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Mitteilung von Irma Georgiewna Jelzowa

Irma Georgiewna Jelzowa, geboren 1938

Siedlung Marinino (Milch-Sowchose), Kuraginsker Bezirk – 14.07.2017

Eltern: Jegor Jakowlewitsch Bohl, geb. 1905, und Jekaterina Jakowlewna, geb. 1906. Vier Kinder – Bruder (geb. 1935), Schwester (geb. 1936), Bruder (geb. 1941), Bruder (geb. 1947). Lebten in der Ortschaft Gukk, Balzewsker Bezirk (Kanton Balzer), Gebiet Saratow.

Besaßen einen Hof: Kühe, Schweine, Gänse, einen Garten. In den USA hatten sie eine Verwandte, die ihnen Pakete schickte.

1941 deportiert in die Ortschaft Irba, Kuraginsker Bezirk.

"So ein Hunger, so ein schrecklicher Hunger. Mutter brachte Federn für Kissen mit, aber sie tauschte sie gegen einen Sack Kartoffeln ein. Und die Kissen tauschte sie – für eine Eimer Kartoffeln". Den ganzen Besitz nahmen sie ihnen an der Wolga weg, aber in Irba teilte man ihnen eine Kuh zu. Die Kuh hielten sie nur im Sommer; im Herbst stellte sich heraus, dass die Steuern zu hoch waren, und Geld besaßen sie doch nicht. Sie nahmen ein Seil, banden es der Kuh ums Horn und brachten sie fort. Bruder Viktor, geboren 1941, verhungerte. "Wochenlang bekamen wir nichts in den Mund. Wir schreien: «Durst, Durst, wir wollen trinken». Mutter geht los, holt Wasser, gibt uns ein wenig davon zu trinken".

Der Vater war in der Trudarmee, dort wurde er lungenkrank und konnte nicht arbeiten. Er reparierte Becher (lötete sie). "Von einem bekommt er eine Kartoffel, vom anderen ein Fischlein oder eine Möhre; wochenlang essen wir manchmal nichts; man kocht Suppe, und diese Wasserbrühe schlürften wir dann. Für mich pusteten sie, bis sie etwas abgekühlt war; und die Mutter passte auf, dass ich aß. Sie sagte: «Mehr gibt es nicht; das ist wohl für heute alles». Aber Gott gab uns – wir überlebten. Und das war unser Leben. Wir litten Hunger, wir wurden beschimpft, verprügelt – solche Kinder gab es dort: sie kamen, brachten ein Stück Glas mit, zertrümmerten es in kleine Stücke und zwangen uns dann, darauf zu gehen. Ich war kleiner, als die anderen; mit mir hatte man Mitleid. Aber meine Brüder und meine Schwester zwangen sie, darauf zu steigen. Meine Schwester und ich gehen Almosen sammeln, irgendetwas geben die Leute uns; andere kommen und nehmen uns alles wieder weg, und so blieben wir weiter hungrig. Irgendwie haben wir überlebt, ich weiß nicht, ich vermag nicht zu sagen, warum ich überlebt habe".

In Irba habe wir drei oder vier Jahre gelebt . Vater fand Arbeit in der Süd-Sowchose und arbeitete dort in der Bäckerei. "Wir sammelten Ähren, ernteten Getreide. Der Vater holt uns zum Ährensammeln. Wir sammeln. Nach Hause zurückgekehrt, mahlten wir sie und kochten daraus für ihn Weizenbrei. Beim zweiten Mal wurden wir aufgegriffen, und man nahm uns alles wieder fort. Wir haben Brennnesseln und Kräuter geschnitten, das hat die Mutter mit der Axt gemacht und das dann gekocht. Das haben wir gegessen".

"...der Vater arbeitete zuerst als Viehhirte, aber die Mutter hat nichts zum Anziehen, um irgendwo arbeiten zu gehen. Sie geben ihm ein 700 gr-Stückchen Brot, das bringt der Vater mit nach Haue, und mit einem ganz dünnen Stück Plastik schneiden sie für jeden etwas ab. Wir haben keine Filzstiefel, nur der Vater hat welche; er geht zur Arbeit, arbeitet den ganzen Tag, und nachts heftet er Filzstiefel zusammen. In der Nacht macht er das; sie sind ganz nass, und am Morgen muss er wieder arbeiten gehen".

