Enkelkinder von Maria Augustowna, woher ihre Vorfahren stammten und wie sie nach Sibirien gerieten.
Das Interview wurde geführt von Marina Konstantinowa und Jelena Sberowskaja.
Dorf Sagaiskoje, Bezirk Karatus, 05.07.2016
Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).