Von 1947 bis 1960 lebte ich in der Siedlung Reschoty. Das ist eine Zone von Zwangsarbeitslagern. Einige Häftlinge blieben nach ihrer Freilassung in Reschoty, um dort zu leben und zu arbeiten. Später fuhren einige von ihnen in ihre Heimatgebiete, andere wechselten den Wohnsitz oder, und das waren häufig die Alleinstehenden, blieben für immer hier. So ein einsamer Mensch war auch Pjotr Sekretowitsch Wlasow, der etwa 1988 geboren wurde. Er wurde irgendwo im Westen verhaftet, wahrscheinlich im Jahre 1937, und nach § 58 zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt. Er war braunhaarig, trug ein Bärtchen und war von kleinem Wuchs. Ein bescheidener Mensch, eher schon schüchtern und sehr gläubig. Über sich selbst sagte er: „Ich war ein Gottesfürchtiger“. Und häufig wiederholte er: „Diese Maschinen verschandeln die ganze Natur“. Ich kannte ihn seit 1948. Er war als künstlerischer Ausstatter im Depot tätig. Hier hatte er eine Werkstatt, in der er anfangs auch wohnte. Später machte er sich eine kleine Hütte zurecht (in der Trubnaja-Straße), in der er bis ans Ende seiner Tage lebte. Er malte Landschaften und Porträts. Die Porträts zeichnete er von Fotografien ab und verdiente sich damit zu seinem Lebensunterhalt noch etwas dazu; in der Regel bezahlten ihn die Leute in Naturalien. Von uns nahm er beispelsweise Milch mit. Seine Portraitarbeiten, und er machte sie wirklich gut, sind leider nicht erhalten geblieben: sie verbrannten während eines Brandes im Keller. Ein großes Bild konnte aber bewahrt werden – darauf das Meer, und ein kleine Landschaft (ein Häuschen am Fluß); wir hatten sie zusammen mit Möbeln vom Unternehmer Jewgenij Pawlowitsch Birjukow (ebenfalls Repressionsopfer) gekauft, als dieser irgendwohin fortfuhr.
Das große Bild ist in keinem besonders guten Zustand – in letzter Zeit lagerte es in Reschoty bei Verwandten auf dem Dachboden. Auf Bitten von „Memorial“ brachten sie es nach Krasnojarsk. Die Landschaft mit dem Häuschen hängt bei mir zuhause, es würde mir sehr leid tun, mich davon zu trennen: erstens gefällt es mir und zweitens ist es mir als Erinnerungsstück lieb und teuer.
Pjotr Sekretowitsch arbeitete bis zu seinem Tode als Künstler im Depot. In seine Hütte hatte er aus Mitleid irgendeine arme Frau mit Kind aufgenommen. Er starb Anfang der 1960-er Jahre und wurde auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt.
In Reschoty lebten folgende nach § 58 Verurteilte:
1. Semjon Jesejewitsch Demjanowitsch, geb. 1892, gebürtig aus der Stadt Sarny, Gebiet Rowno, Maschinist, 1937 in Kiew verhaftet, verurteilt nach § 58 zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager. Er war aus Kansk nach Reschoty gekommen, arbeitete dort als Maschinist, vor seiner Rente – als Wachmann im Depot. Wurde rehabilitiert. Ging nach Sarny zurück. Starb ungefähr 1970.
2. Wiktor Iwanowitsch Kostezkij, geb. 1912, Maschinist, 1937 in Schepetowka in der Ukraine verhaftet, verurteilt nach § 58 zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager. Er kam aus Kansk nach Reschoty. Arbeitete als Maschinist. Wurde rehabilitiert. Ging später nach Nowosibirsk. Starb ungefähr 1987.
3. Genrich (Henrich? Heinrich?), geb. um 1912, Maschinist. Nach seiner Rehabilitation zog er nach Krasnojarsk.
4. Ilja Dmitijewitsch Skugarow, geb. etwa 1912, arbeitete als Planer in der Verwaltung, Postfach-Anschrift 235. Heute lebt er in Reaschoty in der Puschkinskaja-Straße 30.
5. Iwan Iwanowitsch Geim (Heim?), geb. ungefähr 1912, Schweißer. Stammte aus einer wolgadeutschen Umsiedlerfamilie. Starb in den 1950er Jahren in Reschoty.
6. Grigorij Sintschenko, geb. etwa 1914. Zog nach Libedjan, Lipezker Region, um.
7. Pjotr Poljakow, geb. etwa 1885, Lagerleiter, verließ später Reschoty.
In den 1940-er Jahren lebten in Reschoty Zwangsumsiedler vieler Nationalitäten: Polen, Litauer, Finnen, Cinesen, Deutsche. Es gab auch zahlreiche „Wlassow“-Anhänger.
Aufgezeichnet von Klara Andrejewna Dsjuba,
„Memorial“-Gesellschaft, Krasnojarsk,
1. Dezember 1992