Zuhause sprachen die Eltern Deutsch, später lernten sie Russisch, aber sie sprachen es schlecht. Die Kinder eigneten sich die Sprache schneller an.

Die Eltern waren getauft, und ihre Kinder ließen sie auch taufen. Sie sind katholischen Glaubens. Anfangs hielten sie die Sitten und Bräuche noch ein, später hörten sie damit auf. Aber sie sangen deutsche Lieder. Irma Georgiewna kann die Sprache nur noch schlecht.

Die Mutter bereitete Krebli zu, mit Quark (die Bezeichnung hat sie vergessen) buk sie Brot und Schangi. "Als sie anfingen, ein bisschen besser zu leben, gab man ihnen kleine Mengen Mehl aus: fünf Kilogramm, zwei Kilogramm. Kartoffeln gab es nicht, es gab nichts um sie zu pflanzen. Wenn man Kartoffeln pflanzen kann, reichen sie für den halben Winter, aber es gibt keine, und wir hungern".

"Morgens – Kartoffeln, mittags – Kartoffeln, abends – Kartoffeln. Brot ist nicht da, gar nichts anderes ist da. Wasser - Kartoffeln, Wasser – Kartoffeln. Das ist alles. "

"Natürlich, die erste Farm, zu der ich ging – das waren Deutsche, Bekannte, man traf sich, redete miteinander. Da war Walentina Aleksejewna Geidowa, ich ging zu ihr auf Besuch. Sie ging zu den Geidows. Sie holen sie zum Leichenschmaus, sie lernte «Heiliger Gott», das sang sie mit dünner Stimme. Man holt sie, sie singt mit uns - bei deutschen Begräbnissen und auf russischen.".

Auf der ersten Farm gab es ein deutsches Ensemble, der wichtigste dort war Birich – der Vater. Man gab ihm einen Autobus, damit kamen sie und sangen deutsche Lieder und beteten. "Später sangen die Russen nur wenig. Nach deutschem Brauch wird der Sarg gebracht und dann müssen wir, die Kinder, ihn jeder fünf Mal umgehen. Den Vater haben sie so begraben, die Mutter auch. Sie liegen beide hier. Der Vater war krank, musste in der Trudarmee zu sehr hungern. Aber er wurde zweiundsiebzig Jahre alt. Mutter ist älter geworden".

"Von der Schule will ich noch erzählen. Bis zum 7. Lebensjahr saßen wir nackt auf dem Ofen; wir hatten keine Kleidung, um in die Schule zu gehen. Später hat Mutter dieses Jungchen da geboren, das war siebenundvierzig. Man gab uns 10 Meter weißen Stoff. Daraus nähte sie uns enge Kleidchen. Ein Jahr ging ich zur Schule, aber ich lernte dort nichts; da bin ich weggelaufen, um jemanden zu suchen, der für mich etwas zu tun hatte und mich durchfütterte. Ich bin zu den Belousows gegangen, habe bei ihnen die Fußböden aufgewischt, die Kuh gehütet, alles gemacht. Sie gießen mir aus einer Flasche etwas Rückgabemilch ein, und ich bin zufrieden. Keine Milch, Rückgabemilch schenkten sie mir ein. So war das. So sind wir alle vier Analphabeten geblieben".

Sie heiratete einen Russen, die Eltern hatten nichts dagegen. Die Schwester ging nach Deutschland, nachdem ihre Kinder bereits ausgereist waren.

Die deutschen Sitten und Bräuche finden schon keine Beachtung mehr. Aus der väterlichen Familie gab es drei Bibeln; als der Vater starb, übergaben sie sie an Vater Birich. Aber Irma Georgiewna hält sich für eine Deutsche.

Die Mutter sprach schlecht Russisch.

Im Dorf waren Esten. Sie trugen ihre Nationaltrachten und tanzten in den Hütten. Igatson fängt immer an: «Komm her, wir wollen mit dir Lieder singen».

1951 ging ich arbeiten – Kühe melken. Ich muss für Wasser sorgen, aufs Feld fahren, Gras mähen. Dreimal melke ich, viermal. Dann gehe ich woanders helfen, damit ich abends wenigstens ein bisschen Rückgabemilch bekomme.

Die Unterhaltung führte Jelena Sberowskaja.

Expedition der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk zum Projekt "Ethnien in Sibirien: Bedingungen zur Wahrung der kulturellen Erinnerung", 2017. Karatussker und Kuraginsker Bezirke.


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