Erna Jakowlewna stammt aus der Siedlung Weselyi, Wsewolodsker Bezirk, Gebiet Leningrad. In der Siedlung lebten etwa 40 Familien, davon ungefähr 30 deutsche, unter ihnen die Familien Schmidt, Schoch, Biller und Getz (Götz? Hetz?), Dalinger, Willewald (in vielen Fällen waren sie – Namensvettern). Unter den nächstgelegenen Ortschaften waren auch rein deutsche Siedlungen. Die Siedlung befand sich am äußersten Rande der Stadt, und einige Bewohner arbeiteten in Leningrad, die anderen in der Kolchose „Rotfront“ direkt in der Siedlung.
Vater: Jakob Petrowitsch Schmidt, geb. 1893 – Kolchosarbeiter, Veterinär.
Mutter: Elisaweta (Elisabeth) Karlowna Schmidt (Schoch), geb. 1898 –
Kolchosbäuerin.
Kinder: Erna (geb. 1926), Jakob (geb. 1925; er diente nach dem Krieg bei der
Flotte), Peter (geb. 1923, arbeitete als Werkzeugmacher in einer Fabrik in der
Stadt).
Zu Beginn des Krieges wurde mancher Deutsche an die Front geholt, die übrigen Männer kamen noch im Sommer (oder nach dem 28. August?) in ein Waldgebiet unweit der Siedlung (nicht mehr als 10-15 km entfernt), kehrten jedoch nicht gleich wieder nach Hause zurück (vielleicht befanden sie sich unter der Aufsicht von Wachposten?). In der Siedlung gab es viele, die aus Kolpino evakuiert worden waren; sie wurden familienweise untergebracht.
Am 18. März 1942, mitten in der Nacht, wurden ganz unverhofft Männer in die Siedlung gebracht. Sie begannen mit der Aussiedlung der Bewohner, wobei sie die Menschen mit Waffen bedrohten. Sie gaben ihnen auch keine Zeit zum Packen ihrer Sachen, so dass sie nur sehr wenig und auch nur das Allernötigste mitnehmen konnten; und niemand wußte, wohin man sie bringen würde. Ein paar Habseligkeiten luden sie auf die Fuhrwerke; die Menschen selbst gingen zufuß nebenher – bis zum Ladogasee. Am Ufer des Sees warteten sie auf Lastwagen. Das Eis auf dem See war schwach und brüchig, es war ja bereits Frühling.
Die Kolonne, die vorwegging, geriet in von Wasser ausgehöhlte Eislöcher, einige LKWs brachen ein. Die Kolonne der Deportierten aus Weselyi war vom Glück begleitet, aber die nachfolgende Kolonne versank ebenfalls im Eis des Sees.
Die Fahrzeugkolonne fuhr bis nach Wologda und machte dort am Bahnhof halt. Die Verbannten wurden in Waggons mit zweistöckigen Pritschen getrieben, und dann setzte sich der Zug gen Osten in Bewegung. In dem Waggon, in dem die Familie Schmidt sich befand, waren insgesamt etwa 60-70 Menschen, der Platz auf den Pritschen reichte nicht für alle. Wer dort keinen Platz fand schlief auf dem Boden. Im Waggon brannte ein tragbarer Eisenofen, es war kalt. Erst in Nowosibirsk durften die Menschen aus dem Waggon aussteigen; danach setzte sich die Reise noch einen ganzen Monat fort. Einmal am Tag bekamen sie Brot und eine Wassersuppe.
In Nowosibirsk blieben die Verbannten zwei Monate, nun schon ohne Wachbegleitung. Die Familie Schmidt wohnte im Klubhaus unweit des Bahnhofs, auf der anderen Seite der Bahngleise, auf einer Anhöhe neben dem Markt. In diesem Klubhaus waren alle untergebracht, die mit ihnen in demselben Waggon gefahren waren. Sie durften sich in der Stadt frei bewegen, konnten jedoch nichts kaufen: sie besaßen kein Geld. Im Juli wurden die Verbannten nach Kansk, in die Region Krasnojarsk, geschickt. Hier wurde eine „Untersuchung“ vorgenommen: ein Teil der Deportierten wurde zwangsweise in den äußersten Norden geschickt, u.a. nach Ust-Port (am Jenisej, noch weiter flußabwärts von Dudinka), andere kamen in nahegelegene Bezirke der Region Krasnojarsk, oder man ließ sie, wie es bei Familie Schmidt der Fall war, in Kansk. Anfangs waren sie direkt neben der Kraslag-Verwaltung eng zusammengepfercht im Klubhaus untergebracht; später wurden die Familien aufs Gratewohl auf Wohnungen verteilt, sofern die Wohnungsinhaber damit einverstanden waren.
Zwei Monate lang wurden die Verbannten kostenlos draußen vor einem Restaurant verpflegt, das sich direkt neben der typographischen Anstalt befand, aber sie bekamen dort die gleiche Wassersuppe zu essen; allerdings hatte man dieser ein wenig Bärlauch hinzugegeben. Der Vater fand eine Arbeit in der Genossenschaft „Neuer Weg“. Aber im August 1942 wurden die Männer von Zuhause weggeholt, und seitdem hat es von ihm weder einen Brief noch sonst irgendeine Nachricht gegeben. Unter den Mobilisierten waren der Vater und der älteste Bruder Peter. Soweit bekannt ist brachte man sie ins Kraslag. Offenbar kehrte doch irgendeiner später zurück, denn nach dem Krieg gingen Gerüchte, dass man sie in die Schachtanlagen des Kusbas gebracht hatte – möglicherweise nach Prokopjewsk. Die Familien ließ man in Kansk; sie mußten sich alle 10 Tage in der Kommandantur melden und registrieren lassen, später nur noch einmal im Monat. Zudem wurden sie gezwungen, die anderen Verbannten zu „überprüfen“; es wurden auch Bußgelder erhoben die, nach allem zu urteilen, in den Taschen der Kommandanturbeamten verschwanden. Die Behörden ahndeten beispielsweise das Sich-Entfernen um mehr als 5 km mit einer Geldstrafe, obwohl sie genau wußten, dass die Familien 8 km von der Stadt entfernt beim Kartoffelausgraben auf dem Acker beschäftigt waren.
Die Familie (Mutter und Tochter) lebte bis 1956 in Kansk; die Kommandantur wurde Ende 1955 abgeschafft.
16.12.1989
Aufgezeichnet von W.S. Birger, Krasnojarsk, „Memorial“-Gesellschaft